-42-
Meine Finger umschließen den kleinen Karton in meiner Hand immer fester, als ich mich dem altbekannten Haus nähere.
Die eisige Luft der Winternacht beißt in meine Nase. Ich bin seit einer guten halben Stunde an der Luft und steige nun die Treppe zu Jos Haus hoch.
Der Alte hat Licht im gemütlichen Wohnzimmer brennen und anstatt an die Tür zu klopfen, lasse ich meine tauben Finger mit der Scheibe des vom Kaminfeuers erleuchteten Zimmers kollidieren.
Jos Kopf schreckt hoch, doch als er mich am Fenster entdeckt, entspannt sich seine Körperhaltung augenblicklich.
Mit einem breiten Lächeln winke ich ihm mit meinem kleinen Geschenk zu.
Jo öffnet mir wortlos die Tür und mustert mich prüfend.
Erst als ich im Flur stehe, fragt er: "Ist wieder etwas vorgefallen oder was soll der späte Besuch?"
Mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass er vielleicht lieber seine Ruhe zu so später Stunde haben will.
Verlegen kratze ich mich im Nacken und blicke den Alten an.
"Wenn ich störe, sag es ruhig. Ich wollte dir nur ein kleines Weihnachtsgeschenk vorbeibringen."
Schließlich konnte ich doch nicht den einzigen Freund vergessen, den ich in Schenectady habe.
Der Inhalt der kleinen Box ist mir vor einiger Zeit wie durch Zufall in die Hände gefallen.
Und heute ist schließlich noch die feierliche Stimmung des gestrigen Weihnachtstages erhalten.
"Nein, ich freue mich, Junge. Nur bei dir weiß man ja nie."
Mit einem leisen Lachen verschwindet er in der Küche.
"Tee?", ruft er mir zu.
"Aber natürlich. Bitte", kommt meine Antwort.
Mittlerweile ist der Tee zu einer Tradition geworden, die unser Zusammensitzen verbindet, wie das einvernehmliche Schweigen, wenn wir über Dinge nachdenken, die uns beide betreffen oder die wir am Leben des anderen nicht gutheißen.
Ich nehme auf meinem Stammplatz Platz und bemerke erst jetzt den kleinen Weihnachtsbaum in der Ecke neben dem Fernseher.
Er ist mit bunten Lichtern und Strohsternen geschmückt.
"Niedlicher Baum", rufe ich, damit mich Jo in der Küche auch versteht.
Als er in das Wohnzimmer zurückkommt und in Zeitlupe meine Teetasse vor mir abstellt, seufzt er laut.
"Eigentlich stelle ich mir die Dinger schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr hin. Aber dieses Jahr war mir irgendwie danach."
Ich nippe an meinem Getränk und begrüße die Wärme, die von der blauen Tasse ausgeht.
Der Rückweg wird mir noch genug abverlangen.
Ich nicke zum Päckchen, das ich auf dem Couchtisch vor mir abgestellt habe.
"Mach es auf."
Jo lehnt sich vor und betrachtet die rote Box von allen Seiten.
"Mica, das wäre wirklich nicht nötig gewesen."
Ich winke ab.
"So ein Quatsch. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich schon längst wieder die Flucht ergriffen und meine Familie würde nicht wissen, dass ich schwul bin."
Schwarze Augen leuchten auf.
"Du hast es ihnen gesagt?"
Ein aufgeregter Tonfall erfüllt Jos Stimme.
Ich habe ganz vergessen, dass ich ihm die frohe Neuigkeit noch gar nicht mitgeteilt habe.
"Ja. Zwei Tage vor Weihnachten. Es war eine Katastrophe."
Ich erzähle Jo von der ungünstigen Zeit meiner Offenbarung, die sich Jonny und Mila zur Verkündung ihrer Schwangerschaft ausgeguckt haben.
Und das mein Vater es nicht ganz so gut aufgenommen hat.
Der Alte nickt zufrieden und greift nach seiner Tasse.
"Du hast das Richtige getan, Mica. Sehr, sehr gut gemacht."
Es fühlt sich irgendwie mehr danach an, eine gute Note bekommen, anstatt meine Lebenslüge aufgelöst zu haben, aber ich lehne mich zufrieden in die Polster der kleinen Couch zurück und sonne mich in seinem Lob.
"Deine Geschichte wird sich also nicht wiederhole, Jo", versichere ich ihm.
Ein Schatten huscht über das graue Gesicht.
"Was ist mit Emil und Bradyn?", fragt er.
"Emil ist ... er eckt ein wenig an. Aber es war mein Fehler ihn einzuladen und für meine Zwecke zu missbrauchen", gestehe ich.
"Und Bradyn ... der hat mich gestern vom anderen Ende des Tisches mit bösen Blicken angestarrt und dabei die Hand seiner Verlobten gehalten. Und kurz bevor sie abgehauen sind, hat er fast noch ein Streit mit mir und Emil angefangen."
Jo zieht die Stirn kraus.
"Er wehrt sich gegen seine Gefühle. Konntest du noch einmal in Ruhe mit ihm reden?"
"Nein. Aber vielleicht ergibt sich das noch, bevor ich nach Silvester abfahre. Wenn nicht ..."
Ich lasse meine unausgesprochene Drohung in der Luft schweben.
Ich habe keine Lust mehr, mich um Bradyns Leben zu sorgen.
Ich muss meines erst wieder auf die Reihe bekommen.
Mit meiner Beziehung zu Emil bin ich nicht glücklich. Das ist mir gestern Nacht klargeworden, als mich Emil ins Bett gezerrt hat und ich weder Verlangen, noch Lust empfunden und keinen hochbekommen habe.
Außerdem muss ich versuchen meinen Vater dazu zu bewegen, wieder mit mir zu sprechen.
Er ergreift regelrecht die Flucht vor mir.
Bradyn soll einfach seine Macht über mich verlieren.
In der Nacht hingen meine Gedanken nur über ihm. Und der Art wie er mich am Tisch mit seinen Blicken beinahe ausgezogen hat.
Zugegeben - mein Hemd war gewagt, aber dafür, dass er mich so brutal von sich gestoßen hat, hat er seine Rolle nicht gerade überzeugend aufrechterhalten.
"Ich wünsche mir für euch beide, nicht nur für Bradyn, dass ihr euch aussprechen könnt. Du warst so glücklich, als du von New York erzählt hast. Als du dich daran erinnert hast, was vor seiner Abweisung zwischen euch passiert ist", sagt Jo leise.
"Jetzt pack endlich dein Geschenk aus", wechsele ich das Thema.
Mit einem Nicken öffnen Jos runzlige Hände den Karton und ziehen eine Tasse hervor.
Sie ist hellblau.
In schwarzer Kalligrafie-Schrift steht: "Be the person you wanna be. In NEW YORK CITY" quer auf der Vorderseite.
Im Hintergrund zeichnet sich der Central Park mit imposanter Skyline ab.
Die perfekte Teetasse für seine Sammlung.
"Ich habe sie gesehen und musste sofort an uns denken."
Uns. Jetzt gibt es ein Uns.
Das hat es wahrscheinlich schon so viel länger gegeben, auch als ich es noch nicht wahrhaben wollte.
Ich kann Jos Gesichtsausdruck nicht erkennen.
Sein Kopf ist gesenkt und er inspiziert die Tasse von allen Seiten.
Als er seinen Blick hebt, sehe ich Tränen in seinen Augen schimmern und seine Mundpartie ist angespannt.
"Danke, Mica. Von Herzen Danke."
Er wischt sich mit einer schnellen Bewegung über das Gesicht.
"Jetzt werde ich mich immer erinnern, dass es jemand wie ich aus Schenectady herausgeschafft und eine bessere Lebensgeschichte zu erzählen hat. Ich werde mich immer daran erinnern, dass ich doch noch etwas Gutes im Leben vollbracht habe."
Auf seine ergreifenden Worte kann ich nichts erwidern.
Ich präge mir einfach nur das Bild des alten Jos ein, der in seinem Sessel sitzt und auf die 5$ Tasse herunterschaut. Eine Dankbarkeit in den Augen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe.
Es geht nicht um den materiellen Wert der Tasse.
Der Wert, den sie und die Worte auf ihr haben, ist für mich und Jo unbezahlbar.
Ich lächle den Alten an, als er die Tasse vor sich auf den Tisch stellt.
Der bunten Lichter der kleinen Tanne spiegeln sich auf ihr.
Und dieser Moment, hier im kleinen, gemütlichen Wohnzimmer mit den hunderten Fotografien an den Wänden, ist mehr Weihnachten für mich als alles andere.
________________________
Song: The End Of Love - Florence + the Machine
Moiiinn :)
Lange wird Mica nicht mehr in Schenectady verweilen ...
Ich hoffe, ihr hatten alle einen schönen Sonntag! Ich werde mich jetzt gleich mit einem Buch in meinen Lesesessel kuscheln :)
Ab morgen geht dann die Schule wieder für mich los. Jipiii. Juhuuuu. Ich freue mich schon. Nicht.
Na ja, was soll man machen, seufz.
Würdet ihr euch eigentlich über eine Teetasse zu Weihnachten freuen?
Bis morgen ihr Lieben!
Eure Lisa xoxo
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro