Kapitel 35
Instinktiv greife ich nach Askyells Arm und ziehe ihn mit mir. Während uns die steifen und widerwilligen Bewegungen des Großmagiers bremsen, arbeitet mein Körper auf Hochtouren. Plötzlich die Flucht zu ergreifen, muss für jemanden befremdlich wirken, der es sonst gewohnt ist, immer Überlegen zu sein. Aber ich kenne es nicht anders. Und manchmal ist es einfach klüger einem Kampf aus dem Weg zu gehen. Auch wenn ich Askyell sonst immer eine Last bin, in diesem Moment kann ich wenigstens etwas zu unserem Vorteil beitragen.
Meine Größte Sorge ist die Gelassenheit, die Lord Berggren ausstrahlt. So als könnten wir ihm nicht entkommen. Ich schüttle diesen Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf die schmalen Gänge, führe uns im wilden Zickzack durch die Reihen aus meterhohen Regalen.
Mein Körper funktioniert mit einer beängstigenden Präzision. Mein Atem ist ruhig und gleichmäßig. Ich habe das Gefühl, dass ich noch ewig so weiterlaufen könnte - und dabei endet sonst ein kleiner Sprint zur Bahn schon in einem Hustenanfall. Mein Mana durchzieht die gesamte Abteilung. Ich werde einen Weg hier rausfinden!
Ich spüre wie das Gewicht in meiner Hand schwerer wird. „Du wirst jetzt nicht stehen bleiben!", zische ich den Großmagier an. In Selbstmitleid baden kann er gerne später. Aber seine Schritte werden immer wackliger. Wenn er nicht aufpasst, fliegen wir gleich beide hin.
Also ignoriere ich meinen eigenen Befehl und bleibe stehen. Schrecke zusammen. Der Großmagier sieht verdammt schlecht aus. Gebrechlich. Gealtert. Die Auswirkungen der Blutmagie, die bis vor kurzem vom Amulett des Großmagiers zurückgehalten worden waren, stürzen auf Askyells Körper ein. „Du musst einen weg hier rausfinden. Lass mich zurück, ich kann mich eh nicht mehr lange bewegen." Seine Stimme ist so rau und leise, dass ich mich anstrengen muss die Worte über das Rauschen in meinen Ohren zu verstehen.
Das ist ein Alptraum! Beruhig dich. Aber wie soll ich gleichzeitig das Chaos in Askyells Körper stoppen und uns die Flucht ermöglichen? Askyells Körper. Ein Schatten, die fleckige Haut. Die Falten. Und erbarmungslos nähern sich die Gesichtslosen. „Lauf endlich!" Der Großmagier lehnt sich erschöpft gegen die Wand, sackt langsam in sich zusammen. Ich merke, wie sich der Knoten in meiner Brust immer fester zusammenzieht. Nein, du wirst jetzt nicht weinen!
Es gibt keinen Ausweg mehr. Wir sind umzingelt. Lord Berggren genießt das Schauspiel. Langsam kommen die Gesichtslosen dichter, drängen nicht, lassen uns schmoren. Lassen sich Zeit.
Und der Großmagier trifft eine Entscheidung. Ich will gerade noch protestieren, da sehe ich die Entschlossenheit in Askyells milchigen Augen. Die Gelenke knacken während er sich hochstemmt. Trotz seines krummen Rückens, überragt er mich noch immer. Es tut so unfassbar weh ihn so zu sehen. Ich bin wütend auf ihn, will ihn anschreien, dass er sich das selbst eingebrockt hat mit seiner verdammten Blutmagie. Und gleichzeitig möchte ich das nachholen, was ich seit Tagen, nein Wochen, hätte tun sollen: Ihm sagen, was ich für ihn empfinde.
Ein Grinsen stielt sich auf Askyells Lippen. Und dann folgt keine Liebeserklärung. Keine Entschuldigung. Nicht einmal ein vielsagender Blick. Der Großmagier konzentriert ein letztes Mal sein Mana. Für den Bruchteil einer Sekunde beruhigen sich die Wirbel in seinen Essenzbahnen. Während sich eine schützende Hülle seiner Magie um mich bildet, explodiert die Wucht des Zaubers. Zerfetzt Bücher, das Holz splittert. Von den Gesichtslosen bleibt nichts mehr übrig. Mit einem Schlag verfliegt die Gesamtheit an magischen Auren. Und dann zerbricht das Schild.
Ich bin ganz ruhig. Spüre weder Angst, noch Verzweiflung. Starre einfach auf den Fleck, wo bis gerade eben noch Askyell war. Es gibt nicht mal einen Körper. In der Luft schwirren einzelne Partikel von ihm. Und dann bricht es langsam durch. Ich merke erst gar nicht wie die Tränen meine Wangen hinunterrinnen, wie ich zittere. Wie ich schluchze. Dann sinke ich zu Boden. Falle in ein tiefes schwarzes Loch.
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„Das war erst der Anfang." Ich zucke nicht einmal zusammen. Mir ist alles egal. „Mädchen, steht auf. Die Welt rettet sich nicht von alleine." Wütend schleudere ich einen Brocken Holz gegen den Unbekannten. Er weicht geschickt aus. Der strenge Blick des Herren verweilt auf mir. „Eure Verzweiflung bringt ihn auch nicht wieder." „Geh weg!" Mehr kriege ich nicht hin. Meine Stimme bricht, dabei will ich ihm so viele Dinge an den Kopf schmeißen.
„Die Gesichtslosen werden nicht lange fortbleiben."
„Sollen sie doch kommen!"
„Und dann? War er der einzige auf der Welt, für den es sich zu kämpfen lohnt? Eure arme Mutter, sowas hat sie nicht verdient."
Dreckskerl. Es hat eh keinen Sinn sich mit ihm zu streiten. Also retten wir natürlich jetzt die Welt. Ich, eine Halbhexe. Nicht der Großmagier, der deswegen durch die Hölle gegangen ist. Der musste natürlich vorher abtreten, damit der Nichtsnutz auch ja genug Motivation für den Endgegner hat, oder was? Ich bebe, meine Fingernägel bohren sich in meine Haut.
„Schultern zurück. Bei so einer schlechten Haltung könnt Ihr nicht richtig atmen." Seufzend richte ich mich auf. Während ich durch meine verweinten Augen kaum etwas erkennen kann, liegt ein Lächeln auf meinen Lippen. Ich kann nicht mehr, aber Lord Gão sieht mich zufrieden an. „Und nun folgt mir." Der Altgroßmagier zeichnet mit dem Zeige- und Mittelfinger verschiedene magische Runen auf die Wand. Ein Durchgang zu einem dunklen Tunnel öffnet sich. Fassungslos starre ich den alten Mann an. „Warum?" Meine Stimme zittert vor Wut. „Warum hast du uns nicht geholfen?"
„Ich versuche nicht gerade die Aufmerksamkeit des alten Lord Berggren auf mich zu lenken. Das hätte zu weitreichende Auswirkungen. Bis jetzt. Opfer müssen nun einmal gebracht werden. Und Lord Warden wusste, was ihn erwarten würde. Trotzdem hat er sich dazu entschieden, euch zu retten. Werft das jetzt nicht weg."
Während wir in die Finsternis eintauchen, in der Ferne das Wasser rauscht und irgendwo fiepend die Ratten flüchten, mustere ich grimmig den kleinen Mann. Sein weißes Haar trägt er zu einem Knoten gebunden, der Bart reicht bis zum Bauchnabel. Bei jedem Schritt schleift die dunkelrote Kleidung aneinander. Jede seiner Bewegungen ist kraftvoll, ganz anders, als man von einem Greis erwarten würde.
„Warum habt ihr solche Furcht vor einem Abbild?"
„Abbild? Habt Ihr es nicht gespürt, Mädchen?"
„Lord Berggren lebt." Keine Frage. Eine Feststellung. Die Magie der Gesichtslosen. Da waren viel zu viele Parallelen. Und trotzdem war da noch etwas anderes. Ich schüttle diesen Gedanken schnell ab. Spüre wie die Tränen wieder die Oberhand gewinnen.
„Glaubt mir, ich hätte auch lieber jemanden anderes an meiner Seite, aber wir müssen uns wohl beide damit abfinden." Ich möchte den Altgroßmagier am liebsten eine verpassen, aber was hat das noch für einen Zweck? „Jedenfalls müssen wir Berggren aufhalten."
„Und wie machen wir das?"
„Indem wir verstehen, was überhaupt sein Ziel ist."
„Er wird uns wohl kaum plötzlich in einem Monolog seinen Plan verraten. So einen Unsinn gibt es doch nur in Filmen."
Auf diese Bemerkung geht Lord Gao erst gar nicht ein. Stattdessen gelangen wir ans Ende des Tunnels. Mit geübten Bewegungen verschafft er uns den Zutritt zu dem Arbeitszimmer dahinter. In der Luft liegt ein schwerer Duft von Moschus. Dunkle Magie wirbelt umher. Sofort stellen sich meine Nackenhärchen auf. „Wo sind wir?" Lord Gao entzündet eine einzelne Kerze. Das flackernde Licht lässt die Falten auf seiner Stirn noch tiefer erscheinen.
„Lord Berggrens Arbeitszimmer. Hier müssen wir Antworten finden. Beeilt euch!" Na toll. Sowas liebe ich ja. Während sich Lord Gaos Magie im Raum ausbreitet, sich die dunkelgrünen Vorhänge aufbauschen und die Bücher durch die Luft wirbeln, öffne ich blindlings die erstbeste Schublade. Mein Blick fällt auf meine zitternde Hand. Beruhig dich! Dann stürze ich mich auf die Ablenkung.
Wahllos blättere ich durch einige Hefter. Lord Berggren ist nicht einmal halb so ordentlich wie Askyell. Askyell. Mein Herz verkrampft sich. Mach weiter. Irgendwelcher langweiliger Ministeriumskram. Wenn ich doch wenigstens wüsste, wonach ich suchen muss! So macht das Ganze doch keinen Sinn! „Beeilt euch, wir haben keine Minute mehr!"
„Ja doch!" Gereizt hebe ich den Kopf. Da sticht mir goldene Schrift ins Auge. Ein Buch, welches Lord Gao bereits untersucht hat. Und trotzdem zieht es mich magisch an. Die Art des Einbandes, die Aura. Vertraut. Wo habe ich es bereits gesehen? „Wir müssen los! Gebt mir eure Hand." Schnell greife ich mit der einen Hand nach dem Buch und mit der anderen nach dem alten Magier.
Während der Raum von einem Strudel eingesogen wird, mir sich der Magen umdreht, umklammere ich fest das in Leder gebundene Werk. Strauchelnd kommen wir zum Stehen. Ich übergebe mich, während sich klirrend der Armreif von meinem Handgelenk löst. Wir sind zurück. Und auch die letzte Hoffnung zerbricht. Neben mir steht nur Lord Gao. Kein Askyell. Wieder kommen die Tränen. Ich greife nach dem Tigerauge. Ein so unschuldig aussehender Stein. Seine Magie hat ihn mir einfach genommen. Ich will ihn zerschmettern. Doch stattdessen presse ich ihn an mich, während die Trauer mich zu zerdrücken droht.
„Steht auf, Mädchen. Nun ist definitiv nicht die richtige Zeit um die Toten zu betrauern."
„Cathalea, mein Name ist Cathalea!" Ich schlucke die Tränen hinunter und richte mich wieder auf. Lord Gao hat Recht. Wir sind immer noch in dieser verfluchten Bibliothek. Und nicht allein. Die Welt zerreißt. Schwarze Löcher klaffen in Decke, Boden und Wänden. Und da kommen sie: Wie in Zeitlupe kriechen die Gesichtslosen aus der Finsternis. Ich habe keine Lust mehr wegzurennen. Die Zeit zum Kämpfen ist gekommen.
Das war Kapitel 35. Komisches Gefühl es veröffentlicht zu haben - jetzt gibt es kein "Zurück" mehr. Ich hoffe, ihr hattet Taschentücher griffbereit. Also ja, hasst mich nicht XD
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