Kapitel 27
Zitternd hocke ich hinter der bröckelnden Mauer in der Finsternis. Umschlinge meine blutigen Knie. Sie sind hinter mir her! Der Juckreiz wird schlimmer. Panisch renne ich los. Das trockne Laub raschelt unter meinen Schritten. Äste brechen, Zweige klatschen mir ins Gesicht, hinterlassen blutige Schnitte auf meiner Haut. Während ich mich geräuschvoll durch das Unterholz bewege, verursachen die Gesichtslosen nicht einen einzigen Ton.
Stolpernd komme ich zu Fall. Ich habe keine Kraft mehr zum Aufstehen. Wie viele Stunden habe ich in dieser Finsternis zugebracht? Wie viele Stunden bin ich durch dieses invertierte Abbild von Paris herumgeirrt? Dieses Abbild der einst so schönen Stadt, nun von Pflanzen überwucherte Ruinen. Erschöpft rolle ich mich auf den Rücken und starre in den Himmel. Zwischen den lichten Baumkronen funkeln die Sterne. Alles könnte so friedlich sein.
Ein leichtes Kribbeln strahlt von dem Fluchmal aus. Fasziniert beobachte ich die Ausbreitung der schwarzen Linien, wie sie meine Haut verschlingen. Ich bin nicht mehr allein. Bin umzingelt von Gesichtslosen. Ihre dämonische Aura erfüllt die Luft. Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Körper. Schwillt immer mehr an. Die Umgebung verschwimmt.
Ein schwarzer Schemen hebt sich bedrohlich von der bleichen Haut der Dämonen ab. Die weißen Zähne blitzen bei jedem Wort: „Ruf nach ihm. Führe ihn zu mir. Schrei kleiner Mensch!" Und ja, ich schreie. Als würden all meine Knochen gleichzeitig brechen. Mein Körper steht in Flammen, meine Haut ist verbrannt. Der beißende Geruch zerfetzt mir die Nase.
Und mit einem Ruck bin ich wach. Gehetzt irren meine Augen umher. Saugen jede noch so kleine Information auf. Wo bin ich? Ich bekomme keine Luft! Strample die Decke von meinem bleichen Körper, will meine Hände benutzen. Erst jetzt bemerke ich, dass ich etwas fest umklammert halte. Mit viel Willenskraft öffnen sich die Finger und ein kleiner, bronzener Stein fällt zu Boden. Seine goldene Maserung reflektiert glitzernd das gedämmte Licht. Ein gefangener Sonnenuntergang.
Endlich realisiert mein Kopf wo ich bin: in Stockholm, in dem Haus des Großmagiers, in seinen privaten Räumen. Mein Blick bleibt an dem leeren Stuhl neben dem Bett hängen. Askyell? Wie geht es ihm? Vorsichtig stehe ich auf, stütze mich am Pfosten ab. Mir ist schwindelig. Was mache ich hier?
Schlapp kämpfe ich mich aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und weiter zum Flur. Im Haus herrscht eine Totenstille. Mein Kopf brummt. Als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen werden, alles verschwimmt. Gefangen zwischen Traum und Realität kriecht die Panik in meine Glieder. Verschwunden sind die Farben der Tapete, des Teppichs. Nur noch Graustufen.
So schnell wie meine Füße mich tragen, stolpere ich die Treppe hinunter in Richtung Salon. Höre Ms. Doll in der Küche klimpern. Völlig außer Atem komme ich zum Stehen. Beobachte die mechanischen Bewegungen der älteren Dame. Verwundert starrt sie mich aus ihren Knopfaugen an. Die Mundklappe öffnet und schließt sich wieder, während eine verzerrte Stimme ertönt: „Ms. Lindgren, ihr dürft euch noch nicht so viel bewegen! Wartet, ich bringe euch wieder zurück ins Bett!" Die hölzernen Gelenke ächzen unter jeder Bewegung. Ihr Schatten greift nach mir!
Angsterfüllt drehe ich der menschengroßen Puppe den Rücken zu und laufe. Eine Tür öffnet sich und eine gesichtslose Lady Chastain betritt den Eingangsbereich. Panisch weiche ich zurück, rase die Treppe wieder nach oben. Höre sie meinen Namen rufen. Dunkle Schatten kriechen über den Boden. Askyells Räume liegen in einer tiefen Finsternis. Ich stürme nach rechts.
Die Tür zu meinem Zimmer scheint förmlich zu leuchten! Während die Schritte hinter mir immer wütender werden verschanze ich mich in dem kleinen Raum mit dem unbequemen Bett und dem winzigen Fenster. Überrascht starre ich in die dunklen und ebenso verwunderten Augen von Ms. Gão. Schon fast peinlich berührt zieht sie die rosafarbene Decke enger um die blasse Haut.
Verunsichert stammle ich: „Entschuldigen Sie bitte, ich muss mich in der Tür geirrt haben." Was ist nur los mit mir? Traum oder Realität? Ich kann nichts mehr unterscheiden. Keine Ahnung, was Ms. Gão hier macht - Jedenfalls, ist das hier nicht mein Zimmer, denn weder meine Tasche noch ein anderer persönlicher Gegenstand von mir befinden sich hier. Ms. Gão will gerade etwas erwidern, als sich wieder die Tür öffnet. Dieses Mal ist es Colette.
Bekleidet nur in einem Morgenmantel mit einer Flasche Wein unter dem Arm geklemmt und einem Teller saftigem Obst. Trägt sie jemals etwas anderes? Noch mehr verwirrt wandert mein Blick immer wieder zwischen den beiden Frauen hin und her. Die Gräfin fängt sich zuerst: „Cat, du solltest definitiv noch nicht herumlaufen. Der Arzt hat dir eine strenge Bettruhe verschrieben!"
Unfähig irgendetwas zu erwidern, nicke ich bloß. Wo sind die Schatten hin? Ist das hier alles nur eine Halluzination.
„Soll ich dich zurück ins Zimmer bringen?"
„Ich will in meins." Colette erscheint mir plötzlich noch viel nervöser.
„Du meinst das Gästezimmer?" Ihre Augen wandern zu Ms. Gão. „Also, Askyell hat es vorerst mir gegeben." Sofort rutscht mir mein Herz in die Hose.
Vergessen sind die Gesichtslosen, die Schatten, die Puppe. In meinen wirren Gedanken überschlagen sich nur noch die Fragen: Wo sind meine Sachen? Wo ist das Bild meiner Mutter? Zitternd schiebe ich mich an Colette vorbei auf den Flur. Kann kaum noch atmen.
„Cat?", fragt Colette vorsichtig. Ich bin kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Plötzlich heben meine Füße vom Boden ab. Mit einem Ruck finde ich mich auf Askyells Armen wieder. Ohne ein Wort trägt er mich zurück in seine Privaträume. Ich kann nicht anders als ihn anzustarren, als würde ich gerade einen Geist sehen. Immer wieder überlagert sich sein Gesicht mit dem blutverschmierten. Ich werde verrückt!
Mit einer unglaublichen Ruhe und Präzision bettet er mich in die weißen Laken und lässt sich auf den Stuhl neben dem Bett in seinem Schlafzimmer nieder. Ich weiß nicht wie lange wir uns einfach nur anstarren. Irgendwann kommt mir über meine Lippen: „Du lebst."
Und er erwidert sachlich: „Und du bist endlich wach."
„Wie lange war ich weg?"
„Eine Woche." Nervös pule ich an meinen Fingerkuppen. „Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?" Typisch Askyell. Kein „Wie geht es dir?", kein „Ich hab mir solche Sorgen gemacht." Aber seine Frage ruft die Erinnerungen wach. Wieder schießen mir die Bilder von dem Wald, meiner Flucht in den Kopf. „Schon okay, du musst mir nicht antworten. Ruh dich einfach erstmal weiter aus."
„Wo sind meine Sachen?" Diese Frage scheint ihm Unbehagen zu bereiten. Er rutscht mit dem Stuhl ein wenig zur Seite. Zum Vorschein kommt hinter ihm eine kleine Anrichte. Das freundliche Gesicht von Mr. Bär grinst mich an. Daneben liegen noch zwei Bücher. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Askyell räuspert sich.
„Ich war so frei für deine Sachen schon einmal einen vorläufigen Platz auszuwählen." Dann fährt er in einem sachlichen Ton fort: „Die linke Seite des Schranks ist deine, ebenso die oberste Schublade in der Kommode. Deine restlichen Bücher habe ich nach Autoren alphabetisch in die Bücherregale im Wohnzimmer einsortiert. Im Arbeitszimmer steht noch eine kleine Kiste mit Gegenständen, für die ich bisher noch keinen angemessenen Platz gefunden habe."
Ungläubig starre ich ihn weiterhin einfach nur an. „Ich weiß, du wolltest eigentlich nach Hause, aber wegen des Fluchmals kann ich nicht mehr für deine Sicherheit garantieren. Ich werde dir das alles noch einmal in Ruhe genauer erklären, wenn es dir besser geht. Aber vorerst wirst du hierbleiben." Pause. „Bei mir." Pause. Er scheint irgendeine Reaktion zu erwarten. Ich kann nicht anders: sinke einfach zur Seite, starre in die Leere.
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Askyell offenbar sehr verwundert den Kopf schräg legt. Fast schon so, als würde er mich gleich fragen, ob das alles ist? Statt darauf zu reagieren, dass er kurzerhand beschlossen hat mich in seine Räume einzuquartieren, wechsle ich lieber das Thema.
„Ich habe Ms. Gão gesehen." Der Großmagier fährt sich seufzend durchs Haar.
„Ja, sie ist vor ein paar Tagen angereist."
„In Colettes Zimmer." Er hebt die Schultern.
„So ist das immer mit den beiden. Erst streiten sie sich und kaum laufen sie sich wieder über den Weg, ist alles vergessen und die Welt rosarot. Zumindest so lange bis Ms. Gâo mal wieder ihren Kinderwunsch äußert und Colette aus Panik verschwindet." Mein Kopf versucht krampfhaft die Informationen zu verarbeiten.
„Die beiden sind ein Paar?" Er nickt.
„Schon seit Ewigkeiten."
Mein Mund klappt immer wieder auf und zu. Das Bild von Askyell in Boxershorts und Colette nur im Morgenmantel will mir nicht aus dem Kopf. Er sieht mich fragend an. Unruhig rutsche ich hin und her. Er wird doch nicht auch noch dieses Klischee erfüllen? Oder bin womöglich ich es, die dem typischen Syndrom einer übertriebenen Eifersucht erlegen ist?
Fast so, als könnte er meine Gedanken lesen, werden seine Augen ganz groß. Dann bricht es aus ihm heraus: „Du hast doch wohl nicht? Nein, ich meine..." Erdboden tu dich auf! Beschämt rolle ich mich auf den Bauch und presse die Hände vors Gesicht. Askyell lacht. Er lacht richtig herzhaft, als würde eine unendlich große Last von ihm abfallen. Dann ist es wieder still und ich spüre, wie sich das Bett senkt, als plötzlich ein viel zu gut gelaunter Großmagier neben mir liegt und mich anfeixt.
Zwischen den Fingern schiele ich hindurch, fange seine grauen Augen ein. „Wie kann es sein, dass du mich nicht gleich erdolcht hast?" Grummelnd wende ich mich von ihm ab. Das ist so unfassbar peinlich! „Obwohl ich zugeben muss, dass es durchaus Interpretationsspielraum gab in der Handlungsweise von Colette und mir. Aber süß, dass du mir zugetraut hast, zweigleisig zu fahren. Das ist doppelt so viel, wie jeder andere mir zugestehen würde."
Zweigleisig. Ich bin verdammt froh, dass er mein Gesicht gerade nicht sehen kann. Sofort erinnert sich mein Körper an das Gefühl seines Atems in meinem Nacken. Die Berührung im Fahrstuhl. Oh je, worauf läuft das gerade hinaus? Viel zu leichtfüßig erhebt sich der Großmagier. „Ruh dich jedenfalls noch ein wenig aus, nachher wollen wir die nächsten Schritte besprechen. Und es gibt noch eine Sitzung im Rat der Magier." Ich drücke weiterhin mein gerötetes Gesicht ins Kissen. Viel zu sehr nage ich noch an den neuen Informationen, als das ich einen vernünftigen Satz zustande bekommen hätte.
Ohne sich noch eine Reaktion von mir zu erhoffen, überlässt der Herr Obergroßmagier mich meinen Gedanken und schließt die Tür. Schön, er hat also nichts mit Colette, aber das ändert noch lange nichts an seinem arroganten Verhalten mir gegenüber oder die Spitzen oder...halt einfach alles! Wenn er jetzt denkt, dass ich mit ihm einen auf Friede-Freude-Eierkuchen mache, hat er sich aber geschnitten.
Und trotzdem muss ich gerade unwillkürlich grinsen. Was sicher aber nur daran liegt, dass Askyell zumindest für diesen kurzen Moment die Dämonen aus meinem Kopf vertrieben hat.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro