4. lítost
lítost: ein Zustand von Qual und Pein, der durch einen plötzlichen Blick auf sein eigenes Elend hervorgerufen wird; es ist ein Gefühl von Bedauern oder Reue, weil man etwas falsch gemacht hat
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Samstag, März
Seine Mutter fuhr ihn am Samstag zum Hause der Moriartys, da bereits die ganze Woche Gewitterstürme über England hinwegzogen. Eigentlich hatte Sebastian sich weigern wollen, da seine Mutter, obwohl sie am Wochenende frei hatte, als Unidozentin viel zu tun hatte. Doch Dorothea Moran konnte ebenso wie ihr Sohn sehr stur sein.
Also saß Sebastian nun auf dem Beifahrersitz und beobachtete, wie die Regentropfen über die Fensterscheibe liefen, während alles außerhalb des Wagens zu einer verschwommenen Masse aus Grau und Ampelrot wurde.
„Ist alles in Ordnung, Schatz?", fragte seine Mutter irgendwann und Sebastians Mundwinkel hoben sich beinahe automatisch, als er die Sorge in ihrer Stimme hörte. Ein erlernter Mechanismus, damit sie aufhörte, sich zu sorgen.
„Ja, ich hab nur nachgedacht."
Das hätte er nicht sagen sollen, denn nun blickte seine Mutter aus dem Augenwinkel zu ihm herüber und wirkte noch besorgter. Sebastian tat so, als würde er es nicht bemerken.
„Bist du dir sicher? Du wirkst schon seit gestern so betrübt."
Die Ampel, über die sie fuhren, wurde hinter ihnen rot und Sebastian betrachtete ihr Glimmen im Rückspiegel, bis sie außer Sicht war. „Ja, alles gut. Hab nur nicht besonders gut geschlafen."
Das war gelogen und das wussten sowohl er als auch seine Mutter. Nun ja, der Teil mit dem nicht gut geschlafen stimmte. Aber dass sein Lehrer um ein Gespräch mit seiner Mutter gebeten hatte, weil Sebastians Noten sich so verschlechtert hatten und dass er das Gespräch mit ihrer Bank mitbekommen hatte, verschwieg Sebastian ihr. Genauso wie den Umstand, dass einer seiner "Schützlinge" ihm das Leben schwer machte, gleichzeitig aber verlangte, dass Sebastian ihn in Ruhe ließ und dass er Sebastian als Gutmenschen, der immerzu lächelte, bezeichnet hatte und damit nicht falscher liegen könnte, weil das Lächeln immer schwieriger für ihn wurde. Vor allem, weil Jim Erinnerungen in ihm geweckt hatte, die ihn daran zweifeln ließen, ob er wirklich ein guter Mensch war oder einfach nur selbstsüchtig. Immerhin musste er seiner Mutter spätestens, wenn er sein Zeugnis bekam, sagen, wie es zurzeit in der Schule lief (obwohl das Zeugnis allein schon Bände sprechen würde) und eigentlich könnte er sie jetzt schon darauf einstellen. Stattdessen jedoch lief er jeden Morgen zum Briefkasten, um sicher zu gehen, dass seine Schule keinen Brief gesendet hatte, fing jede E-Mail damit ab, dass er seiner Schule seine eigene E-Mail-Adresse angegeben hatte und erfand immer neue Ausreden, wieso seine Mutter nicht zum Elternabend kommen konnte. Und das alles nur, weil er Angst hatte, sie zu enttäuschen. Gott, er war so selbstsüchtig.
„Du hast wieder diesen Blick drauf", bemerkte seine Mutter und Sebastian löste seine Schläfe von der Scheibe und setzte sich gerade auf.
„Welchen Blick?"
„Als würdest du den Sinn des Lebens suchen und es würde dir nicht gefallen, worauf deine Suche hinausläuft."
„Es gibt keinen Sinn im Leben", sagte Sebastian und eigentlich war es als Scherz gedacht, aber irgendwie schien dieser seine Wirkung nicht erzielt zu haben, weil seine Mutter die Augenbrauen zusammenzog und sich auf die Unterlippe biss, als wüsste sie nicht, was sie noch sagen sollte, wüsste auch nicht, wie sie dem widersprechen sollte.
Seine Mutter seufzte und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, leider auch kein angenehmes für Sebastian: „Ich habe letztens mit deinem Bruder telefoniert. Er will irgendwann mal vorbeikommen. Wäre das okay für dich?"
Sebastian hob die Schultern. „Sicher." Und dann biss sich seine Mutter wieder so auf die Lippe.
Sebastians Mutter wusste, dass er und Severin sich nie sonderlich gut vertragen hatten. Allerdings glaubte Sebastian nicht, dass sie wusste, wie schlimm es gewesen war. Er hatte auch nicht vor, es ihr zu erzählen, denn das war eine Sache zwischen ihm und seinem Bruder und Severin hatte sich gebessert, weshalb es unfair wäre, alte Konflikte wieder aufzurollen.
Ein paar Minuten schwiegen sie bis sie vor der Maut anhalten mussten. „Was machst du heute mit Elizas Kindern?"
„Ich wollte mit ihnen einen Indoor-Parcour machen." Sebastian streckte sich und legte dann die Beine auf das Armaturenbrett, ließ sie jedoch sofort wieder in den Fußbereich verschwinden, als er den tadelnden Blick seiner Mutter auf sich spürte.
„Und du bist dir sicher, dass sie so etwas schaffen?"
Jetzt, wo sie es sagte, war Sebastian nicht mehr sicher. Aber er zuckte einmal mehr mit den Schultern. „Es gibt Kinderkurse."
Nachdem sie die Maut bezahlt hatte, fuhren sie weiter und Sebastians Mutter fragte: „Fahrt ihr wieder nach London rein? Ich kann euch gern fahren, wenn ihr wollt."
Das war an sich ein nettes Angebot, aber Sebastian konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen als seine Mutter und Jim im selben Auto. Wer wusste, wie das enden würde. Sebastian wollte es nicht herausfinden, deshalb schüttelte er schnell den Kopf.
„Nein, schon gut. Wir fahren sowieso erst um zwei los. Und mit der Tube ist es schneller."
„Ein paar Minuten", gab seine Mutter widerwillig zu.
„Wir kommen schon klar, danke Má."
Seine Mutter seufzte und fuhr ihm kurz mit der linken Hand durch die blonden Haare. Sebastians Proteste bekam sie gar nicht mit, denn schon war sie mit den Gedanken wieder beim Straßenverkehr und gleichzeitig ganz weit weg. Sebastian sah es ihr an, aber er sagte nichts, weil er nicht wollte, dass sie wusste, dass ihm klar war, dass sie größere Probleme als ihren Sohn hatte, der andere Leute als Zweitberuf enttäuschte (und dafür nicht einmal bezahlt wurde).
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„Jim?", rief Sebastian ein wenig ungeduldig die Treppen hoch, als er, Andrew und Dorian bereits im Flur auf den letzten Moriarty-Bruder warteten.
„Ich komm nicht mit!", ertönte es von oben.
Sofort begannen Andrew und Dorian, die Jim sein Verhalten am letzten Mittwoch offenbar verziehen hatten, zu protestieren und versuchten lautstark, ihn zu überreden, mitzukommen. Sebastian bekam Kopfschmerzen, als die beiden Jungen so durcheinander riefen.
„Komm, Jim, das wird lustig!" Andrew blickte zur Decke hinauf, als könnte er Jim durch sie hindurch flehend anblicken.
Dorian ging dazu über, "bitte" in Endlosschleife zu rufen.
Sebastian wollte sich in sich zusammenrollen und das Geschrei ignorieren. Was er natürlich nicht tat. „Komm schon, bitte!" Sebastian hörte selbst, dass er verzweifelt klang und er hatte Jim gerade um etwas gebeten, aber er hatte bereits Kopfschmerzen und er konnte keine Kinder gebrauchen, deren Geschrei seine Hirnlappen platzen ließ. (Sebastian wusste gar nicht, ob das möglich war, aber vielleicht wäre er ja der Erste, dem das passierte.)
Fast glaubte er, das Flehen hätte nichts gebracht, doch dann erschien Jim tatsächlich am Treppenabsatz. Murrend lief er die Stufen hinunter. Sebastian wagte nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass er sicher Sportbekleidung benötigen würde, denn er vermutete, dass Jim, sollte er noch einmal nach oben laufen und seine schwarze Jeans gegen etwas Bequemeres tauschen, einfach in seinem Zimmer bleiben und sich einschließen würde.
„Wie lang wird das Ganze dauern?", fragte Jim genervt und sofort war auch Sebastian genervt, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Wenn Jim wieder versuchte, ihm die Laune zu vermiesen, indem er nur auf ihm rumhackte und sich beschwerte, dann konnte er das vergessen. Sebastian würde einfach so tun, als würde ihn das nicht kümmern.
„90 Minuten", erklärte er, warf sich seinen eigenen Rucksack über die eine und Dorians und Andrews Sporttasche über die andere Schulter.
„Moment, brauche ich etwa Sportsachen?", rief Jim hinter ihm entsetzt, aber da war Sebastian schon durch die Tür und Jim folgte ihm und seinen Brüdern widerwillig.
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Dorian legte sofort los. Andrew traute sich nicht aus der Kabine.
„Ich habe mein altes T-Shirt mitgenommen", erklärte er Sebastian verzweifelt, als der zaghaft an der Tür zur Umkleide klopfte und fragte, wieso Andrew so lang brauchte. „Das ist viel zu klein und jetzt sieht man alles."
Gerade als Sebastian fragen wollte, was man sah, fiel ihm wieder ein, dass Andrew ihm letzten Mittwoch offenbart hatte, andere und er selbst fanden ihn dick. Ein wenig korpulent war Andrew schon, auf eine niedliche, kindliche Art, aber ganz sicher musste er sich dafür nicht schämen. Hätte Sebastian gewusst, wie er diese Gedanken in Sätze fassen und laut aussprechen können, hätte er Andrew genau das (oder etwas Ähnliches) gesagt, aber wie immer schien sein Mund nicht die Worte zu formen, die er sagen wollte.
Er drehte sich zu Jim um, der hinter ihm an einer Wand lehnte und die Szenerie mit verschränkten Armen beobachtete. Hilflos deutete Sebastian auf die Kabine und fragte lautlos 'Was soll ich tun?'.
Jim grinste nur und machte eine Handbewegung, die in etwa bedeuten sollte: 'Nope, du bist dran. Mach was.'
Hätte Sebastian nur gewusst, was er tun sollte. Er wusste, dass es Andrew nicht helfen würde, würde er ihm erklären, dass es okay war, wenn man nicht perfekt war und hie und da ein wenig zu viel auf den Hüften hatte. Nein, was her musste, war eine Lösung für das jetzige Problem, nicht die Problemstellung im Allgemeinen.
„Hey, wie wäre es, wenn du ein T-Shirt von mir nimmst?", fragte er. „Es ist vermutlich zu groß, aber du kannst es in die Hose stecken oder zusammenknoten. Ich zeig dir, wie das geht. Es sieht auch nicht blöd aus, versprochen."
Früher hatte er oft Kleidung von Severin "weitervererbt" bekommen, wenn sein Bruder aus den Sachen rausgewachsen war. Nur war Sebastian früher recht dürr und klein gewesen, war erst mit vierzehn wirklich gewachsen und hatte etwas an Muskelmasse zugelegt. Deshalb waren die Sachen seines älteren Bruders ihm immer zu groß gewesen und da hatte er auf die Tipps, die er Andrew soeben gegeben hatte, zurückgegriffen.
Einen Moment herrschte Stille hinter der Kabinenwand, als würde Andrew überlegen, dann murmelte er leise: „Okay."
„Gut, also ich habe mich schon umgezogen. Stört es dich, wenn ich das T-Shirt schon kurz anhatte? Ich kann auch noch einmal zu meinem Spind gehen."
Wieder eine kurze Pause. „Nein, is' okay."
Sebastian lächelte leicht, öffnete seine Jacke, zog sie aus und zog sich dann ohne weiter zu überlegen das T-Shirt über den Kopf.
Hinter ihm schnappte jemand überrascht nach Luft und Sebastian sah über seine Schulter zu Jim, den er völlig vergessen hatte und der nun ebenso rot wurde wie Sebastian selbst. Sebastian ließ sein T-Shirt fallen, zog sich seine Jacke an und zog schnell den Reißverschluss hoch. „Sorry", murmelte er verlegen.
Er wusste, dass Jim nicht nach Luft geschnappt hatte, weil er so gut gebaut war (was allerdings schmeichelhaft wäre), sondern wegen der Narben, die sich über seinen Rücken bis hin zu seinen Rippen zogen.
Seine Mutter sagte immer, Sebastian hätte früher keine Möglichkeit ausgelassen, beinahe draufzugehen. Einmal war er auf dem Fahrrad von einem Auto angefahren worden und hatte es irgendwie geschafft, dass sein Lenker seine rechte Seite völlig zerschunden hatte. Ein paar Jahre vor diesem Unfall war er von einem Baum auf dem Anwesen seines Vaters gefallen, hatte sich den Arm gebrochen und war auf einen Eisenstab gelandet, der ihn beinahe durchbohrt hätte, seinen Rücken aufgerissen hatte, und der vorher noch sein Schwert im Kampf gegen den Piraten Henry Morgen (Severin) gewesen war.
An diesem Tag hatte er seinen Bruder zum ersten und einzigen Mal weinen sehen und als dann auch seine Mutter schreiend und weinend angekommen war, da hatte Sebastian auch geweint, weil er dachte, dass er sterben musste und seine Familie ihn deswegen hassen würde. Dann war er jedoch doch nicht gestorben und seither hielt Severin ihm vor, wie ungeschickt er gewesen war.
Einige Narben hatte auch Severin ihm eingebracht. Mit scharfen Metallstangen zu kämpfen, war noch ein harmloses Spiel zwischen den Brüdern gewesen, wenn es aber nicht mehr im Spiel war, dann hatte Severin manchmal ziemlich... grob werden können.
„Sebastian?", fragte Andrew und er klang ein wenig panisch, als hätte er Angst, dass Sebastian weggegangen wäre.
Sebastian blinzelte seine Erinnerungen fort. „Bin da! Ich schiebe dir das T-Shirt unter der Tür durch, okay?"
Zur Antwort wurde eine Hand durch die Lücke unter der Kabinentür gesteckt und Sebastian übergab Andrew sein T-Shirt, nachdem er es vom Boden aufgehoben hatte.
Als er sich umdrehte, um irgendwas zu Jim zu sagen - was, wusste er nicht genau - sah er, dass dieser sich gerade neben eine Gerätschaft gestellt hatte, an der Ringe herunterhingen, an denen man sich auf die andere Seite hangeln musste. Dorian war gerade auf dem Rückweg, sprang dann wieder auf die Matte, sprang wieder hoch und hangelte sich erneut die drei Meter auf die andere Seite. Dabei lachte er laut und rief Jim irgendetwas zu.
Sebastian hörte nicht, was Jim sagte, aber er konnte das Lächeln in seinem Gesicht sehen und er fragte sich, wieso Jim so oft ein so großes Arschloch war, wenn seine Brüder ihm doch wirklich wichtig zu sein schienen.
„Sebastian?", kam es aus der Umkleidekabine und Sebastian riss sich vom bisher einmaligen Anblick eines lächelnden Jims los.
Als die Kabinentür sich öffnete, musste Sebastian sich ein Lachen verkneifen. Sein T-Shirt reichte Andrew beinahe bis zu den Knien und er sah leidvoll zu Sebastian auf. „Ich glaube nicht, dass du das hinbekommst."
Sebastian grinste schief. „Du unterschätzt mich. Du wirst im Nu aussehen wie ein Mini-Ich."
Andrew zog eine Grimasse und fragte spaßeshalber: „Will ich das denn?"
Sebastian nickte überzeugt und musste dann lachen. Diesmal fiel es ihm schon leichter. „Natürlich, willst du das. Das muss ich, als Ich-Ich wissen."
Andrew grinste ihn an, dann ließ er sich von Sebastian helfen und vielleicht sah er hinterher nicht aus wie eine Kopie von Sebastian, aber zumindest schien er sich wohler zu fühlen und das war wohl sowieso besser.
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„Jim braucht so lang." Dorian lag rücklings auf einem schulterhohen Kasten (von Dorians Körpergröße gemessen) und ließ den Kopf über die Ecke hängen, sodass das Blut langsam in seinen Kopf stieg und sein Gesicht rot färbte. Dass das nicht von der Erschöpfung kam, sah man, wenn man nur kurz zuschaute, wie Dorian unermüdlich durch den Parcours schwang, rannte und sprang. Hätten sie nicht immer auf jedes Mitglied der Gruppe warten müssen, bevor sie einen neuen Raum betraten, hätte Dorian den ganzen Parcours mit allen dazugehörigen Räumen vermutlich bereits dreimal absolviert.
„Er muss doch nur diese blöde Wand hochklettern. Es gibt sogar Trittstufen", stimmte Andrew seinem kleinen Bruder zu. Der Zehnjährige saß auf dem Boden, öffnete seine Schnürsenkel andauernd wieder, band sie wieder zu einer Schleife und zog sie dann wieder auf. Sebastian beobachtete ihn bereits seit geraumer Weile dabei, hatte gar nicht mitbekommen, wie hypnotisiert er davon war.
„Ich seh mal nach ihm", bot Sebastian an. Die beiden Brüder gaben ihm nickend die Erlaubnis.
„Beeil dich!", fügte Dorian hinzu.
Sebastian sprach kurz mit dem Trainer, der ihn und die Moriartys eingewiesen hatte und sie nun in die Räume lenkte und ihnen bei den Stationen half.
Der Trainer, ein durchtrainierter Mann mit einer furchterregend großen Nase, half Sebastian, sein Geschirr wieder anzulegen, das zu der Sicherheitsausstattung gehörte, weil die Mauer, über die man klettern sollte, viereinhalb Meter hoch und damit groß genug war, damit ein Fall zu Knochenbrüchen führen konnte.
Sebastian beeilte sich, hoch zu klettern, drehte sich dann oben auf einer Plattform um und kletterte langsam auf der anderen Seite hinunter.
Schon während er kletterte, hörte er die Flüche und Verwünschungen, die nicht einmal ein alter Seemann in den Mund genommen hätte.
Schließlich landete Sebastian mit einem leisen Plumpsen neben Jim auf der Matte, der so beschäftigt mit seinem Geschirr gewesen war, dass er zusammenzuckte, als Sebastian plötzlich neben ihm stand. „Alles okay bei dir?", fragte Sebastian.
Jim sah kurz von dem Riemen, den er gerade zu lösen versuchte, auf und nickte verbissen. „Ja."
Sebastian sah zu, wie Jim an dem Riemen zerrte, dann an dem Karabinerhaken, mit dem er an dem Seil oben an der Decke befestigt war.
„Hast du ein Problem mit deinem Geschirr?", fragte Sebastian stirnrunzelnd und trat einen Schritt auf Jim zu.
Dieser blickte nun vollends auf und funkelte Sebastian an. „Ja! Das bescheuerte Ding geht nicht ab."
Sebastian hielt in der Bewegung, Jim irgendwie bei seinem Geschirr zu helfen, inne. „Wieso solltest du es auch abnehmen? Du brauchst es, um über die Wand zu klettern."
„Vergiss es!", fauchte Jim, wurde nun energischer und das Geschirr schien sich nur noch fester um seine Rippen zu legen. „Ich kletter nicht über diese gottverdammte Wand! Ich steig aus. Macht ohne mich weiter, ich warte draußen. Oder ich fahr schon nach Hause. Macht ja auch keinen Sinn in diesem Scheiß-Laden zu hocken."
Sebastian hatte das Gefühl, nicht richtig mitzukommen. „Du willst den Parcours abbrechen? Wieso das denn?"
„Weil ich kann!", war Jims patzige Antwort.
Sebastian blinzelte verwirrt und sah die Mauer hinauf. Ihm ging etwas auf. „Warte, du hast doch nicht etwa Höhenangst, oder?"
„Nein!", knurrte Jim und da sah Sebastian, wieso Jim den Karabiner nicht lösen konnte - seine Hände zitterten, als litte er unter einem Tremor.
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du Höhenangst hast."
„Ich hab keine Angst!" Jim gab es auf, an dem Riemen zu ziehen oder zu versuchen, den Karabiner zu öffnen. Er atmete tief durch und blickte noch einmal zu der Mauer auf. „Ich finde es nur bescheuert, darauf zu klettern. Ich meine, was hab ich davon, wenn ich auf der anderen Seite sowieso wieder runter muss?!"
Sebastian zuckte mit den Schultern. „Naja, so funktioniert der Parcours eben." Sebastian klappte den Mund wieder zu, als Jim ihm einen bitterbösen Blick zuwarf. Dann seufzte Sebastian leicht und näherte sich Jim vorsichtig wie einem verletzten Wolf. „Warte, ich helfe dir."
„Ich brauche deine Hilfe nicht", spie Jim.
„Ich kann natürlich auch diesen Trainer rüberlotsen. Dann hilft er dir und du darfst ihm erklären, wieso du nicht klettern willst."
„Das ist Erpressung", befand Jim zähneknirschend, woraufhin Sebastian eine Augenbraue hob.
„Wirklich? Was habe ich denn davon?"
Darauf antwortete Jim nicht. Er senkte den Kopf, sodass ihm seine schwarzen Haare ins Gesicht fielen und Sebastian sah das als Aufgeben an. Schnell griff er nach dem Karabiner, mit dem das Geschirr mit der Sicherheitsleine verbunden war. Dann, ein wenig zögerlicher, zog er erst an dem Riemen, der um Jims Brust lag, dann an den beiden um seinen Schultern.
Als er fertig war, trat er schnell einen Schritt zurück, aus Angst, sich zu lang in Jims Intimzone aufgehalten zu haben.
Jim war mittlerweile viel ruhiger. Sebastian glaubte auch nicht, dass seine Hände noch zitterten oder vielleicht verbarg Jim es jetzt besser.
Während Jim aus seinem Geschirr stieg, blickte Sebastian noch einmal die Mauer hoch. Natürlich, für jemanden mit Höhenangst musste sie sehr hoch erscheinen, aber hier unten auf dem Boden war Jim ja sicher - Wieso, also, war er so panisch gewesen? Es sei, denn...
„Wieso bist du hochgeklettert, wenn du weißt, dass du Angst hast?"
Einen Moment glaubte Sebastian, Jim würde seine Frage einfach ignorieren, denn er kickte den letzten Gurt von seinem Bein und dann das ganze Geschirr so weit wie möglich von sich weg, als ginge eine unmittelbare Gefahr davon aus.
Diesmal behauptete Jim nicht, wider Sebastians besserem Wissen, dass er keine Höhenangst hatte, sondern sah nur mit einem Grabesausdruck die Wand hoch. Er schwieg und Sebastian wartete geduldig darauf, ob noch eine Antwort kommen würde. Es wirkte nicht so.
Doch dann erschauderte Jim, als hätte er soeben eine grässliche Erinnerung wieder durchlebt. „Ich wollte nicht, dass jemand es weiß", murmelte er schließlich so leise, dass Sebastian seine Antwort beinahe nicht vernommen hätte.
„Oh", machte Sebastian einfallsreich. Er setzte hinzu: „Aber es ist doch nur normal, Angst zu haben."
„Achja, ist es das?!" Jim funkelte ihn an. „Ist es normal, dass ich in eine Schockstarre verfalle, wenn ich auch nur anderthalb Meter über dem Boden bin? Ist es normal, dass mir so schwindlig wird, dass oben plötzlich unten und das Universum falschherum erscheint?!"
Sebastian blickte ihn hilflos an. Das klang wirklich nicht sehr angenehm. „Naja, sonderlich schön ist es nicht. Aber jeder hat etwas, das er nicht ertragen kann. Eine..." Er wollte Schwäche sagen, aber er glaubte nicht, dass Jim dieser Ausdruck gefallen würde. Also ließ er den Ausdruck offen im Raum hängen und glücklicherweise schien Jim ihm das nicht übelzunehmen. Dafür den Rest.
„Du sagst das jetzt, weil du mich beruhigen willst", merkte er. „Aber in Wirklichkeit weißt du gar nicht, wie das ist, oder? Du hast keine... Phobie oder so."
„Blut", entgegnete Sebastian daraufhin unberührt. „Wenn ich auch nur ein paar Tropfen sehe oder diesen metallenen Geruch rieche, wird mir schlecht. Ich bin schon mehrmals in Ohnmacht gefallen, als man mir Blut abgenommen hat."
Jim musterte ihn von oben bis unten. „Du wirkst nicht wie jemand, der wegen Blut ohnmächtig wird."
„Und du nicht, wie jemand, der Panik bei großen Höhen bekommt. Die Menschen sind wohl nie so, wie sie scheinen." Sebastian hob einen Mundwinkel und für einen Augenblick wirkte es fast so, als würde Jim sein Lächeln erwidern, doch dann schnaubte er nur und wandte sich ab.
„Die meisten Menschen sind genauso, wie sie scheinen", sagte er über seine Schulter und dann lief er auf die Notausgangstür rechts von ihnen zu. Ehe Sebastian ihn aufhalten konnte, öffnete er diese einfach - glücklicherweise ging nirgendwo ein Alarm los - und Jim verschwand aus der Halle.
Sebastian blieb verdutzt zurück.
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Wörter: 3470
Lied: Face Down ~ The Red Jumpsuit Apparatus
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Heeey! Das klappt ja gut mit dem pünktlichen updaten xD
Zu meiner Verteidigung: Die Ferien verwirren mein Zeitgefühl.
Apropros Zeitgefühl: Herzlich Willkommen im neuen Jahrzehnt! Ich wünsch euch allen ein gesundes und frohes neues Jahr!
Ich persönlich schreibe in Datumsangaben zwar immer noch öfter als gut ist 2012, aber neues Jahr, neues Glück, schätze ich 😅
Was habt ihr so für gute Vorsätze? Ich habe leider schon welche meiner eigenen am ersten Tag im Jahr 2020 gebrochen, aber ich glaube fest daran, dass ich das noch geregelt bekomme.
Ich hoffe jedenfalls, euch hat das Kapitel gefallen.
Wir lesen uns!
Eure
TatzeTintenklecks.
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