Kapitel 20
Drei Dinge, die ich niemals aus nächster Nähe zu sehen geträumt hätte: Der amtierende Großmagier, sein Amulett und ein lebendiger Drache. Dieses Bild ist so surreal, dass ich mich langsam frage, ob ich den Verstand verliere!
Vorsichtig löst Askyell den Malachit vom Drachen, formt aus der Schärpe eine Kette und hängt sie sich um. Seine Lippen bewegen sich. Ich muss ihn nicht hören. Ich weiß genau, was er sagt, der Schwur der Großmagier: „Zu schützen, zu führen. Eine Einheit, ein Leben lang. Wasser zu Feuer, Erde zu Luft. Um der Welt zu dienen, die Welt zu formen und für das Leben zu kämpfen." - Natürlich in Grosâr, der Sprache der Magie.
Intuitiv senke ich mein Haupt, so wie es beim Verbindungsritual üblich ist. Verschließe mein Mana, sodass jeder die reine Macht des Großmagiers spüren kann. „Danke." Askyells Stimme gleicht einem Flüstern. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er zu mir gekommen ist. Wie benommen starre ich in seine Augen. Das Leuchten des Steines spiegelt sich pulsierend in ihnen. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft." Verlegen schlage ich die Augen nieder, verschränke die Finger ineinander.
„Nichts zu danken." Er kommt noch einen Schritt dichter. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren und ich spüre, wie ich knallrot werde. Kann kaum noch atmen. Er lehnt seine Stirn an meine. Unsere Nasen berühren sich. Sein warmer Atem auf meinem Gesicht.
„Stör ich?" Erschrocken wirble ich ungelenk herum. Miss Gão hat eine Augenbraue nach oben gezogen. Ein süffisantes Lächeln liegt auf ihren Lippen. „Ich dachte immer, sowas machen die Leute nur in Filmen in den denkbar unpassendsten Momenten", fährt sie fort. Ich würde den Spruch gerne zurückgeben, bin aber leider immer noch viel zu benommen und nervös, als das etwas Brauchbares aus meinem Mund kommen würde.
„Miss Gão, welch eine Freude Sie wiederzusehen. Was verschafft uns die Ehre?" In Askyells Augen blitzt die Verachtung. „Wollten Sie uns zu Hilfe eilen, nachdem Sie erfuhren, was in dieser Höhle lauert?"
„Gewiss nicht. Wie hätte ich sonst wissen sollen, ob Ihr würdig für den Titel des Großmagiers seid?" Sie wirft die langen roten Haare nach hinten und schlendert auf den Drachen zu. „Aber ich muss zugeben, Ihr habt mich beeindruckt. Einen Drachen ohne Amulett zu bändigen, auch nur für kurze Zeit, gleicht wahrlich einem Wunder."
Obwohl die junge Frau sachte über die Schuppen des riesigen Tiers streicht, bleiben die Augen trübe. „Auch wenn es mich zutiefst trifft, dieses majestätische Wesen so willenlos zu sehen. Was gedenkt Ihr mit ihm zu machen?"
„Es ist zu gefährlich ihn frei fliegen zu lassen. Das Ritual wiederherzustellen, wäre wohl am klügsten."
„Und grausamsten." Es rutscht mir einfach so heraus. Askyell sieht mich forschend an. Ich nehme all meinen Mut zusammen und fahre fort: „Er ist bei vollkommenem Bewusstsein. Ein so freiheitsliebendes Tier in eine Steinhülle für die Ewigkeit zu fesseln, ist schlimmer als der Tod."
„Was empfiehlst du mir?"
Gott, seit wann interessiert ihn denn meine Meinung? Sein Mana pulsiert, rauscht ungebändigt durch seine Adern. Ich erinnere mich an das Gefühl, als seine Macht durch mich hindurch geströmt war. Der Rausch. Der Gedanke lässt mich erschaudern. Rüttelt mich gleichzeitig wach. Die geweiteten Pupillen, das leichte Wippen. Askyell ist wie auf Drogen. Unberechenbar. Und vielleicht auch gefährlich.
„Ich habe keine Ahnung", gebe ich kleinlaut zu.
„Großmagier Warden, ich wüsste einen Weg", seufzt Miss Gão. „Es liegt normalerweise nicht an mir euch diese Dinge zu erklären, aber unter diesen Umständen wird mir meine Familie verzeihen können." Erwartungsvoll schaue ich sie an. Warum spricht sie immer in Rätseln?
„Durch das Amulett seid Ihr nicht nur in der Lage den Raum, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch die Zeit zu formen. Das bedeutet, Ihr könntet den Drachen einfach in ein anderes Zeitalter an einen Ort schicken, indem er keine Bedrohung ist." Askyell scheint das Ganze abzuwägen. Mir fallen sofort all die Filme ein, in denen das Spiel mit der Zeit deutlich nach hinten losgegangen ist. Askyell scheint ebenfalls nicht allzu sehr von dieser Option angetan zu sein. Mustert nachdenklich den Riesen. Gleichzeitg ist es offensichtlich, dass er nur zu gern seine neue Macht ausprobieren wollen würde. „Ich denke, ich habe eine bessere Idee."
Er kanalisiert sein Mana. Noch schneller als sonst öffnet sich ein Portal. Das Freisetzen seiner Magie scheint wie ein Befreiungsschlag. Endlich normalisiert sich sein Zustand. Mit Bedacht löst Askyell die Verbindung zu dem Drachen. Das Tier starrt dem Großmagier für einige Sekunden tief in die Augen, dann flüchtet es durch das Portal. „Wo hast du ihn hingeschickt?", frage ich neugierig.
„An einen sicheren Ort." Ich rolle mit den Augen. „Drachen mögen Schätze", fügt er sichtlich amüsiert hinzu, „Und so hat er jetzt wenigstens eine Aufgabe." Ich gebe mich mit der Antwort erstmal zufrieden. Weiß genau, dass Askyell es mir sowieso nicht genauer sagen würde.
Räuspernd lenkt Miss Gão wieder die Aufmerksamkeit auf sich. „Großmagier Warden, ich muss euch noch etwas erzählen. Etwas im Zusammenhang mit dem Verschwinden meines Großvaters. Der eigentliche Grund, warum ich hier bin."
„Ich bin ganz Ohr."
„Ihr wisst unter welchen Umständen mein Großvater wieder in das Amt des Großmagiers trat?"
„Gewiss." Ich nicht.
„Von daher könnt ihr euch denken, wie sein Verschwinden zu Stande kam?" Askyell antwortet nicht, er starrt Miss Gão einfach nur an. „Die Frage ist nur, warum er erst dann verschwand, als Ihr bereits zum neuen Großmagier ernannt wurdet. Warum nicht vorher? Zunächst habe ich geglaubt, ihr seid einer der Spieler in diesem großen Mysterium, aber mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass auch Ihr nur eine weitere Schachfigur seid. Also, wessen Marionette seid ihr? Das solltet Ihr schleunigst herausfinden."
Mit diesen Worten verschwindet Miss Gão einfach. Löst sich in unzählige Schmetterlinge auf. Glitzernd steigen sie zum Himmel. Unsicher beobachte ich Askyell. Man hört beinahe die Zahnräder in seinem Kopf rattern. So wie ich ihn bisher kennengelernt habe, lässt er sich eigentlich von niemandem beeinflussen - außer vielleicht von Mr. Warden oder Lady Chastain. Ich versuche diesen Gedanken abzuschütteln. Ich will nicht, dass einer von ihnen Askyell verraten hat. Der Großmagier erscheint mir plötzlich so viel müder. Ihn plagen wohl dieselben Zweifel. Der Glanz in seinen Augen ist einem trüben Grau gewichen. Die Falten auf der Stirn zeichnen tiefe Kerben. Niedergeschlagen öffnet er ein Portal hin zu dem kleinen Dorf, in dem wir das Motorrad abgestellt haben. Es ist Zeit für den Rückflug.
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Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ziehe ich den Rollkoffer hinter mir her. Seit der Höhle haben wir kaum ein Wort mehr gewechselt. Askyell scheint mit seinen Gedanken ganz woanders. Nachdem wir ins Hotel zurückgekehrt waren, hatten wir nur noch gepackt und uns zum Flughafen begeben. Irgendwie ist mir überhaupt nicht danach, wieder in das Haus des Großmagiers zurückzukehren. Während dieses kurzen Ausfluges ist so viel passiert. Es fühlt sich einfach viel länger an. Vertrauter. Seine Nähe. Im Haus kriege ich ihn wahrscheinlich wieder kaum zu Gesicht. Es ist schon komisch, wie schnell man sich an einen Menschen gewöhnen kann. Das Bild aus der Höhle schießt mir wieder in den Kopf. Das Gefühl. Sein Gesicht direkt vor meinem. Unweigerlich schlägt mein Herz wieder schneller. Widerwillig muss ich mir wohl eingestehen, dass ich mich offenbar nicht nur an Askyell gewöhnt habe.
Ein Angestellter des Flughafens reißt mich aus meinen Gedanken, nimmt mir meinen Koffer ab. Nervös steige ich in das Privatflugzeug. Knete meine Hände und weiß einfach nicht wohin mit mir. „Ich leg mich hin", bemerkt Askyell gähnend. Ich nicke bloß. Schlaf tut ihm sicher gut. Die silbernen Strähnen fallen ihm in die Stirn. Faszinierend. Obwohl das Amulett des Großmagiers offenbar den Effekt der Blutmagie geheilt hat, die kleinen Falten wieder verschwunden sind, blieb die neue Farbe seiner Haare unverändert. Ich muss gestehen, dass die dunklen Schattierungen deutlich besser zu seinen dunklen Brauen passen.
Nachdem er sich in den hinteren Teil des Flugzeuges zurückgezogen hat, versuche ich es mir auf der Couch bequem zu machen. Der Flugbegleiter bringt mir ein Glas Wein. Um mich abzulenken frage ich ihn: „Wie lange werden wir nach Stockholm brauchen?" Er sieht mich verwundert an. „Miss, unser Ziel ist nicht Stockholm. Wir fliegen nach Paris." Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Hektisch springe ich auf. Laufe mit meinem Glas Wein auf und ab. Nippe kurz dran. Paris! Paris, die Stadt der Mode! Die Stadt der Lichter! Die Stadt der ... Liebe!
Bei dem Gedanken werden meine Wangen sofort wieder rot. Nervös fahre ich mir immer wieder durchs Haar. Setze mich hin. Trinke dieses Mal einen größeren Schluck. Wackle mit den Knien. Auf ex verschwindet der Rest von meinem Wein. Es ist beschlossene Sache. In Paris wird es passieren! Und dieses Mal funkt uns keiner dazwischen!
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