Kapitel 37
Zitternd umschlinge ich meinen Körper. Das Klappern meiner Zähne ist ohrenbetäubend. Ich schaffe es nicht einen klaren Gedanken zu fassen. Aber dafür ist jetzt sowieso keine Zeit. Ich muss rennen. Ich muss leise sein. Zu einem Schatten werden und gleichzeitig die Dunkelheit meiden. „Wo willst du denn hin?" Ich ignoriere diese einladende Stimme. Kämpfe mich Meter um Meter weiter voran, während der eisige Wind mich zurück in die Stadt treiben will. Aber der Wald ist sicherer. Woher ich das weiß? Keine Ahnung.
Ich wage es mich umzudrehen, nur für einen kurzen Moment gönne ich meinem steif gefrorenen Gesicht eine Auszeit. Hoch über den Baumkronen ragt der zerfallene Turm in den Himmel. Selbst aus dieser Entfernung erkenne ich die sich wild windenden Ranken, die aggressiven Pflanzen, die selbst durch den Beton ihre Wurzeln bohren. Der Zerfall der Stadt wird von der Natur gefeiert.
Wo habe ich das schon einmal gesehen? Und warum bin ich so müde? „Hoch mit dir! Versteck dich!" Eine andere Stimme. Mein Herz bebt. In meinem Kopf dröhnt der Tinnitus. Hektisch sehe ich mich um. Finde einen Baum, dessen Äste tief genug hängen. Vorsichtig ziehe ich mich nach oben. Meine nackten Füße finden gut Halt an der rauen Borke. Meine Finger umklammern die schneebedeckten Äste, während sich der Boden immer weiter entfernt. Ich dem Himmel immer näher komme. „Nicht zu weit!", befiehlt mir die Stimme. Also lasse ich mich in einer Baumgabelung nieder und starre angestrengt zum nebelüberzogenen Boden.
In der Ferne höre ich Zweige brechen und Blätter rascheln. Etwas kommt direkt auf mich zu. Und dennoch zieht etwas ganz anderes meine Aufmerksamkeit auf sich: die sich lautlos bewegendenden Schatten zwischen den Bäumen. Ich bebe. Das kann nicht sein. Der Schnee fällt in Zeitlupe. Die Geräusche dringen nur noch wie durch einen Schleier an mein Ohr. „Aber ich bin doch hier", flüstere ich, während gleichzeitig ein weiteres Ich durch das Unterholz bricht.
Vollkommen erschöpft fällt es auf die Knie. Ich kann die Tränen nicht sehen, aber die Erinnerung daran ist plötzlich unfassbar klar. Während die Gesichtslosen das zweite Ich umkreisen, stellen sich meine Nackenhaare auf. Ich will ihm zu Hilfe kommen, doch da ist wieder diese andere Stimme, die mich zum Bleiben zwingt – meine eigene Stimme. Also verharre ich hoch oben zwischen den Baumwipfeln, umgeben von einer Totenstille.
Und da kommt er. Dieser eindrucksvolle Schatten, der von hier oben plötzlich gar nicht mehr so groß wirkt. Diese dunkle Gestalt, in Lagen aus schwarzem Stoff gehüllt. Der Bär. Ich presse mir vor Schreck die Hand auf den Mund, während meine Augen nicht fassen können, was sich dort unten zu meinen Füßen abspielt: Der Bär, wie er die Kapuze zurückschlägt. Lord Berggren, wie er zwischen die Gesichtslosen tritt. Lord Berggren, wie er dem anderen Ich einen kleinen, unauffälligen Stein in die Hand drückt. Ich bin zu weit weg, um die Worte zu hören, doch gleichzeitig formen meine Lippen still: „Ruf nach ihm. Führe ihn zu mir. Schrei kleiner Mensch."
Es riecht nach verbrannter Haut. Der markerschütternde Schrei durchdringt die Stille. Mein Schrei. Doppelt. Denn wir brennen beide.
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Immer noch benommen komme ich zu mir. Ich liege auf der Couch im Wohnzimmer des Großmagiers. So viele vertraute Gegenstände. Der vertraute Duft. Unzählige Stiche in meinem Herzen. Und ich bin schuld. Wütend pfeffere ich das Tigerauge gegen die Wand. Presse die Hände auf meine Augen, während bereits die ersten Tränen erbarmungslos an meinen Wangen hinunterlaufen. Es war eine Falle. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich habe ihm Askyell direkt in die Arme getrieben. Zitternd versuche ich wieder auf die Füße zu kommen. Schwanke, kann nicht atmen. Alles dreht sich. In meinem Inneren klafft ein erdrückendes Loch. Ich habe eine waschechte Panikattacke. Wie erbärmlich!
Leise öffnet sich die Tür. Ms. Gão betritt den dunklen Raum mit einem Tablett in den Händen. Erschrocken lässt sie es bei meinem Anblick fallen. Legt mir beruhigend eine Hand auf den Rücken, während sie mir mit der anderen die Haare zurückstreicht. „Atme", flüstert sie leise. Und irgendwie gelingt es mir die Lunge wieder mit Luft zu füllen. Während Ms. Doll sich bereits daran macht die entstandene Pfütze aufzuwischen, die Glassplitter fein säuberlich zusammenzufegen, führt Ms. Gão mich zu einem Fenster. Die kühle Nachtluft tut gut. Sie sticht auf meiner Haut.
Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, aber irgendwann habe ich mich genug beruhigt um die tiefen Schatten unter den Augen von Ms. Gão zu studieren. Auch sie hat geweint. Auch sie zittert. Die Lüge ist aufgeflogen. Ich will gar nicht wissen, wie Lady Chastain aussieht - der Verlust des letzten Blutverwandten. Wie übersteht man so etwas? Ich merke wie der Kloß in meinem Hals wieder anschwillt. Also flüstere ich: „Begleitet Ihr mich zu den anderen?" Ms. Gão nickt. Hält jedoch kurz inne. „Nenn mich ruhig Yang." Verblüfft schaue ich in die dunklen Augen der Chinesin. Sie schenkt mir ein kurzes Lächeln, ehe wir vorsichtig zur Tür gehen. Ich habe mir ihre Anerkennung verdient, doch der Preis war hoch.
Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick in dem Raum umherschweifen. Erinnere mich an meine Neugierde, wie ich damals am liebsten alle Schränke geöffnet hätte. Entdecke einige persönliche Gegenstände von mir, die Askyell doch gerade erst fein säuberlich eingeräumt hat. Askyell.
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Leise setzen wir einen Fuß vor den anderen. Der Weg zum Gesellschaftsraum ist mir noch nie so lange vorgekommen. Schwankend kämpfe ich mich durch den schmalen Flur. Meine Mana-Bahnen sind immer noch von der Magie des Tigerauges verwirbelt. Und dabei will ich dieses Wiedersehen einfach nur noch hinter mich bringen. Wortlos öffnet Mr. Warden uns die Tür. Er sieht mich nicht einmal an. Aber warum sollte er auch? Stattdessen scheint er sich auf die Zigarre in der anderen Hand zu konzentrieren.
Colette sitzt weinend auf dem roten Samtsofa, das Gesicht in einen Pullover vergraben. Sein Anblick versetzt mir einen Stich. Ich hege das starke Bedürfnis, ihn ihr zu entreißen und selbst das Gesicht in die weiche Kaschmirwolle zu drücken. Seinen Duft aufzusaugen. Askyell. Aber ich reiße mich zusammen, löse meine verkrampften Finger. Ich lasse Ms. Gão los und lehne mich an die kühle Wand. Durch die Glasscheibe der Balkontür erkenne ich die zarte Gestalt von Lady Chastain. Das blonde Haar tanzt wild im tobenden Wind. Vom Altgroßmagier fehlt jegliche Spur.
Ich drücke mich von der Wand ab, versuche mich zu beruhigen. Ich muss jetzt stark sein. Will zu Lady Chastain gehen. Ohne aufzusehen hält Colette mich plötzlich am Arm fest, flüstert mit erstickter Stimme: „Das willst du nicht." Wahrscheinlich hat sie recht. Aber ich muss da jetzt durch und so löse ich sanft ihre Hand und gehe weiter. Hinter der Glastür erwartet mich der tobende Sturm. Wie passend.
Ich trete an die gusseiserne Brüstung. Stockholm versinkt in der Nacht, die Lichter verschwimmen im Nebel und dem Regen. „Mein Beileid." Die Worte kommen so leise über meine Lippen, dass ich zunächst vermute, dass Lady Chastain sie überhört hat. Doch dann antwortet sie: „Weswegen?" Verwundert wage ich es den Kopf zu drehen, Lady Chastains Profil zu betrachten. Ihre aparte Nase hebt sich eindrucksvoll von der Dunkelheit ab. Die Lippen dunkelrot geschminkt, jede einzelne Wimper formvollendet. In ihren Augen glüht eine Flamme. Nicht eine Träne scheint ihre Wange gestrichen zu haben.
Wie in Zeitlupe dreht sich Askyells Großmutter zu mir um, sieht mich direkt an. Dann öffnet sich wieder ihren Mund, aber die Worte dringen nur dumpf an mein Ohr, während sie mir gleichzeitig die Luft zum Atmen nehmen. „Er lebt."
„Aber", will ich verzweifelt dagegenhalten. Doch Lady Chastain kommt mir zuvor.
„Erklär nicht auch noch du mich für verrückt! Sieh dich doch nur einmal um! Was siehst du? Magie! Seine Magie, sie ist überall. Wie kann er dann tot sein?" Ihre kalten Hände greifen nach mir und in ihrem Gesicht steht nun noch der Wahnsinn. Ich taumle erschrocken zurück. Werde plötzlich von einer starken, warmen Hand nach hinten gezogen.
„Mireille, noch eine Zigarre?" Mr. Warden hat schützend einen Arm um mich gelegt. Er schenkt Lady Chastain ein freundliches Lächeln. Sie erwidert es.
„Jeff", säuselt sie, „ich wusste, auf dich ist Verlass. Du siehst es auch, oder?" Er nickt ihr zu, schiebt mich wieder in das Gesellschaftszimmer, macht dann noch einmal kehrt, um Lady Chastain seine Jacke über die Schultern zu legen.
Ich zittere am ganzen Körper. Dieser Ausdruck in Lady Chastains Gesicht wird mich noch bis in meine Träume verfolgen. Plötzlich ist Mr. Warden wieder neben mir und führt mich auf direktem Wege hinaus in den Flur. Dabei wirft er einen langen Blick Ms. Doll zu. Wir gehen zurück in die Privaträume des Großmagiers. Ich fühle mich hier falsch. Habe kein Recht mehr hier zu sein. Mr. Warden schließt leise hinter uns die Tür. Seine Miene ist wirklich unergründlich. Er sieht mich lange an, während ich auf der Couch ihm gegenüber Platz nehme.
„Ich möchte, dass du mir genau erzählst, was passiert ist. Jedes kleinste Detail könnte wichtig sein." Irgendwie habe ich damit gerechnet, und trotzdem bin ich fassungslos.
„Natürlich ist der Kampf noch nicht vorbei, aber wir müssen uns jetzt eine kleine Pause gönnen! Lady Chastain ist nicht mehr sie selbst, Colette nur ein Wrack. Wer soll da noch kämpfen?" Und vielleicht habe ich auch einfach nur Angst zu gestehen, dass ich an seinem Tod schuld bin.
Aber Mr. Warden sieht mich weiterhin einfach nur an. Er scheint jedes Wort genau zu überdenken. „Glaubst du wirklich, dass er tot ist?" Und dann zieht sich alles in mir zusammen. Mr. Warden ist genauso verrückt wie Lady Chastain! Ich will aufspringen, mir die Ohren zuhalten, aber irgendetwas lässt mich innehalten. Vielleicht ist es die Ruhe, die er ausstrahlt? Vielleicht ist es aber auch nur Hoffnung? Die Hoffnung, dass er doch noch lebt. Mein Askyell.
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