Kapitel 9
Immer wieder ging er es in Gedanken durch. Die verschiedenen Ebenen, die Gänge, die Räume, die Treppen, die Aufzüge, die Schächte. Nicht für jeden Auftrag gab er sich derart viel Mühe Karten zusammen zu tragen, einen Teil der Vorauskosten für Bestechungen auszugeben und sich jeden Abschnitt, jeden Fetzen an Information, in aller Ausführlichkeit einzuprägen. Allerdings hatte er die Möglichkeiten gehabt, denn sein geheimnisvoller Auftraggeber, hatte ihm die erste ausgesprochen ausführliche Karte zukommen lassen und danach war alles gekommen wie im Rausch.
Lorin genoss es sich über Pläne zu lehnen und Wege, Taktiken oder Vorgehensweisen durchzukauen wie die nächsten Schritte im Schach. Sein Verstand wirbelte in seinem Kopf wie ein Tänzer in Ekstase und er spürte dieses Kribbeln unter seiner Haut. Diese Sehnsucht einer neuen Herausforderung. Außerdem wusste er, dass er nervös wurde, wenn er keinen zweiten, dritten und vierten Plan in der Hinterhand hatte. Teilweise war die Vorbereitung auch schlicht und einfach Zwang. Nur zwanghafter Perfektionswahn klang weniger verführerisch als ausgefuchstes Genie, deshalb beharrte er auf letzterem, selbst wenn er diese Art von Diskussionen zumeist nur mit sich selbst führte.
„Bleib hinter mir verdammt nochmal!", zischte er wiederholt und ansteigend gereizter, als die verfluchte Diebin sich schon wieder an ihm vorbei schieben wollte. Sie knirschte ungeduldig mit den Zähnen.
„Aber hinter dir sehe ich nur dein hinter dir", jammerte sie.
Dafür, dass sie nicht als Kind angesehen werden wollte, verhielt sie sich sehr wie eines. Zumindest insofern wie Lorin sich quengelige Kinder vorstellte. Er hatte höchst selten in irgendeiner Weise mit diesen kleinen Menschen zu tun.
„Es gab schon andere, die fanden gerade den Anblick sehr anregend", raunte er zurück.
„Dein Selbstvertrauen ist schon... bemerkenswert."
„Jetzt!", meinte Lorin ohne weiter darauf einzugehen und bewegte sich wieder zügig durch den Gang, nachdem die Wachen auf die er gewartet hatte, vorbei gezogen waren. Kaum, dass sie die beiden Handlanger verpackt und die falsche Lady in einen falschen jungen Mann verwandelt hatten, waren sie bereits los gezogen. Vor Lorins innerem Auge breitete sich die Struktur der Stadt und insbesondere dieses größten darauf befindlichen Anwesens, aus. Das Heim des Stadtherren bohrte sich wie ein tief verwurzelter Zahn tief unter die Oberfläche. Bis ganz nach unten hatte man sie beide zwar nicht gebracht, doch wie er inzwischen erkannt hatte, auf die dritte der tiefer liegenden Ebenen. Sie mussten in die fünfte, um ihr Ziel zu erreichen. Oder jedenfalls sein Ziel.
Kaum, dass sie – Nonie, wenn das diesmal überhaupt ihr richtiger Name war – erkannte welche Tür er anvisierte, huschte sie bereits an ihm vorbei und glitt hinein. Sie rutschte unter seinem Arm hindurch eher er überhaupt dazu kommen konnte sie doch noch einmal aufzuhalten. Zumindest kam sie danach nicht sehr viel weiter.
Mit verschränkten Armen, tippendem Fuß und saurer Miene blickte sie ihm entgegen, als er wenige Momente später selbst hineintrat.
„Sackgasse, das ist ein Abstellraum", knurrte sie. „Du hast dich verlaufen!"
Lorin schnaubte beleidigt. „Ich verlaufe mich nicht." Er schob die Tür hinter sich zu und trat weiter hinein. „Das ist genau, wohin ich wollte."
Tatsächlich befanden sie sich wirklich in einem Abstellraum. Wieder waren überall Regale. Diesmal allerdings ohne Folterwerkzeug. Stattdessen hingen Besen an der Wand, Eimer sammelten sich am Boden, und aus zahlreichen Päckchen roch es nach Seife und scharfem Putzmittel.
An Nonie vorbei, ging Lorin auf das Ende des Raumes zu. Dort begann er ohne jedes zögern damit, eines der Regale auszuräumen und dann schließlich kratzend über den Boden zu ziehen. Schließlich griff er erst nach einer kleinen Schaufel, dann nach einem Besenstil, um das Holzbrett dahinter fort zu hebeln. Zum Vorschein kam... eine weitere Wand. Diesmal eine aus altem, rostigem Metall.
„Ich bin beeindruckt", meinte Nonie unbeeindruckt und stemmte ihre Hände in die Seiten. Ihre Haltung wäre fast beeindruckend gewesen. Seit sie sich umgezogen hatte und es ihr gelungen war tatsächlich auszusehen wie ein junger Kerl – zugegeben, mit femininen Zügen – hatte sich sogar die Art verändert wie sie stand und sich bewegte.
„Das ist eine Tür", erklärte Lorin selbstsicher und klopfte gegen das Metal.
„Das ist eine Wand", verbesserte Nonie.
„Nur von dieser Seite aus."
Nonie runzelte die Stirn. „Sag mir, wo ich mich täusche, aber wie soll uns das helfen, wenn wir beide auf der Seite sind, auf der die Tür keine Tür ist?"
„Noch, aber das ändern wir gleich." Ein tiefes, verhängnisvolles Lächeln strich über seine Züge und zupfte an den Grübchen in seinen Wangen. „Oder eigentlich, wirst du das gleich ändern."
Die Diebin wich bereits vor ihm zurück noch ehe sie wusste, wovon er sprach. In offenem Misstrauen sah sie ihm entgegen. Das verstand er, deshalb spannte er sie auch nicht sehr viel länger auf die Folter und deutete nach oben, auf ein Gitter in einer Wand, die tatsächlich von allen Seiten eine Wand war.
„Du musst da durch und schon bist du drinn."
Nonie hob die dunkelblonden Augenbrauen an.
„Ich habe schon von besseren Einfällen gehört, um mich los zu werden."
„So sehr ich dir das glaube, ich meine es ernst", meinte Lorin. Er stellte sich unter das Gitter und winkte sie näher. „Ivory Clouds sah nicht immer so aus wie heute. Lord Gridley hat sich eine Stadt als persönlichen Palast erschaffen und die Maschinerie, die alles im Himmel hält, modernisiert. Aber weil er schnell fertig werden wollte und sowieso bereits absurd teure Rennovationen vornahm, hat er um viel der alten Struktur einfach nur herum gebaut, statt es auszutauschen."
Seine Erklärung sorgte immerhin dafür, dass Nonie nun doch ein paar Schritt auf ihn zu trat. Wirklich überzeugt erschien sie aber nicht.
„Woher weißt du das?"
„Wie schon einmal erwähnt, ich bereite mich seit einem Monat auf diesen Job vor. Und ich bin wirklich gut darin mir Dinge zu merken." Auffordernd sah er sie an. „Ich hebe dich hoch und du entfernst das Gitter."
Sie glaubte ihm noch immer nicht vollständig, das verbarg sie gar nicht erst. Dennoch trat sie auf ihn zu und kletterte auf seine Hände, um sich nach oben heben zu lassen. Mit einem eingesteckten Messer hebelte sie das Gitter auf. Bereits dort oben, nutzte sie auch direkt die Gelegenheit hinein zu blicken.
„Wenn du dir so sicher bist, wieso steigst du nicht selbst da durch?"
Sie war verhältnismäßig leicht zu halten, doch er war sich sicher, dass sie ihre Knie mit Absicht gegen seinen Kopf lehnte und seitlich in seine Schläfe drückte.
„Du stehst direkt davor, sieht es aus, als würde ich da durch passen?"
„Warum kennst du den Weg, wenn du sowieso nie hier durch gegangen wärst?"
Inzwischen war er es der ungeduldig wurde. „Hast du Angst vor ein bisschen Dunkelheit und Enge?"
Nonie schnaubte und diesmal war er sich sicher, dass sie ihn mit Absicht kickte.
„Eher davor, dass ich dahinten von irgendetwas gefressen werde."
„Der dunkle Schacht oder Cyborg Kultisten auf den Gängen, die deine Beine gegen neue glänzende Sprungfedern austauschen werden."
Sie stöhnte gequält über ihm. Dann grummelte sie sauer herab: „Wenn ich sterbe, such ich dich heim, das ist dir klar, oder?"
„Ich bin mir sicher du wärst sehr erschreckend." Er tätschelte ihr Bein und hörte dabei zu, wie sie erneut in dem Dialekt fluchte, den er nicht verstand. Als sie sich dann aber dazu aufmachen wollte direkt hinein zu steigen, hielt er sie fest.
„Warte noch", meinte er und ließ sie wieder auf den Boden herab. „Du musst die Klamotten wieder ausziehen."
Sie blinzelte irritiert und schüttelte den Kopf. „Das ist ein sehr seltsamer Scherz."
„Es ist keiner, aber wenn wir hier durch sind, begegnen wir wahrscheinlich anderen und dann darf dein Hemd nicht aussehen, als wärst du eben durch einen verdreckten Schacht gekrochen."
Vielsagend deutete er auf die gestohlene Uniform, in der sie steckte. Elfenbein, selbstverständlich. Selbst die Handlanger, die in dunklen Kammern falsche Gäste folterten, waren in den edlen Zwirn gehüllt. Denn man wusste ja nie, wann man beeindrucken sollte.
Beruhigend hob Lorin die Hände. „Nur Hemd, Jackett und Hose. Ich werde alles halten und sobald du durch bist, bekommst du es zurück. Auf der anderen Seite ist niemand, der dich sehen könnte. Und ich... ich bin professionell."
Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Sehr offensichtlich hielt sie nicht viel von seinem Vorschlag. Inzwischen wohl noch weniger, seit er ständig neue Anweisungen gab. Womöglich wäre es wirklich besser, wenn er sich überlegte, wie er ihr verschmutztes Erscheinungsbild erklären könnte. Oder sie versetzten einen weiteren Wachmann in Ohnmacht.
Dann hob sie aber die Hände und begann damit das Hemd wieder aufzuknöpfen.
„Ich bekomm einen größeren Anteil", erklärte sie, und schob den Stoff über ihre Schultern. Er hatte nicht gesehen, wie sie sich zuvor umgezogen hatte, stellte nun aber fest, dass sie kein Mieder mehr trug. Stattdessen spannte sich eine Binde aus zerrissenem Satin um ihre Brust.
Lorin war einen Schritt fort getreten und hatte sich halb umgedreht, doch die Aufforderung ließ ihn wieder zu ihr blicken. Über die Aufteilung hatten sie noch gar nicht geredet, nun, da sie gemeinsam vorgingen.
„Es ist mein Plan", erwiderte Lorin resolut und stellte damit direkt klar, dass wenn jemand einen größeren Anteil bekommen würde, wohl am ehesten noch er.
„Bisher hast du nichts getan in deinem schönen Plan", konterte Nonie und öffnete den Gürtel, um die Hose über ihre schmale, nun aber auch wieder deutlicher feminin geformte Hüfte rutschen zu lassen. „Ohne mich würdest du noch an der Decke hängen und allem Anschein nach auch nicht durch deinen wunderbaren Geheimgang kommen."
Lorin schnalzte irritiert mit der Zunge.
„Ohne mich würdest du direkt in die Arme der Wachmänner oder des Kultes laufen."
Sie lehnte sich herab, griff die Klamotten und drückte sie Lorin entgegen.
„Du darfst darüber diskutieren, was dein Anteil ist, wenn du dich auch in Unterwäsche in einen dunklen, Schacht schiebst."
„Irgendetwas sagt mir, dass du sowas nicht zum ersten Mal machst", knurrte Lorin gereizt, ehe er wieder auf sie zuging, die Stoffe unter seinem Arm eingeklemmte und ihr die Hände reichte, um sie in die Höhe zu heben wie schon zuvor.
Sie schnaubte, dann hielt sie inne, drehte den Kopf leicht zur Seite und schien sich an etwas zu erinnern.
„Du hast so etwas schon einmal gemacht?" Eigentlich überraschte ihn das wirklich nicht.
„Etwas ähnliches. Aber die ganze Arbeit mach ich trotzdem!", stellte sie klar.
Mit bestrumpften Füßen trat sie in seine Handflächen und ließ sich in die Höhe schieben. Ihr flacher, von feiner Muskulatur gezeichneter Bauch strich seitlich sein Gesicht entlang. Sie besaß den durchtrainierten Körper einer Balletttänzerin. Zumindest erinnerte ihn die zierliche und doch so drahtige Erscheinung sehr an zwei junge Frauen, die ihm vor einem Jahr... Ihr Fuß landete in seinem Gesicht und drückte gegen seine Nase.
„Vorsichtig!", keuchte er in dem Versuch ihre Beine zu kontrollieren, während sie sich tiefer in das Loch schob. Mit den Tänzerinnen hatte er sich besser verstanden als mit ihr. Sie antwortete irgendetwas, doch der hohle metallische Hall verschluckte ihre Worte und ließ ein unverständliches Brummen zu ihm herab dringen. Dann verschwand sie ganz.
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