Kapitel 38
Mr. Warden lässt sich langsam an der Tür nach unten auf den Fußboden gleiten. Ihn dort sitzen zu sehen, wirkt irgendwie falsch. „Lady Chastain hat nicht ganz Unrecht. Das ganze Haus ist nach wie vor von Askyells Mana durchzogen. Ms. Doll agiert ohne Einschränkungen und ..." Er hält kurz inne. „Unser Feind scheint auch kein bisschen schwächer geworden zu sein."
Ich erstarre. Mein Herz schlägt nur noch flach, während Gänsehaut meinen Körper überzieht. „Du hast es doch auch schon längst erkannt, oder nicht?"
„Die Gesichtslosen", flüstere ich. Mr. Warden nickt und ich spreche seine Gedanken laut aus. „Wenn Askyell gestorben wäre, dann hätten die Gesichtslosen aufhören müssen zu existieren – zumindest in der Form, wie wir sie kennen." Wie lange trage ich dieses Wissen schon mit mir herum? Ich gebe zu, ich habe es von Anfang an gespürt, aber einfach nicht wahrhaben wollen. Dieses unverkennbare Muster. Askyells Magie. Spätestens seit der Begegnung mit Lord Berggren kann ich es einfach nicht mehr abstreiten. Die Aura der Gesichtslosen entspricht einer Mischung aus dem Mana von Lord Berggren und Askyell.
„Es ist der Grund, warum Askyell sie spüren kann. Eigentlich total offensichtlich und trotzdem haben Lord Gão und ich gefühlt eine Ewigkeit gebraucht, um es herauszufinden. Du überraschst mich immer wieder, Cathalea." Ich übergehe dieses Kompliment. Viel zu sehr habe ich das Verlangen endlich alles zu verstehen, ein paar Puzzleteile zusammenzufügen, also frage ich: „Hast du dich deswegen mit Lord Gão in der Bibliothek in Shanghai vor seinem Verschwinden getroffen?"
Mr. Warden nickt. Fügt nachdenklich hinzu: „Dieser Junge besteht förmlich nur so aus Geheimnissen. Ist er nun auf unserer Seite oder nicht? Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung. Obwohl Lord Gão ihn mittlerweile für unschuldig hält. Ich möchte ihm gerne glauben. Aber wenn du das gesehen hättest, was ich sah, wenn du wissen würdest, was ich weiß - in ihm schlummert ein Monster, das niemand kontrollieren kann."
Nachdenklich und mit bitterer Miene schreitet Mr. Warden zu der Bar, gießt sich eine klare, bernsteinfarbene Flüssigkeit in ein dickwandiges Glas ein. „Du auch?" Ich nicke. Er schenkt mir ein und dann sitzen wir beide auf der samtweichen Couch. Ich versuche die Informationen zu verarbeiten, mir einen Reim aus der Geschichte zu machen. Die aufkommende Hoffnung zu unterdrücken.
Meine Augen wandern unruhig im Raum umher. Suchen nach irgendeinem Fixpunkt. Ich lasse beinahe mein Glas fallen. Vor mir stehen zwei mir bekannte Bücher im Regal. Und daneben ein drittes. Zwei von Lady Chastain und eins aus dem Arbeitszimmer von Lord Berggren. Ich hatte es vollkommen vergessen! Sein Leuchten. Der unnachgiebige Ruf. Und dann ist es plötzlich wieder da. Ich habe keine Ahnung, wie es in dieses Zimmer gekommen ist. Nur eins ist sicher - in der Bibliothek hatte ich es nicht mehr. Eine weitere Falle oder vielleicht ein Trumpf?
Wie in Trance stehe ich auf, greife nach dem in Leder gebundenen Buch. Mr. Wardens Stimme dringt nur als ein dumpfer Ton an mein Ohr. Ich schlage die erstbeste Seite auf. Die stark vergilbten Blätter zeigen eine Unmenge an fremden Symbolen – vielleicht Runen der schwarzen Magie? Es würde Jahre dauern sie zu entziffern, dabei sind sie so unglaublich nichtig im Vergleich zum dem magischen Netz, welches sich durch die Seiten zieht.
Hektisch räume ich den Tisch frei, ignoriere die Fragen von Mr. Warden. Greife nach den zwei weiteren Exemplaren und wundere mich über meine eigene Nachlässigkeit. Wie lange standen sie bereits hier unberührt herum? Warum habe ich sie mir nie genauer angesehen? Aber diesen Fehler würde ich nun wieder gut machen. Wie gerne würde ich Lady Chastain danach befragen? Wo sie die Bücher her hat. Aber es wäre sinnlos, jetzt, in ihrem Zustand.
Und so dringe ich in die Essenzbahnen ein, verbinde vorsichtig einzelne Stränge. Lasse den Inhalt der Artefakte auf mich wirken, während in mir unaufhaltsam die Hoffnung wächst. Askyell.
Askyell
Das erste, was ich wahrnehme ist der Geruch nach Fäulnis. Dieser unglaubliche Gestank, beißend in der Nase. Mein Gesicht verzieht sich. Ich keuche auf. Der Schmerz ist unsagbar, als würden tausend Stiche gleichzeitig auf mich niederprasseln. Stöhnend sacke ich zusammen. Nicht besser, denn sogleich steht mein ganzer Körper in Flammen.
Was ist passiert? In meinem Kopf herrscht eine gähnende Leere. Intuitiv taste ich innerlich meine Manabahnen ab. Sie scheinen irgendwie blockiert. Deswegen heile ich also nicht. Heile nicht wovon?
„Na, langsam wieder wach?", säuselt eine raue Stimme. Ich brauche ein paar Momente, um ein Gesicht zuzuordnen. Mein Vater. Mein Instinkt sagt mir, dass ich fliehen sollte, aber ich weiß nicht warum.
Dann eine Berührung. Ich stöhne vor Schmerz. „So zerbrechlich", kommentiert er. Ungehindert meiner Reaktion, richtet er mich auf. Ich spüre, wie mir die Tränen an den Wangen hinunterlaufen. Warum quält er mich so? „Du siehst wirklich furchtbar aus. Wenn ich nicht schnell genug eingegriffen hätte, wäre von dir nichts mehr übrig."
Irgendwo flackert eine Erinnerung, aber ich bin noch zu schwach um danach zu greifen. „Hier." Plötzlich durchdringt mich ein Gefühl von Wärme, so wie ein lauer Sommermorgen. Jeder Muskel entkrampft sich. Der bleierne Geschmack von Blut verschwindet von meiner Zunge. Mir geht es besser, nicht gut, aber immerhin kann ich vorsichtig wieder die Finger bewegen. „Das sollte erst einmal reichen. Steh auf." Es ist ein Befehl und dieser leise Unterton verrät mir, dass ich bestraft werde, wenn ich mich weigere. Also stemme ich die Hände gegen den Boden und richte mich unter Ächzen auf. Zeitgleich öffne ich die Lider einen Spalt. Sofort tanzen bunte Lichter vor meinen Augen und ich lehne mich erschöpft gegen die Wand.
„Ich dachte, ich hätte dir früher klar gemacht, dass man seine Macht nicht von irgendwelchen Artefakten abhängig machen darf. Es tut weh sie zu verlieren, oder?"
Irgendwie schaffe ich es den Blick auf meinen Vater zu richten. Er sieht mich nachdenklich an. Ein Knoten bildet sich in meinem Magen und ich spüre, wie ich schwitze - fühle mich ihm schutzlos ausgeliefert. Ein Alptraum. „Meine Güte, da versuchst du dich einmal umzubringen und schon erzitterst du wieder wie ein kleines Kind." Er schüttelt mit dem Kopf. „Ich habe dich eindeutig zu lange allein gelassen. Jeff hat dich schön verweichlicht. Aber keine Sorge mein Sohn, sobald das Ritual beendet ist, wirst du endlich zu voller Größe erblühen."
Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Aber mir gefällt seine fast schon liebevolle Art überhaupt nicht. Langsam kommen die Erinnerungen zurück. An die Bibliothek. Cathaleas weit aufgerissene Augen. Ich schiebe diesen Gedanken schnell beiseite.
„Folge mir, wir müssen einiges vorbereiten." Während mein Vater mir den Rücken zudreht, realisiere ich endlich, wo ich mich befinde. Nasse Flecken zieren Decke und Tapete des heruntergekommenen Raums. Mein altes Zimmer. Das große Bett lacht mich förmlich aus. Er hat es nicht einmal für nötig gehalten mich daraufzulegen. Aber ich bin froh darüber. Diese schwarzen Flecken getrocknetes Blut. Ich bin wie erstarrt. Er hat sie in sein krankes Abbild unseres damaligen Hauses übertragen. Das letzte Mal, dass ich einfach nur sterben wollte. Ihr Blut. Und keiner durfte davon jemals erfahren.
Unter dem spärlichen Licht des halb runter hängenden Kronleuchters schimmert ein verräterischer Stein. Das Tigerauge. Lord Berggren bleibt stehen, verfolgt meinen Blick. „Ein netter Zauber, nicht wahr? Und du warst so dumm einfach zuzugreifen, statt ihn zu analysieren. Aber was rede ich da, so etwas kannst du ja gar nicht. Ich vergaß." Ich unterdrücke meinen Zorn und greife nach dem Stein. Er fühlt sich angenehm kühl an. Lord Berggren zieht eine Augenbraue hoch. „Wenn du meinst, dann behalte ihn. Ein kleines Andenken an deine unfähige Halbhexe? Ich muss zugeben, ihr wart schon ein süßes Paar, wie sie dich angehimmelt hat. Zwei so nutzlose Wesen mit viel zu viel Potenzial."
Langsam werde ich wirklich wütend. „Und du beweist ja so viel mehr Größe in dieser heruntergekommenen Hütte - nur ein billiger Abklatsch unserer früheren Villa. Und was soll überhaupt dieser Gestank und die ganzen Löcher in der Decke? Für einen Tapetenwechsel ein wenig zu drastisch, meinem Empfinden nach." Ein süffisantes Grinsen stiehlt sich auf die Lippen meines Vaters.
Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht und mein Kopf weigert sich noch immer, mir alle Informationen zur Verfügung zu stellen. Aber offenbar geht keine akute Gefahr von ihm aus und so spiele ich erst einmal mit.
Durch die langen Flure folge ich meinem Vater mit gebührendem Abstand. Zwischen all den Türen, die ich nicht mehr zuordnen kann, den thematisch angeordneten Bilderreihen, fühle ich mich winzig. Mein Vater hingegen scheint förmlich zu schweben, summt leise eine verräterische Melodie. Ich erkenne das Lied bereits nach den ersten Tönen. Mutter. Ich muss mich ablenken, also konzentriere ich mich auf meine Umgebung, während ich das Tigerauge zwischen den Fingern hin und her wandern lasse.
Ein kalter Wind peitscht durch die zerbrochenen Fensterscheiben. Draußen ist nichts zu sehen. Ich starre in die Dunkelheit. Habe das Gefühl, dass sich dort irgendetwas bewegt. „Askyell, nun enttäuschst du mich aber wirklich." Bei meinem Namen zucke ich zusammen. Wie lange ist es her, dass er mich so genannt hat? „Ich habe dir nicht das Leben geschenkt, damit du dich gleich aus dem erstbesten Fenster stürzt." Ich habe nicht einmal gemerkt, dass ich so dicht an die Finsternis herangetreten bin. Sofort mache ich einen Schritt zurück, habe das Gefühl, dass sich auch etwas anderes zurückzieht.
Eine engelsgleiche Stimme trällert: „Oh man und wir sind wirklich verwandt?" Mein Magen zieht sich zusammen. Ich will nur noch laufen, aber meine Angst hält mich gefangen. „Was denn Bruder, keine herzliche Umarmung? Ich meine, wir haben uns wie lange nicht gesehen?" Jahre. Es ist Jahre her, dass ihr Blut an meinen Händen geklebt hat. Das Gefühl ist noch immer nicht verschwunden. Ich sehe die weit aufgerissenen Augen vor mir, die schützend vor den Körper gehaltenen, zarten Hände. Sie war doch noch so jung.
„Ask, du siehst wirklich blass aus." Wie in Zeitlupe drehe ich mich zu meiner kleinen Schwester um. Wie sie mich ansieht, die großen Augen, die schwarzen Locken. Ich möchte mich übergeben. Der jämmerliche Versuch, einer Gesichtslosen Mund, Nase und Augen zu verpassen. Aus den Schatten tritt eine weitere Gestalt. Und nun spüre ich die Tränen hinunterlaufen. Wir weinen gemeinsam. Meine Mutter kommt mit großen Schritten auf mich zu. Ich überrage sie um einen Kopf, obwohl ich es nicht einmal schaffe aufrecht zu stehen. Auch sie ist nur ein verunstaltetes Abbild ihrer selbst. Aber die Wärme, die von ihrem Körper ausgeht, die mich einschließt, die ist echt. Neben mir höre ich meinen Vater flüstern: „Schenke ihr etwas von deiner Macht." Und da spüre ich meine Magie, wie sie sich selbstständig formt und in meine Mutter gleitet. Ich löse mich aus ihrer Umarmung und blicke in ihr strahlend schönes Gesicht. „Ask", haucht sie, lächelt, „du bist noch einmal gewachsen." Ein träges Lächeln, welches nicht bis zu ihren Augen reicht. Aber das ist mir egal. Ich höre ihr Herz schlagen. Ein leises Pochen.
Und endlich fühle ich mich wieder frei.
So, also dürfen alle wieder aufatmen ;) Er lebt.
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