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14. akrasia

akrasia: Mangel an Selbstkontrolle

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Samstag/ Sonntag, Mai

Als Sebastian auf seinem Skateboard an ihrem Treffpunkt ankam, wartete Jim bereits auf ihn.

Er lehnte mit der linken Schulter an der steinernen Wand und blickte Sebastian entgegen, als der von dem Skateboard sprang und es sich unter dem Arm klemmte.

Sebastian hob grüßend seine Hand und als er sich in der richtigen Entfernung zu Jim befand, dass er nicht schreien musste, sprach er Jim an: „Hey, wartest du schon lange?"

Jim schüttelte stumm den Kopf und stieß sich von der Wand ab. In seiner Hand hielt er etwas Längliches und für einen winzigen Augenblick dachte Sebastian, es wäre eine Waffe und Jim hätte ihn nur zu einem weiteren Treffen bei Nacht überredet, damit er ihn endlich permanent loswurde, da bemerkte er, dass es lediglich eine Glasflasche war. Die man ja irgendwie auch als Waffe benutzen konnte - Sebastian schüttelte diesen Gedanken ab.

„Was hast du da?"

Jim versteckte die Flasche sogleich hinter seinem Rücken, als könnte er damit ungeschehen machen, dass Sebastian sie gesehen hatte. „Nichts." Er schwankte kurz und lehnte sich wieder an die Mauer, um sich zu stützen.

Sebastians Miene verfinsterte sich. Ernst blickte er Jim an, der unschuldig zurückblinzelte, weiterhin an den Stein gelehnt. „Sag mir nicht, dass du betrunken bist."

„Bin ich nicht." Um seine Worte zu unterstreichen, schüttelte Jim noch einmal nachdrücklich den Kopf. Die Flasche stieß gegen die Mauer, sodass es klirrte, und Jim fuhr leicht zusammen.

Sebastian seufzte, umkreiste Jim und hatte ihm die Flasche aus der Hand gerissen, ehe Jim überhaupt registriert hatte, was geschah - es war Scotch, wie Sebastian jetzt bemerkte, der ziemlich teuer aussah. Außerdem hatte er auch keinen gerade niedrigen Alkoholgehalt. „Woher hast du den?"

Jim zuckte mit den Schultern und ließ sich an der Wand nach unten gleiten, wo er sitzen blieb und zu Sebastian aufblickte. „Ist das von Bedeutung?"

„Da du minderjährig und ziemlich angetrunken bist, ja." Sebastian lief durch den Tunnel und stellte die Flasche, die zu etwas mehr als einem Viertel geleert war, so weit wie möglich von Jim entfernt ab. „Hat die dir jemand besorgt oder hast du sie geklaut?"

Er sah zu Jim hinüber, der nur erneut mit den Schultern zuckte. Sebastian gab auf. Solange er dafür sorgte, dass Jim nicht noch mehr davon trank, war es wohl sowieso unerheblich, und Jim würde es ihm sicher nicht verraten.

Statt also weiter nachzuhaken, trat Sebastian nur vor sein Graffiti und ließ seinen Rucksack und sein Skateboard neben sich zu Boden gleiten. Er spürte Jims Blick auf seinem Rücken, als er in die Hocke ging, um die Dosen und die Atemschutzmaske hervorzuholen. „Ist alles in Ordnung?", fragte er dabei, als wäre die Frage ganz nebensächlich und als würde er gar keine wirkliche Antwort erwarten.

Die bekam er auch nicht. Als er über die Schulter schaute, war Jims Blick wieder auf die Flasche fixiert. Sebastian gab eine Art Grollen von sich. „Denk gar nicht dran." Er stand auf, schnappte sich die Flasche und stellte sie neben sich, weil er so ganz sicher mitbekam, wenn Jim versuchte, daranzukommen.

Jim verschränkte die Arme und verzog sich in seine Jacke, als wäre die ein Schneckenhaus. „Das ist unfair."

Sebastian schnaubte. „Glaub mir, ich tue dir einen Gefallen."

„Ich will nicht, dass du mir einen Gefallen tust. Ich will mich betrinken."

Sebastian wandte sich wieder der Wand, auf dem sein Graffiti war, zu, um Jim nicht das Gefühl zu geben, als würde er ihn allzu sehr anstarren. „Warum?"

Jim seufzte schwer. „Das verstehst du nicht."

Sebastian bückte sich und wiegte eine der Spraydosen in der Hand. Sie war kühl und beinahe leer; er musste sich bald neue Farbe besorgen. „Ich kann's versuchen."

Ein erneutes Seufzen seitens Jim ertönte. Doch überraschenderweise begann er tatsächlich zu erzählen: „Dieser Tag war schrecklich. Als du weg warst und Mum und Dad wiederkamen, ging dieser blöde Streit weiter, ob ich jetzt weg sollte oder nicht. Ich meine, ich glaube, ich konnte sie überreden, dass ich nicht gehen muss, aber... ich habe mich- ich meine, es fühlt sich scheußlich an, wenn du genau weißt, dass deine eigenen Eltern dich nicht bei sich haben wollen."

Sebastian atmete tief ein und dann wieder aus, weil ihm das Herz ganz schwer wurde ob der Niedergeschlagenheit in Jims Stimme - obwohl er nicht ganz wusste, ob da nicht eher der Alkohol aus Jim sprach.

Bevor Sebastian etwas sagen konnte, fuhr Jim bereits fort: „Und sie sind ja nicht die einzigen, die mich nicht haben wollen. Alle Freunde, die ich je hatte, haben sich von mir abgewandt, weil sie mich nicht ertragen können. Ich kann mich selbst ja kaum ertragen. Aber ich mache das nicht absichtlich, wirklich nicht, es ist manchmal nur einfach... zu viel und dann sage ich Dinge, die ich nicht so meine, oder Dinge, die ich so meine, aber nicht so. Verstehst du?"

Jim holte so laut Atem, dass es im Tunnel widerhallte. Als würde er sich alles von der Seele reden, als würde er nur so frei atmen können, sprudelte er förmlich über vor Worten und Sebastian konnte nur zuhören und so tun, als wäre er nebenbei noch auf sein Bild und nicht nur auf Jims Stimme und seine Verzweiflung, die in Wellen von ihm auszugehen schien, konzentriert. „Ich habe nichts dagegen, allein zu sein. Aber es ist etwas anderes, allein zu sein oder allein zu sein, weil da niemand ist, bei dem man nicht mehr allein sein muss. Und... ich vermisse Harvey, weil ich mit ihm nicht so allein war und weil ich mich andauernd frage, wie es wäre, wenn er noch hier wäre und ob die Dinge genauso schieflaufen würden, oder ob er mir helfen könnte."

Jims Stimme klang mittlerweile gepresst. Es kostete Sebastian alles an Kraft, sich nicht umzudrehen und Jim erneut in den Arm zu nehmen; er hätte es getan, wäre er sich nicht so sicher, dass Jim dann verstummt wäre, denn er wusste, dass Jim diesen Kummer irgendwie loswerden musste und darüber zu sprechen war hoffentlich ein Schritt in die richtige Richtung.

„Du erinnerst mich sehr an ihn, Sebastian. Aber du bist auch irgendwie anders. Ich meine... du bist nett. Nicht, dass Harvey das nicht auch gewesen ist, aber du bist auf eine andere Art nett. Er war mein Bruder. Du bist... nicht mein Bruder."

Sebastian konnte nicht anders, als sich nach Jim umzublicken. Er saß so zusammengekauert da, als würde er sich vor den Schatten um ihn herum fürchten oder als wäre ihm schrecklich kalt, und er sah auf den Boden, während er sprach. „Ich weiß nicht, ob du einfach nur Mitleid hast", fügte Jim an und als Sebastian den Mund öffnete, um zu protestieren, sprach er schnell weiter: „Es ist mir aber egal, glaube ich. Bei dir komme ich mir wenigstens nicht mehr ganz so unbedeutend vor."

Er hielt inne und sah Sebastian für einen Wimpernschlag an, der seinen Blick erwiderte, woraufhin Jim ihn wieder senkte. „Kommst du dir auch manchmal so vor? Als würdest du Dinge anfangen und nie zu Ende bringen? Als würde die Welt nichts für dich bereithalten? Als würde niemand dich auch nur vermissen, wenn du verschwändest, weil du einfach so unbedeutend bist."

Sebastian konnte dem nicht länger zuhören. Er ließ die Dose zurück in seinen Rucksack fallen und drehte sich ruckartig zu Jim um. „Du bist nicht unbedeutend. Jim. Du bist nicht unbedeutend." Er wusste selbst nicht, woher diese Heftigkeit kam, mit der er sprach, aber vielleicht fand sie ihren Ursprung ja in Sebastians stechendem Herzen, das sich förmlich selbst ob Jims Worte in Fetzen riss.

Als er auf Jim zuging und sich vor ihm niederließ, roch er den Alkohol in Jims Atem und ihm wurde wieder ins Gedächtnis gerufen, dass Jim vielleicht im Affekt sprach und es bereuen könnte, das alles gesagt zu haben, was nicht hieß, dass Sebastian seine Worte deshalb weniger abstreiten würde. „Niemand ist unbedeutend, Jim. Du nicht, ich nicht, niemand. Wir sind dazu bestimmt, hier zu sein, und das heißt jeder von uns hat irgendeine Bedeutung für die Welt."

„Das ist Schwachsinn", murmelte Jim halbherzig. Er sah noch immer zu Boden.

„Ist es nicht. Denk doch mal darüber nach. Du bist einer von über sieben Milliarden Menschen weltweit. Du könntest jeder sein, aber du bist du und du lebst dieses Leben und manchmal gibt es Dinge, die dich herunterziehen oder dir das Gefühl geben, nicht richtig dazuzugehören oder keine Bedeutung zu haben. Aber in diesen Situationen ist es deine Bestimmung genau so und genau da zu sein, wie und wo du bist. Wir gehen jeder unseren eigenen Weg und dein Weg ist ganz anders als der aller anderen sieben Milliarden Menschen und du bist einzigartig und das heißt, dass ich mich glücklich schätzen kann, so jemanden wie dich heute bei mir zu haben, weil es dich nur einmal gibt und weil die Chance, dich zu treffen bei eins zu über sieben Milliarden liegt. Also sag mir nicht, dass du unbedeutend bist, weil du nämlich mehr als nur bedeutend bist; du bist diese Nacht hier, bei mir. Du hast dich heute für diesen Weg entschieden. Und das heißt, dass du mir ein bisschen deiner Bedeutung verleihst und deine Einzigkeit noch weiter wächst und dass es, egal, wohin du siehst, keinen anderen wie dich gibt."

Sebastian atmete hektisch ein und aus, hatte bei seiner Rede das Atmen völlig vergessen. Jim hatte mittlerweile den Blick gehoben, sah ihn stumm an und Sebastian erwartete keine Erwiderung, die auch nicht kam, aber er war erleichtert, als er sah, wie nachdenklich Jim aussah und dass er Sebastian für den Bruchteil einer Sekunde sogar kurz anzulächeln schien.

Jims Augen waren so tief, dass Sebastian sich einen Augenblick darin verlor, ehe er sich losriss und zu seinem Graffiti wandte, das als einziger Zeuge neben Jim seinen Gefühlsausbruch mitbekommen hatte. Er wusste selbst nicht, was da über ihn gekommen war. Aber es fühlte sich gut an; es fühlte sich gut an, weil er diese Worte Jim gegenüber verwendet hatte. Weil er so etwas niemand anderem hätte sagen wollen und weil Jim es zu brauchen schien.

Auch Jim hatte auf das Graffiti gesehen. „Wie lange brauchst du noch für dein Bild?"

Sebastian war erstaunlicherweise nicht irritiert von dem Themenwechsel. Er hatte bereits erwartet, dass Jim nicht weiter darauf eingehen würde. Was, wie er vermutete, kein schlechtes Zeichen war.

„Ich glaube, ich könnte heute fertig werden", antwortete Sebastian. Er saß noch immer vor Jim auf dem kalten Boden, aber er konnte sich nicht dazu bringen, aufzustehen.

„Hast du noch andere Bilder?"

Sebastian nickte. „Einige."

„Kann ich sie mal sehen?"

Sebastian linste aus dem Augenwinkel zu Jim, der ihn ebenfalls nicht direkt ansah, sondern weiterhin Sebastians Graffiti mit den Blicken nachzeichnete.

„Ja." Ihm stieg wieder der leichte Geruch nach Alkohol in die Nase, als Jim nickte und sich zurück an die Wand lehnte. „Aber unter der Bedingung, dass du nüchtern bist, wenn ich sie dir zeige."

„Ich bin vollfunktionstüchtig", behauptete Jim verteidigend.

Sebastian drehte sich wieder zu ihm und hob die Augenbrauen, woraufhin Jim den Blick schon beinahe verlegen abwandte. Dann erhob er sich, um sich wieder dem Sprayen zuzuwenden.

So ganz bei der Sache war er nicht. Er spürte Jims Blick wie Sonnenstrahlen auf seinem Rücken brennen, musste immer wieder über Jims Worte nachdenken. Er wollte nicht, dass Jim sich unbedeutend vorkam oder als hätte er keinen Platz in der Welt, als würde sich niemand um ihn kümmern. Sein Herz zog sich zusammen, wenn er auch nur daran dachte, dass Jim so fühlte und gleichzeitig konnte er Jim verstehen, denn es war nicht immer einfach zu leben, aber wenn Sebastian Jim dabei helfen könnte, würde er das ohne zu zögern tun. Weil Jim ihm wichtig war. Auch, wenn er nicht wusste, seit wann. Vielleicht seitdem er Jim von Harper erzählt oder der ihm von seinem Bruder berichtet hatte; vielleicht schon, als er gesehen hatte, wie panisch Jim gewesen war, als er hatte klettern sollen. Oder möglicherweise erst seit gerade, weil seine Rede ihm selbst vor Augen geführt hatte, wie bedeutsam alles sein konnte und wie unwahrscheinlich alles war und wie viel Glück man haben konnte. Er wusste nicht, seit wann oder wieso.

Aber Jim war ihm wichtig.

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Als Sebastian seine Sachen zusammenpackte und sich zu Jim umdrehte, dachte er kurz, dieser wäre eingeschlafen. Doch da öffnete Jim wieder seine Augen und blickte zu ihm hinauf. „Ist es fertig?"

Sebastian folgte Jims Blick zu dem Graffiti und nickte zögerlich. Er war nicht ganz zufrieden - das war er nie - aber Jim schien es zu gefallen. Er legte den Kopf schief und seine Mundwinkel hoben sich leicht während er die Szenerie in sich aufnahm. Menschen streckten sich einer feurigroten Kugel am Himmel entgegen, die aussah wie eine abendliche Sonne, aber nach dem Titel des Bildes (der neue Planet) wohl ein entstehender Planet war. Der Himmel über ihnen war schwarz und von Strahlen verschiedener Farben durchbrochen - in der oberen Ecke rechts hing ein riesiger löchriger Mond, und der farbenfrohe Himmel stand in einem starken Kontrast zu der dunklen Ebene, auf der die Menschen ehrfürchtig ins Licht blickten. Sebastian gefiel die Szenerie - sie war schwer zu deuten und gleichzeitig musste man einfach etwas darin sehen.

Er wandte sich ab und sah Jim auffordernd an, den Rucksack über die Schulter gehangen. „Kommst du?"

Jim schüttelte den Kopf und blieb sitzen. Sebastian runzelte die Stirn.

„Wieso nicht? Es ist schon ziemlich spät." Oder früh. Sebastian meinte, dass die Dunkelheit bereits nicht mehr ganz so undurchdringlich schien.

„Ich will noch nicht gehen. Ich will noch etwas machen."

Vermutlich war es der Alkohol, der seine volle Wirkung entfaltet hatte, aber Jim klang wie ein trotziges Kind und normalerweise hätte Sebastian dafür keine Geduld gehabt, aber in dieser Nacht war es alles ein wenig anders und wenn Jim noch nicht gehen wollte, dann sollte Sebastian lieber bei ihm bleiben, als ihm die Möglichkeit zu geben, sich noch weiter zu betrinken. Oder Schlimmeres.

Also seufzte er nur und sah Jim mit leicht schiefgelegten Kopf an. „Was willst du denn machen?"

Als Antwort deutete Jim nur ans Ende des Tunnels - allerdings zum falschen Ende, da dies nicht der Weg nach draußen, sondern in eine etwa zwanzig Meter tiefe Baugrube mit Stahlgerüst und mit einer Art altmodischen Kran war.

Wie es schien, hatte Jims umnebelter Verstand sich jedoch nicht einfach vertan und dafür das Schlimmere gefunden, wovon Sebastian ihn abhalten wollte: „Ich will klettern."

„Du hast Höhenangst", erinnerte Sebastian ihn, weil das das erste Argument war, welches ihm einfiel und Jim tatsächlich wieder von dieser dummen Idee abbringen könnte. Selbst ohne ein solch überzeugendes Argument würde Sebastian jedoch nicht zulassen, dass Jim in irgendeiner Weise auch nur einen Schritt in Richtung Baugrube machte.

Jim rappelte sich auf und machte einen Schritt Richtung Baugrube. „Dies ist die Nacht, in der Ängste besiegt werden", verkündete er, was nach Sebastians Ermessen ein wenig sehr dramatisch klang und außerdem immer noch eine schlechte Idee war.

„Du bist betrunken", merkte Sebastian also als nächstes an.

Jim wank ab, was ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte. „Nur ein bisschen beschwipst."

„Es kommt nicht in Frage, dass du-", setzte Sebastian an, als Jim plötzlich lossprintete, um ans Ende des Tunnels zu gelangen.

Sebastian fluchte und nahm die Verfolgung auf. Leider hatte seine Überraschung zur Folge, dass er zu spät reagierte und obwohl Jim deutlich langsamer war als er, erreichte er das Baugerüst vor Sebastian und griff nach einem der Drahtseile, die von irgendwo herunterbaumelten und ein wenig zu sehr wie unverdichtete Kabel aussahen.

Irgendwie schaffte er es, sich in seinem angeschwipsten Zustand auf das Gerüst zu schwingen. Was gut war, weil er sonst in die Tiefe gestürzt wäre.

„Verdammte-" Sebastian unterbrach sich. „Komm da wieder runter, Jim!"

Jim lachte nur und kletterte ein Stück weiter herunter.

Von neuem fluchend warf Sebastian seinen Rucksack, den er völlig vergessen hatte, zur Seite und streckte sich über den Rand nach Jim aus, den er sogar erreicht hätte, wäre er nicht vor ihm zurückgewichen und hätte ihn dabei ausgelacht.

Bitte", flehte Sebastian, der sah, wie das Gerüst bei jeder von Jims Bewegungen schwankte. „Ich will nicht, dass du abstürzt!"

Jim erstarrte. Als wäre ihm erst jetzt aufgegangen, dass das geschehen könnte. Sebastian nutzte die Chance, hielt sich an dem Drahtseil fest, beugte sich vor und zog Jim an dem Kragen seiner Jacke und seines T-Shirt zurück in den Kanal. Jim gab ein ersticktes Geräusch von sich - sicher hatte Sebastian ihn mit seiner Kleidung gewürgt, als er ihn im Babykatzengriff festgehalten hatte, aber daran war Jim selbst Schuld.

Als er Jim sicher über den Rand zur Baugrube gezogen hatte, fiel er durch seinen eigenen Schwung beinahe hintenüber, Jim noch immer fest im Griff.

„Lass mich los!", keuchte Jim und schlug ihm gegen die Rippen. Sebastian ließ los.

Sobald die Erleichterung, dass er Jim nicht vom Boden kratzen oder seinen Eltern sagen müsste, wieso Jim sich betrunken klettern gewagt hatte, während Sebastian nichts getan hatte, abebbte, wurde sie schnell von Wut abgelöst. Er hatte große Lust, Jim zu ohrfeigen. Stattdessen erhob er nur die Stimme und starrte Jim fassungslos an: „Was sollte das?! Du hättest sterben können!"

Jim starrte ihn einfach nur an, strich sich über seinen Hals. „Ich hab aufgepasst", sagte er ausweichend, die Stimme ein wenig rau, was Sebastian leidgetan hätte, wäre Jim nicht eben so unverantwortlich und dumm gewesen.

„Du hast überhaupt nicht aufgepasst! Denkst du, ich will, dass du abstürzt?! Das hätte ich mir nie verziehen!" Wenn Sebastian nur daran dachte - er erschauderte.

Jim ließ von seinem Hals ab und starrte zu Boden. „Es tut mir leid", sagte er so leise, dass Sebastian es kaum verstand und gerade als er ansetzte, ihn zu belehren, dass eine Entschuldigung das auch nicht ungeschehen machen würde, fügte Jim an: „Ich wollte einfach keine Angst mehr haben."

Obwohl Sebastian dagegen ankämpfte, schwand seine Wut auf Jim. Sein Blick wurde sanfter. Ganz offensichtlich hatte Jim einen miesen Tag gehabt und außerdem war er nicht mehr in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen, weshalb es unfair wäre, würde Sebastian ihn jetzt zu sehr tadeln. Andererseits sollte Jim selbst in diesem Zustand wissen, wie schrecklich das hätte enden können. Oder vielleicht wusste er es gerade nicht.

Sebastian schüttelte leicht den Kopf, richtete seinen Blick auf Jim, der Sandkörner zu zählen schien. War er eben noch voller Tatendrang gewesen, wirkte er plötzlich völlig kraftlos und als wäre ihm der letzte Funken Energie entzogen worden. Seufzend trat Sebastian etwas näher an Jim heran. Er streckte eine Hand aus, um ihm aufmunternd die Schulter zu tätscheln, erstarrte dann aber in der Bewegung, weil er nicht wusste, ob Jim es schätzen würde, wenn Sebastian ihn jetzt berührte. Er wirkte sehr aufgewühlt.

„Es ist okay, Angst zu haben", sprach Sebastian sanft, seine Wut vollends verraucht. „Du musst niemandem, nicht einmal dir selbst, beweisen, dass du dich nicht fürchtest. Es ist ganz natürlich, es doch zu tun." Sebastian fühlte sich an ihr Gespräch vor der Kletterwand erinnert - doch diese Situation war deutlich ernster. „Nicht alle Ängste müssen besiegt werden, okay? Manche Ängste sichern unser Überleben, unser Dasein. Es ist okay, wenn man nicht alle Ängste überwinden kann."

Jim blickte auf - seine Augen schimmerten verdächtig. Sebastian wusste nicht, ob wegen seiner Worte oder wegen allem, was geschehen war und von dem Sebastian vielleicht gar nichts wusste; irgendetwas musste Jim dazu gebracht haben, den Entschluss zu fassen, seine Höhenangst überwinden zu wollen, und Sebastian wusste selbst, dass Gedanken ungeheuer komplex und wirr sein konnten und er würde niemals herausfinden, wie genau Jim auf diese Idee gekommen war oder warum er die Dinge tat, die er tat und aus welchem Grund. Normalerweise hätte ihn das beunruhigt, aber bei Jim war es in Ordnung, weil Jim eben ein komplexer und wirrer Charakter war und so verhielt er sich auch und irgendwie war es okay, solange Sebastian nicht zu lang darüber nachdachte und er sich weiterhin so... anders in Jims Gegenwart fühlte.

Ich fühle mich anders?, fragte Sebastian sich selbst, weil es ihm erst in diesem Moment aufging, in dem sein Herz noch immer ein wenig zu schnell schlug, obwohl er sich schon beinahe von dem Schrecken erholt hatte. Weil er Jim musterte und jeden einzelnen Schatten auf seiner blassen Haut wahrnahm.

Jim blinzelte ein wenig hektisch. Seine Hände zitterten. Ehe Sebastian es richtig begriff, nahm er Jims kalte Hände in die seinen.

Eine schwarze Strähne fiel Jim in die Augen, als er kurz den Blick auf ihre Hände senkte und dann wieder auf Sebastian richtete.

„Ich will nur, dass du wieder zu dir kommst", fuhr Sebastian fort, als hätte es keine zwei minütige Unterbrechung ihres Gespräches gegeben, weil er sich einmal mehr in seinen eigenen Gedanken verheddert hatte. Beinahe tat er es erneut, weil auch seine Finger wie verheddert mit Jims schienen. Jim hatte den Kopf wieder leicht gesenkt, doch als Sebastian seine Hände kurz drückte, sah er Sebastian wieder ins Gesicht. „Bitte tu so etwas nicht wieder. Nie wieder. Wenn du deine Ängste wirklich unbedingt überwinden musst, dann gibt es weitaus weniger gefährliche Arten. Versuch es lieber damit als über einer zwanzig Meter tiefen Grube, okay?"

Sebastian hob seinen linken Mundwinkel zu so etwas wie einem aufmunternden Lächeln und für den Bruchteil einer Sekunde zuckte auch Jims nach oben. Dann nickte er vorsichtig, als bedurfte Sebastians Aussage vorsichtigem Bedenken.

Sebastians Blick blieb erneut an Jims Augen hängen - Tintenaugen - die in der halbdunklen Nacht, die sie weiterhin wie ein Mantel umgab, noch dunkler und tiefer wirkten. Anfangs hatte er Jims Augen als unheimlich empfunden. Mittlerweile fand er sie nur noch faszinierend. Er kannte niemanden, dessen Augen einen so tiefen Einblick in seine Seele gewährten, ohne auch nur ein winziges Geheimnis daraus preiszugeben. Ein ganzes Universum könnte in Jims Iriden verborgen liegen und Sebastian könnte hineinsehen und es doch nicht bemerken. Sie waren wie schwarze Löcher und Sebastian meinte beinahe, ihren Sog zu spüren.

Jim legte den Kopf schief, ein ganz kleines bisschen. Fragend, neugierig - sah auch er geheime Welten in Sebastians Augen? Sebastian bezweifelte es. Seine Augen waren von einem einfachen Blau, nichts Besonderes, dafür irgendwie kalt.

So wie Jims Hände, die er noch immer hielt. Was ihm erst jetzt aufging.

Er räusperte sich und wollte Jims Hände loslassen. Stattdessen spürte er plötzlich Jims Atem auf seiner Haut.

Sebastian wusste nicht, wer es initiiert hatte. Doch mit einem Mal waren sie sich ganz nah und dann legten sich Jims Lippen auch schon ganz sanft auf die seinen.

Er konnte gerade so ein Seufzen unterdrücken. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass er das gewollt hatte, doch jetzt, wo sie sich so nah, und noch näher, waren, da fragte Sebastian sich, wieso er Jim noch nicht viel eher geküsst hatte. Vielleicht weil er zuvor nie daran gedacht hatte. Ans Küssen, nicht an Jim - an Jim hatte er oft genug gedacht. Und plötzlich machte es auch mehr Sinn, dass Sebastian sich so ruhig und gut in Jims Anwesenheit gefühlt hatte und ihm warm geworden war, als Jim ihn angelächelt hatte.

Machte es Sinn?

Jims Lippen waren leicht rau und kalt, aber alles andere schien plötzlich so warm und Sebastian zog Jim an der Hüfte ein wenig näher an sich heran. Jim war kleiner als er. Er musste sich herunterbeugen, aber ihm war sowieso, als würden seine Knie gleich nachgeben.

Er schmeckte ein wenig Alkohol, als er Jim küsste und für einen winzigen Augenblick fühlte er sich schuldig, aber da fuhr Jim ihm durch die Haare, löste ihre Lippen einen Milimeter voneinander, um Luft zu holen und begann wieder, ihn zu küssen, bevor auch Sebastian dieses Privileg zuteil werden konnte.

Und da war Sebastian alles andere egal.

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Wörter: 3897

Lied: False Confidence ~ Noah Kahan

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Guten Abend :)
Ein ganz besonderes Kapitel für euch an diesem weniger besonderen Tag - oder was war bei euch heute oder auch in letzter Zeit so los?

Wie hat euch das Kapitel gefallen? Ich weiß, das hier ging auf jeden Fall schneller als in einer gewissen anderen Geschichte - was daran liegt, dass dies hier auch eher eine 'Kurzgeschichte' ist. Nach diesem Kapitel werden noch fünf kommen und dann sind wir schon am Ende. Leider. Ich vermisse es immer, Geschichten zu schreiben, wenn ich nicht gerade an einer arbeite, wodurch wohl auch diese Geschichte entstanden ist. Vielleicht (sehr wahrscheinlich) kommt also auch danach noch mehr.

Für alle die, die es noch nicht getan haben: Hört euch das Lied oben an. Es ist wunderschön und irgendwie bedeutet es mir unheimlich viel, weil dieser Text einfach so... Hach, ich weiß auch nicht.

Naja, ich hoffe, wir lesen uns wieder. Konstruktive Kritik und eure Meinung ist gern gesehen 😊

LG
     Tatze.

PS:
Für die, die sich gefragt haben, wie es aussieht, hier das Bild, das Sebastian als Graffiti gesprayt hat:

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