Rapunzel
Früher, als es noch kein fließendes Wasser gab, und man nur aus stehenden Gewässern trinken konnte, gab es Frauen.
Und eine dieser Frauen war so egoistisch, dass alle mit ihr befreundet sein wollten. Sie wurde sogar als die egoistischste Person im ganzen Land bezeichnet.
Eines Tages wurde sie schwanger und heiratete auch direkt einen Mann. Robert las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, und so ließ sie sich immer abstrusere Dinge einfallen. Das Ei eines Drachen? Kein Problem. Der Lieblingsedelstein der Königin? Auch nicht.
Doch eine Sache, die wollte er ihr nicht beschaffen. Rapunzeln aus dem Garten ihrer Nachbarin – wieso, das wollte er ihr nicht verraten.
Doch die Frau wollte unbedingt einen Rapunzel Salat, und so sagte sie ihrem Mann, dass sie sterben würde, wenn er sie nicht für sie pflücken würde.
In dieser Nacht kletterte Robert schweren Herzens über die Mauer in den Garten seiner Nachbarin, und bemühte sich, ganz leise und unauffällig zu sein. Nicht, dass seine Ex ihn noch entdecken würde.
Doch seine trampelnden Schritte, die laufende Nase, die er immer wieder schniefend hochzog und sein lautes Gefluche hatten ihn wohl doch irgendwie verraten, denn seine Exfreundin erwischte ihn dabei, wie er Rapunzel aus ihrem Beet stahl.
Sie wurde wütend und kreischte rum, wie er es doch nur wagen könne, sie erneut zu bestehlen. Doch dann kam ihr eine Idee in den Sinn – und sie wurde still.
Eine zweite Wahl – Bei der ersten hatte er sich gegen sie und für seine jetzige Frau entschieden. Würde er sich jetzt für das Leben seines Kindes oder sein eigenes entscheiden?
Als der bekanntlich selbstloseste Mann des Landes war es doch von vornherein klar, für was Robert sich entscheiden würde. Natürlich rettete er sein Leben und versprach seiner Ex sein ungeborenes Kind.
20 Jahre später in einem hohen Turm ohne Treppen und Türen
Rapunzel saß schon so lange hier drinnen, wie sie nur denken konnte. Sie hatte ihren ersten Geburtstag hier gefeiert, ihren zweiten, ihren dritten, ihren vierten – Ja, alle 20. Mit jedem Jahr, das verstrichen war, freute sie sich mehr und mehr auf den nächsten Geburtstag, denn jedes Jahr kam ihre Adoptivmutter zu ihr und schenkte ihr eine neue Haarfarbe und ein Foto von ihr mit ihrer jetzigen Farbe.
Den Rest des Jahres bekam sie zwar niemanden zu Gesicht, aber dafür konnte sie ihre wunderschön farbigen Haare betrachten.
Aktuell waren sie hellblau. Mit 16 hatte sie beschlossen, einen kompletten Regenbogen durchzugehen – damit die Fotos, die sie nach Jahren sortierte, auch farblich schön aussahen.
Jedenfalls war morgen der Tag, an dem sie endlich dunkelblaue Haare bekommen würde.
Zur selben Zeit im Wald
Ein Taxifahrer ritt auf einem Wildschwein durch den Wald und zog einen Schlitten hinter sich her. Isabel, eine wunderschöne junge Frau, wurde auf der Fahrt zwar ordentlich durchgeschüttelt, doch es war immer noch besser als zu laufen.
Sie war schon genug gelaufen, als sie beschlossen hatte, hierher umzuziehen. Jetzt, wo sie genug Geld für eine Taxifahrt zur berühmtesten Sehenswürdigkeit der Gegend zusammengespart hatte, wollte sie es genießen.
Nach weiteren 10 Minuten waren sie endlich am Turm ohne Treppen und Türen angekommen und Isabel starrte ehrfürchtig nach oben. Der Mann auf dem Schwein räusperte sich leise und Isabel drückte ihm stumm das Geld in die Hand, weil sie den Blick nicht vom Turm nehmen konnte.
Er war so hoch, dass sie kaum das Dach sehen konnte, fast so hoch wie die umliegenden Bäume.
»WOW«, schrie sie nach oben, Richtung Turmspitze. Vielleicht wohnte ja eine Prinzessin darin, die sie hören würde, schmunzelte sie in sich hinein.
Oben im Turm ohne Treppen und Türen.
Rapunzel hörte einen Schrei, der anders klang als die Schreie, die sie sonst hörte. Irgendwie cooler – fast so, als hätten die Vögel endlich einen der Metal Songs gelernt. Sie bat sie ständig darum, doch sie sangen ihr immer nur dieselben kitschigen Liebessongs vor.
Um herauszufinden, woher der Schrei gekommen war, stellte Rapunzel sich ans Fenster und blickte nach unten. Tief unter ihr stand ein Mensch – Ihre Adoptivmutter. Enttäuscht seufzte Rapunzel, raffte ihr Haar und alles auf einmal nach unten fallen. Geschmeidig floss es um den Turm herum und sie spürte, wie es auf dem Boden aufkam.
Wieso kam sie wohl schon heute? Hatte Rapunzel sich etwa im Datum verrechnet? Sie setzte sich auf die Bank und überlegte, während sie spürte, wie die Frau an ihrem Haar zog und den Turm hochzuklettern begann.
20 Minuten später
Isabel schnaufte lautstark, als sie endlich durch das Fenster in das Turmzimmer kletterte und platt auf den Boden fiel. Das war ja noch schlimmer als laufen gewesen. Hoffentlich hatte es sich wenigstens gelohnt.
Sie öffnete ihre Augen und blickte direkt auf etwas strahlend Hellblaues. Nicht das Haar, an dem sie gerade hochgeklettert war, nein. Es war noch heller, und ein interessiertes Funkeln lag darin.
Isabel rappelte sich auf, um auf einer Höhe mit der jungen Frau zu sein, die ihr immer noch in die Augen starrte.
»Hi«, begrüßte sie die Fremde. Diese grüßte zurück und stellte sich ihr als Rapunzel vor. Interessiert lauschte Isabel der Geschichte, die fast sofort aus ihrem Mund strömte.
Als Rapunzel fertig erzählt hatte, wunderte sie sich. Normalerweise war sie nicht so gesprächig, außer wenn ihre Vögel mal wieder hier waren.
»Ich heiße Isabel«, stellte sich auch ihr Gegenüber vor und grinste.
Gebannt richtete Rapunzel ihren Blick auf ihre Lippen, die wunderschön aussahen. Isabel bemerkte, wohin ihre Augen gewandert waren und lehnte sich vor, um Rapunzel zu küssen.
3 Stunden später
»Und du bist wirklich noch nie auf die Idee gekommen, aus diesem Turm auszubrechen? In 21 Jahren nicht?«, fragte Isabel ihre neue Freundin, als sie entspannt nebeneinander lagen.
»Wie sollte ich das denn hinkriegen? Wie du ja selbst weißt gibt es keine Treppen und keine Türen.«
Isis Blick huschte zum Fenster, dann wieder zurück zu Rapunzel.
»Aber würdest du gerne von hier abhauen?«, hackte sie nach.
Die Blauhaarige nickte zögerlich. Nach dem, was Isabel ihr erzählt hatte, hatte sie bemerkt, dass ihre Situation nicht ganz normal war. Und sie hatte große Lust, die Welt dort draußen zu entdecken – gemeinsam mit Isi selbstverständlich.
»Dann finden wir einen Weg hier raus«, sagte diese entschlossen.
Im Wald, 2 Stunden später
»Wir reden nie wieder darüber. Nie wieder will ich darüber reden, wie wir aus diesem Turm rausgekommen sind«, nahm Rapunzel ihrer Freundin das Versprechen ab.
»Was, wenn meine Eltern uns fragen? Du willst ihnen nicht erzählen, dass wir...«
Rapunzel presste eine Hand auf Isis Lippen und würgte sie.
»Nein, selbst dann nicht. Versprochen?«
Isabel, die schon leicht bläulich aussah, nickte hektisch. Mit einem zufriedenen Lächeln ließ Rapunzel sie los.
Nach einem tiefen Luftschnappen begann Isabel von ihrer Familie zu erzählen.
»Ich habe lange bei meinen Eltern gelebt, doch irgendwann wurde das langweilig und ich bin in die Stadt hier in der Nähe umgezogen. Robert und Miranda wollten das zwar nicht so richtig, aber ich bin immer noch ein freier Mensch.«
Von Rapunzel kam keine Reaktion auf diese emotionale Rede ihrer Freundin und Isi schaute sie verwundert an.
»Was? Etwa nicht?«
»Meine Eltern heißen auch Robert und Miranda... Haben mir die Vögel vor meinem Fenster jedenfalls erzählt.«
Die beiden schauten sich bestürzt an.
»Bist du – bist du meine Schwester, Rapunzel?«
Die Blauhaarige schluckte. »Bin ich das?«
Ein lautes Poltern ertönte und ein riesiger Stein fiel neben ihnen zu Boden. Die Frauen kreischten auf und sprangen zur Seite, als Kieselsteine von dem Felsen abzubröckeln begannen. Er bröckelte so lange, bis der ganze Fels weggebröckelt war und ein kleiner Kobold aus seinem Inneren heraussprang.
»Ich bin gekommen, um frohe Kunde zu verkünden: Ihr seid keine Geschwister!«
Rapunzel und Isi hatten keine Chance zu reagieren – der Kobold flitzte schon um sie herum und flocht einen Haarkokon aus Rapunzels Haaren um die Zwei.
Dann war es still, und die Frauen schauten sich stumm an. Ein kleines Lächeln bildete sich auf Isabels Lippen, als sie sich vorlehnte.
»Na dann ist ja gut«, flüsterte sie und drückte ihre Lippen auf Rapunzels.
Als diese vor zu viel Sauerstoffmangel ohnmächtig wurde und zu Boden sackte, fiel Isabel mit ihr, weil der Haarkokon sie immer noch umgab.
30 Minuten später
Ein Japsen ertönte und auch Isabel atmete aus. Langsam hatte sie sich schon Sorgen um Rapunzel gemacht.
»Wie kommen wir jetzt aus diesem Kokon raus?«, fragte sie ihre Partnerin gleich geschäftig.
Diese musste sie enttäuschen. Sie fürchtete, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als die Haare aufzuschneiden.
Rapunzel begann zu weinen, doch als ihnen das Wasser bis zum Hals stand, musste sie einsehen, dass es wirklich keine andere Möglichkeit gab. Schweren Herzens erlaubte sie Isabel, mit ihren Krallen ihre wunderschönen Haare abzuschneiden.
Doch als sie auf den Boden fielen, geschah etwas Wundersames – das blaue Haar verwandelte sich in Wasser – und so geschmeidig, wie sie zu Boden geflossen waren – so geschmeidig flossen sie auch in ihrer neuen Form auf dem Boden weiter.
Isabel und Rapunzel hatten das fließende Wasser erfunden, und wurden dafür zu den Herrscherinnen des Königreiches gekrönt. Als winzig kleines Dankeschön.
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Genau einen Monat, nach dem es eigentlich kommen sollte, kommt das neue Kapitel. Was sagt das über meine Updatefähigkeit aus? Ich weiß es nicht.
Ich bin nicht zu 100% zufrieden, auch wenn mir die Idee gut gefällt. Aber an der Umsetzung könnte man noch feilen, und vielleicht mache ich das irgendwann mal noch.
Wie hat es euch gefallen?
Ich würde mich wie immer über Feedback, Kommentare und Votes freuen, also lasst gerne etwas davon da :).
Und es gibt natürlich wie immer eine Chance auf einen ⭐.
Anlässlich des 10. Märchens (inklusive der Vorgeschichten) habe ich nämlich ein kleines Quiz für euch:
Wie viele Roberts kamen denn tatsächlich schon vor?
a) 11
b) 9
c) 10
So lange ich die richtige Lösung nicht verrate hat jeder einen Versuch :).
Wir lesen uns dann irgendwann demnächst irgendwo wieder (Und nein, ich bleibe nicht extra vage. Ich doch nicht.)
Lasst uns diese Woche überstehen, bald ist Wochenende.
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