12. duende
duende: die geheimnisvolle Kraft, mit der Kunst einen Menschen tief bewegen kann
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Samstag/ Sonntag, April
Das Geräusch der Rollen von Sebastians Skateboard hallte geisterhaft in den nachtverschleierten Straßen wider, als Sebastian zu dem alten Abwasserkanal fuhr.
Als er hineintrat und niemanden sah, war er, zugegebenermaßen, enttäuscht. Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Es war immerhin eine ziemlich dumme Idee gewesen. Dass Jim keine Lust auf Sebastian hatte, hatte er ja am Samstagnachmittag bewiesen und trotzdem hatte der versucht, sich aufzudrängen, um etwas zu beweisen.
Er hatte Jim nur etwas beweisen wollen. Es war also nicht problematisch. Dennoch war er enttäuscht.
Vielleicht war es ja nicht einmal von Jims seiten aus, dass er nicht gekommen war; vielleicht hatte er den Zettel gar nicht bemerkt. Immerhin hatte Sebastian ihn lediglich unter seiner Tür hindurchgeschoben wie der Feigling, der er war. Oder Jim hatte, aller Unwahrscheinlichkeit zu Trotz, wirklich kommen wollen, es aber nicht geschafft, sich herauszuschleichen. Sebastian konnte sich gut vorstellen, dass seine Eltern mittlerweile besser darauf achteten, ob Jim das Haus verließ, oder nicht. Was Sebastian an seiner Idee zweifeln ließ, weil er Jim noch weiter in Schwierigkeiten bringen könnte. Und sich selbst ebenfalls.
Seufzend ließ Sebastian seinen Rucksack von seinen Schultern gleiten, der klappernd zu Boden fiel. Sebastian steckte sich seine Kopfhörer ein und stülpte sich seinen Mundschutz über. Anschließend stellte er den kleinen Scheinwerfer ein wenig entfernt auf und platzierte ihn so, dass er Sebastians Schatten nicht direkt auf die Wand warf, holte dann die ersten Spraydosen aus dem Rucksack und betrachtete mit leicht zusammengekniffenen Augen sein unvollständiges Werk, ehe er sich daran machte, es fortzuführen.
Die Musik hallte laut in seinem Schädel wider, aber nicht störend, sondern so, dass er die Welt um sich herum vergessen und sich nur aufs Sprayen konzentrieren konnte.
Diese Kombination - die Musik und das Sprayen - waren der Grund, wieso Sebastian die Müdigkeit am nächsten Tag in Kauf nahm. Er wäre vermutlich bereits durchgedreht, hätte er nicht etwas, um diese ganzen Gefühle in seinem Inneren zu kompensieren. So konnte er für einen Moment seine eigene Existenz vergessen, die Ränder seiner Wahrnehmung verschwammen, sodass er nur Farben und Sprühmuster und das zu erreichende Endergebnis vor Augen hatte und es war, als würde die Welt kurz Atem holen, damit Sebastian selbst zu Atem kommen konnte, und als würde das Universum erst weiter existieren, wenn Sebastian seine Arbeit für die Nacht beendet hatte.
In diesen wenigen Stunden alle paar Nächte gab es nur ihn und niemanden sonst und er genoss diese Einsamkeit und die Chance, sich endlich mal nicht zu viele Gedanken zu machen.
Ein Gewicht legte sich auf Sebastians Schulter, riss ihn aus seiner eigenen kleinen Galaxie und ließ ihn so heftig zusammenfahren, dass er fast sein ganzes Bild mit einer ruckartigen Bewegung vermasselt hätte, stattdessen schleuderte er die Sprühdose erschrocken von sich und wirbelte herum.
Er blickte in beinahe schwarze Augen. Bei seiner ruckartigen Drehung waren ihm seine Kopfhörer aus den Ohren gefallen, sodass er nun Jims Begrüßung hören konnte: „Du solltest dich nicht nachts herumtreiben, wenn du so schreckhaft bist."
„Verdammt!", fluchte Sebastian, weil sein Puls noch immer raste und er nichts anderes hervorbrachte. Er bückte sich, um seine Sprühflasche aufzuheben und untersuchte sein Werk dann auf Auswirkungen dieses Zwischenfalls. Glücklicherweise waren die Fehler, die verursacht worden waren, leicht auszubessern.
„Ich hätte schwören können, dass deine Haare eben zu Berge standen."
Sebastian warf Jim einen bösen Blick zu. „Ich hab dich eben nicht gehört."
Er schüttelte die Dose noch einmal, seufzte dann jedoch und ließ sie, noch während er sie wieder anhob, sinken. Dann streifte er sich den Atemschutz ab, damit man ihn besser verstand. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch kommst."
„Naja, es war ja nicht so, als hättest du eine genaue Uhrzeit genannt." Jim verschränkte die Arme und lehnte sich mit der linken Schulter an die Wand - glücklicherweise nicht an den frisch besprühten Teil. „Du hast nur geschrieben, dass du in der Nacht beim Abwasserkanal bist und ich kommen kann, wenn ich mag. Sei froh, dass ich nicht erst in zwei Stunden gekommen bin. Oder zwei Stunden vor dir."
Sebastian musste zugeben, dass er das nicht gut durchdacht hatte. Aber jetzt war Jim hier und Sebastian musste zugeben, dass es ihn freute. Wenn auch auf eine verquerte Art und Weise. „Aber wenigstens mochtest du kommen", bemerkte Sebastian.
„Vielleicht." Was nicht ganz logisch war, weil Jim ja offensichtlich hier war. „Und du wolltest, dass ich komme. Wieso?"
Sebastian hob die Schultern. „Als Gesellschaft?", schlug er vor. Ganz genau wusste er auch nicht, wieso er immer wieder versuchte, sich mit Jim gutzustellen. Wenn Jim ihn nicht ausstehen konnte, dann sollte das so sein. Niemand konnte von allen gemocht werden und Sebastian sollte wirklich aufhören, es immerzu zu versuchen.
Aber das war ja nicht der ganze Grund. Sebastian konnte den ganzen Grund nicht ganz zusammensetzen.
„Und außerdem finde ich, dass wir reden sollten." Sebastian seufzte erneut.
Jim hob unbeeindruckt die Augenbrauen. „Wir reden gerade", stellte er dann fest und Sebastian spürte bereits die Frustration seine Kehle hinaufklettern.
„Du weißt, was ich meine."
„Kann sein." Jims Blick richtete sich auf Sebastians Bild und er kniff leicht die Augen zusammen. „Ich weiß noch immer nicht wirklich, was das darstellen soll. Ich habe Ideen, aber dahinter gekommen bin ich, glaube ich, noch nicht."
Beinahe hätte Sebastian ein weiteres Mal geseufzt, weil Jim einfach das Thema gewechselt hatte, anstatt auf ihn einzugehen, aber er verzieh es Jim, weil er Interesse an seiner Kunst zeigte. Er trat einen Schritt zurück und blickte aus einem weiteren Winkel auf das Graffiti. „Ist nicht von mir", erklärte er und betrachtete die dunkle Ebene, auf der menschliche Silhouetten nach einer Sonne (die noch nicht ganz fertig war) zu greifen schienen und hinter der Lichtstrahlen in den unterschiedlichsten Farbtönen - von rot bis blau - hervorbrachen und einen schwarzen Himmel zerrissen. „Es heißt »Der neue Planet«. Es ist ein Werk von Konstantin Yuon, einem russischen Maler. Ich fand es... faszinierend."
Er sah Jim aus dem Augenwinkel nachdenklich nicken. „Interessierst du dich für Kunst?", wollte er nach einer Weile des Schweigens wissen, in der sie das unfertige Graffiti betrachtet hatten.
Sebastian legte den Kopf abwägend zur einen und zur anderen Seite, nickte dann. „Schon. Aber nur für bestimmte Kunst. Die, die sich gut auf alten Abwasserkanälen macht. Die... hervorsticht."
Er redete nicht oft mit irgendjemanden über seine Graffitis. Eigentlich mit niemandem. Einige seiner Freunde sprayten zwar auch, aber mehr als einige krakelige Schriftzüge und (glücklicherweise) schwer erkennbare Genitalien hatten sie nicht in ihrem Repertoire. Für sie war Graffiti nicht dasselbe wie für Sebastian - sie mochten es einfach, Häuser zu beschmieren, ganz besonders, wenn dort jemand wohnte, den sie nicht leiden konnten. Sebastian war nur einmal bei einem dieser Streifzüge dabeigewesen und danach nie wieder. Er sagte zwar nichts, aber das, was seine Freunde taten, gefiel ihm nicht. Sie waren der Grund, wieso er lieber an abgelegenen Ort sprühte, dort, wo eigentlich niemand etwas von seiner Kunst sehen konnte. Genau das wollte Sebastian nämlich: Man sollte nicht daran vorbeilaufen und an die bechmutzten Flächen und die Buße denken, die die Sprayer zahlen sollten. Man sollte zufällig darüber stolpern, sich wundern, dass manche Wände mehr als nur unlesbare Schriftzüge schmückten, und sich fragen, wer sich die Mühe gemacht hatte, nächtelang seine Kunst an einem Ort zu erschaffen, an dem sich kaum jemand verirrte. Man sollte länger darüber nachdenken können - und deshalb suchte Sebastian Orte, an denen die Hässlichkeit vorherrschte, um zu beweisen, dass aus ihr auch etwas Schönes blühen konnte.
„Meine Mum ist Kunstdozentin an der Uni", erklärte Sebastian, obwohl er keine Ahnung hatte, ob das Jim überhaupt interessierte. „Sie nimmt mit ihren Schülern oft irgendwelche Kunstwerke durch, analysiert sie und so weiter. Manchmal lässt sie ihre Ordner herumliegen und da sind die Kopien dieser Bilder drin. Davon lasse ich mich inspirieren, wenn man es so will."
Jim trat langsam neben ihn. Ohne ersichtlichen Grund. Sebastian spannte sich deshalb ein wenig an, bereitete sich auf das Schlimmste vor. Doch Jim stand einfach nur neben ihm und ließ seinen Blick erneut über das Bild schweifen.
Das schmeichelte Sebastian ein wenig, denn eigentlich hätte Jim sich schon sattsehen können, immerhin hatte er es bereits in der Nacht, in der er weggelaufen war, angesehen. Aber Jim betrachtete es weiterhin wie beim ersten Mal. Irgendwie bewundernd und fasziniert. Sebastian wurde warm vor Verlegenheit, aber es war eine angenehme Art der Verlegenheit, eine, in der Stolz mitschwang.
„Du bist gut", befand Jim. Jetzt sah er zur Seite, Sebastian in die Augen. Sebastian konnte nicht so richtig wegsehen, weil Jims Augen einfach so etwas an sich hatten, das ihn zu verschlingen schien, ihm Schauder über den Rücken jagte und ihn festhielt, gefangen in schwarzer Tinte.
Jetzt, wo er darüber nachdachte, schien Jim nur aus hellem Papier und dunkler Tinte zu bestehen. Vielleicht war es das, was ihn an Jim nicht losließ. Vielleicht fand er deshalb, dass er gut aussah. Er erinnerte Sebastian an eines dieser Kunstwerke, das man Wochen ansehen konnte, obwohl es simpel war, und aus dem man doch nicht schlau wurde.
Jim war es, der den Blickkontakt brach. Sebastian war froh darüber, denn er wollte gar nicht erst versuchen, Jim zu entschlüsseln und ihn noch länger anstarren.
„Wie lang machst du das schon?"
Jim trat an ihm vorbei an die gegenüberliegende Wand und ließ sich daran zu Boden gleiten; nun saß er fast an demselben Platz wie an dem Tag, an dem Sebastian ihn hier nach langer Suche endlich gefunden hatte.
Sebastian griff nach einer neuen Sprühdose und überlegte dabei mit leicht gerunzelter Stirn. „Vier Jahre, ungefähr. Anfangs war ich wirklich miserabel, aber irgendwann hatte ich den Dreh raus und mittlerweile geht es nur bergauf." Sebastian stülpte sich den Mundschutz wieder über und sprach dann mit leicht gedämpfter Stimme, während er ansetzte, weiter zu sprühen: „Meine erste Freundin, Anthea, hat es mir beigebracht. Sie war ein ziemliches Genie. Sie konnte unter einer Stunde ein wahres Meisterwerk zaubern - an Schulen, Mauern in Parkanlagen oder der heruntergekommenen Garage vom Nachbarn - und sie wurde nie von der Polizei erwischt. Ich zwar auch noch nicht, aber ich spraye auch keine vier Meter über dem Boden."
„Weiß deine Mutter, wohin du dich immer schleichst?"
Sebastian prustete in seinen Mundschutz und drehte sich zu Jim. „Machst du Witze?! Sie würde mir den Hals umdrehen. Oder schlimmer: Sie wäre total begeistert! Am Ende würde sie verlangen, mich zu begleiten."
Jim hatte seinen Kopf an die Steinwand gelehnt und amüsiert die Augenbrauen gehoben. Er saß zur Hälfte im Dunkeln, sodass unheimliche Schatten sich über seine Haut schlängelten und den Eindruck eines lebendigen Kunstwerkes vertieften. „Bekommt sie denn nicht mit, dass du weggehst?"
Sebastian hob die Schultern. „Vermutlich schon. Aber sie sagt nichts. Nicht, dass es ihr egal wäre - meine Mutter ist so ziemlich die fürsorglichste Frau überhaupt - aber ich denke, sie weiß, dass ich ihr davon erzählen würde, würde ich es wirklich wollen. Vermutlich denkt sie, ich treffe mich mit Freunden."
„Oder mit deinem Freund." Jim hob eine Augenbraue und Sebastian verzog ganz leicht das Gesicht und wandte sich wieder ab, weil er wusste, dass Jim über Harper sprach und er nicht über Harper sprechen wollte. Nicht jetzt, wo das Gespräch sich bisher in seichten Gewässern bewegt hatte.
„So einen Fehler mach ich nicht nochmal", betonte Sebastian mit fester Stimme.
Danach war es eine Weile still, während Sebastian weiter sprühte. Er wagte es nicht, seine Musik wieder einzuschalten, denn vielleicht sagte Jim ja doch noch etwas und obwohl er manchmal von Dingen anfing, die ein heikler Punkt für Sebastian waren, wollte er dies dann nicht verpassen. Vielleicht war Sebastian ein wenig vereinsamt. Vielleicht war es, weil es mitten in der Nacht war und nur in diesem Kanal helles Licht herrschte und es so symbolisch war - wie ein Licht am Ende des Tunnels.
„Wie oft kommst du her?"
Es war beinahe peinlich, wie erleichtert Sebastian war, dass Jim ihr Schweigen tatsächlich brach. Vielleicht brauchte er einfach jemanden zum Reden. Und vielleicht genoss er es, wie die Stimme eines lebendigen Kunstwerkes von den Wänden widerhallte und ihnen eine völlig neue Bedeutung innewohnen ließ. Vielleicht nahm Sebastian Jim hier anders wahr, weil die Kunst hier sowieso am lebendigsten zu sein schien.
Er erwischte sich dabei, dass er sich fragte, ob auch Jim ihn hier anders sah. Ob auch Jim seine Umrisse deutlicher wahrnahm, seine Ecken und Kanten, sein Farbspektrum, die Schatten und das Licht.
Oder vielleicht war Jim gelangweilt und fing deshalb erneut ein Gespräch mit Sebastian an.
Sebastian schüttelte leicht den Kopf und fokussierte sich wieder auf sein Graffiti.
„Meistens spraye ich, wenn mir alles zu viel wird", erklärte er, kniff konzentriert die Augen zusammen und fuhr eine Kontur noch einmal mit einer dunkleren Farbe nach. Seine Stimme klang weiterhin gedämpft hinter dem Atemschutz und eine seiner blonden Strähnen fiel ihm bei jeder Bewegung in die Augen, doch er fixierte sich nur auf das Bild, das er zu schaffen versuchte.
Er spürte Jims Blick auf sich ruhen.
„Man kann gut abschalten, wenn man sich nur auf eine Sache konzentriert. Naja, eigentlich sind es viele Sachen: die richtige Farbgebung, die Entfernung, von der man sprüht, der Grundriss, die Details, Schatten, Tiefe..." Sebastian hielt inne. Dann drehte er sich zu Jim um, der ihm entgegenblickte und lächelte entschuldigend, was dieser vermutlich hinter der Maske nicht sah. „Tut mir leid, wenn ich dich langweile, aber-"
„Tust du nicht", unterbrach Jim ihn und Sebastian blinzelte überrascht ob dieser sofortigen Entgegnung.
Zögerlich stand Jim wieder auf, trat näher und blickte auf Sebastians Rucksack nieder, der randvoll mit Spraydosen und Schablonen war. „Hilft es dir wirklich, dich zu entspannen?"
Sebastian lächelte erneut, während er beobachtete, wie Jim eine der Spraydosen nahm und sie nachdenklich in der Hand wiegte.
„Ja, ziemlich. Es ist eine willkommene Abwechslung." Dann schnaubte er und wandte sich wieder seinem Bild zu. „Nur leider wirkt es sich nicht gerade positiv auf meine Noten aus, wenn ich abends oder mitten in der Nacht losziehe, um zu sprayen."
Jim trat nun neben Sebastian, folgte jeder Bewegung von Sebastians Hand mit seinen Blicken. „So schlimm?"
Sebastian hob die Schulter. „Ich mache meinen Abschluss, aber meine Noten sind schlechter denn je." Er seufzte. „Sieht nicht gut für mich aus."
Daraufhin entgegnete Jim nichts, beobachtete nur schweigend wie das Graffiti vor ihm durch Sebastians Hand immer detailreicher und farbenfroher wurde. Sebastian konzentrierte sich ganz aufs Sprayen, versuchte den Druck, der auf seinen Schultern lastete, zu vergessen, lebte im Hier und Jetzt und wünschte sich, er müsste nie wieder woanders als hier sein. Jims Anwesenheit störte ihn noch immer nicht - im Gegenteil, es war eigentlich ganz angenehm, nicht allein zu sein. Außerdem war Jims Präsenz, im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten, ruhegebend und irgendwie freundlich.
Sebastian hatte fast das Gefühl, dass seine Kunst heute besser aussah als an anderen Tagen.
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Als er schließlich zusammenpackte, war die Nacht so weit vorangeschritten, dass sie wohl bald enden würde, und Jim hatte sich wieder hingesetzt und wirkte nicht so, als wollte er alsbald aufstehen.
Sebastian wollte eigentlich auch noch nicht gehen. Nach ihrem sehr kurzen Gespräch über Sebastians schulische Leistungen hatten sie immer nur kurz wenige Worte gewechselt, aber es hatte Sebastian gefallen und ihm noch eine andere Beschäftigung gegeben als das Sprayen. Ihre Gespräche waren weder tiefgründig noch sonderlich tiefgreifend gewesen und so hatte Sebastian sie als ziemlich angenehm empfunden.
Dennoch, es wurde bald Morgen und Sebastian wollte nicht, dass Jim wegen ihm in Schwierigkeiten geriet. Denn am Tage würden seine Eltern ihn viel eher bei seinem Einstieg ins Haus entdecken.
Sebastian zeigte mit dem Kopf in Richtung Kanalausgang. „Ich bring dich noch nach Hause."
Jim verdrehte nur die Augen und stand dann wie in Zeitlupe auf. „Danke, aber ich bin schon ein großer Junge und kann ganz gut allein laufen." Wäre Jim nicht immer so sarkastisch, würden Gespräche mit ihm vielleicht öfter leicht fallen. Andererseits fand Sebastian es gut, dass Jim nicht so darauf bedacht war, was er sagte, wie Sebastian, denn wenn sie beide dies wären, könnten ihre Gespräche weitaus weniger flüssig und eher peinlich werden.
„Das weiß ich. Aber ich fühl mich schlecht, wenn ich dich allein nach Hause schicke."
Jim verdrehte erneut die Augen. Doch entgegen Sebastians Erwartungen protestierte er nicht noch einmal. „Gut. Dann werde ich deinem Helfersyndrom nicht im Weg stehen."
„Wie gnädig von dir."
Gemeinsam verließen sie den Tunnel; Sebastian hatte sein Skateboard unter den Arm geklemmt und seinen Rucksack über der Schulter hängen und Jim hatte die Arme um seinen schmächtigen Körper geschlungen und die Schultern hochgezogen.
Sebastian fiel auf, dass Jim nur eine dünne Strickjacke trug. „Ist dir kalt?"
„Nein." Jim biss die Zähne zusammen und wich ein Stück von Sebastian ab. Normalerweise hätte Sebastian Jim jetzt seine Jacke angeboten, aber zum einen würde Jim ihm dafür sicherlich den Kopf abreißen und zum anderen wäre es dann zu sehr wie ein Date. Aber es war kein Date. Glaubte er. Ein Date war etwas anderes: schicke Klamotten, teures Essen in einem Restaurant, abends und nicht um drei Uhr nachts.
Ehe Sebastians Gedanken sich verfingen, fragte er Jim: „Wie kommst du immer aus dem Haus heraus, ohne, dass jemand es bemerkt?"
„Würde ich dir das sagen, könntest du es meinen Eltern sagen und dann könnte ich meine Freiheit völlig vergessen."
„Beim ersten Mal musst du aus dem Fenster geklettert sein", merkte Sebastian an, der sich an das leere Zimmer und das offene Fenster erinnerte. Er biss sich nachdenklich auf die Lippe. „Wie geht das, wenn du Höhenangst hast? Letztes Mal warst du wie gelähmt, als du nur zwei Meter in der Luft hingst."
„War ich gar nicht", widersprach Jim halbherzig. Einen Moment lang schien er zu überlegen. „Das ist etwas anderes. Vor meinem Fenster steht ein Baum und ich muss nur einen Meter springen, um ihn zu erreichen. Normalerweise würde ich das nicht tun. Aber ich mache es nicht anders seit ich ein Kind bin. Früher bin ich sogar immer auf dem Baum herumgeklettert. Ich kenne den Baum quasi. Wenn der Schwindel wirklich zu groß ist... kann ich immer noch die Augen schließen und so herunterklettern."
Sebastian nickte verstehend, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wie jemand mit geschlossenen Augen klettern sollte. Gerade als er ansetzen wollte, erneut etwas zu sagen, vibrierte sein Handy in seiner Jackentasche. Stirnrunzelnd zog er es hervor und sah auf das Display, wo ihm eine neue Nachricht angezeigt wurde.
Sebastian musste sie nur kurz überfliegen, sperrte sein Handy anschließend wieder und steckte es schnell weg, als würde er es so ungeschehen machen können, dass er den kurzen Text gelesen hatte; seine gute Laune war gleich wieder wie verflogen.
'Treibst du dich wieder rum? Lust auf ein Treffen? ;) '
Nein, Sebastian hatte sicher keine Lust auf ein Treffen. Er wollte Harper einfach vergessen und der sollte das endlich akzeptieren und ihn in Ruhe lassen.
„Wieso schreibt er dir?" Jim sah aus dem Augenwinkel zu ihm herüber. Er musste mitgelesen haben - es überraschte Sebastian nicht, dass der Dunkelhaarige seine Privatssphäre noch immer nicht akzeptierte.
„Ich weiß es nicht. Das geht schon seit ein paar Wochen so. Seit wir uns an der Bushaltestelle wieder getroffen haben." Sebastian begann, einen Kieselstein vor sich herzukicken.
„Schreib ihm doch, dass er dich in Ruhe lassen soll", riet Jim, aber Sebastian schüttelte schnell den Kopf.
„Das kann ich nicht."
Sebastian konnte Jims Verwirrung deutlich an seiner gerunzelten Stirn und seinen leicht zusammen gepressten Lippen ablesen. Er konnte es verstehen.
„Wieso kannst du das nicht? Willst du doch nicht, dass er dich in Ruhe lässt?"
„Doch!" Sebastian sah sich wachsam um, als er bemerkte, dass seine Stimme vielleicht ein wenig zu laut durch die leeren Straßen hallte. Mittlerweile waren sie wieder auf einer Straße inmitten eines Wohngebiets unterwegs und Sebastian wollte ungern, dass jemand sie als verdächtig empfand und die Polizei rief. Oder ihrem Gespräch lauschte. Er senkte seine Stimme wieder, als er weitersprach: „Aber es würde nicht funktionieren. Du kennst Harper nicht. Er würde- er würde es als eine Art Zeichen sehen, wenn ich ihm antworte. Und dann würde er mich erst recht nicht in Frieden lassen."
„Ich verstehe es nicht ganz", gab Jim zu und Sebastian dachte, er würde noch über seine Erklärung sprechen, aber offenbar war Jim bereits zwei Themen weiter: „Was hat Harper so Schlimmes getan? Gut, er scheint ein wenig besessen zu sein, wenn er dir immer noch schreibt, aber..."
Jim ließ den Satz unvollendet, als wüsste auch er nicht, was dem hinzuzufügen war.
Sebastian seufzte. Seinen Kieselstein hatte er vor drei Schritten versehentlich in einen Garten gekickt. Jetzt konnte er nur auf den dunklen Asphalt starren, der von einigen golden leuchtenden Straßenlaternen erhellt wurde. „Ich-" Sebastian unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich darüber reden will..." Wieder hielt er inne. „Das heißt, eigentlich wäre es eine Erleichterung darüber zu reden, aber ich weiß nicht, ob ich es kann."
Er erwartete beinahe, dass Jim enttäuscht sein würde. Doch der Jüngere richtete den Blick nur nach vorn und sagte: „Okay."
Das, was Sebastian gesagt hatte, stimmte. Es wäre gut, darüber zu reden. Weil er mit noch niemandem darüber geredet hatte; weil seine Mutter das meiste selbst erraten hatte und seine Freunde nur wussten, dass er einige Zeit lang bei seinem festen Freund gewohnt hatte, sie sich dann aber wieder getrennt hatten. Manchmal wollte Sebastian mit jemandem darüber reden. Weil er von Zeit zu Zeit das Gefühl hatte, jemand würde seine Hand um Sebastians Kehle legen und zudrücken und weil alles, was er tat, so irrational schien: Er sah sich zu oft um, er senkte seine Stimme bei Telefongesprächen so sehr, dass man ihn am anderen Ende der Leitung kaum verstand, er musste sich manchmal regelrecht dazu überwinden, die Tür zu öffnen, wenn es klopfte, er zuckte zusammen, wenn jemand die Stimme erhob oder eine ruckartige Bewegung machte und er verstand sich bestens darauf, sich selbst das Leben zur Hölle zu machen, weil er zu viel nachdachte und sich selbst für alles, das schiefging, die Schuld gab.
„Harper und ich haben uns auf der Arbeit kennengelernt", fing Sebastian irgendwann an, ohne es richtig mitzubekommen und ohne sein Einverständnis zu diesen Worten zu geben. Seine Zunge kümmerte das wenig, denn sie schien jetzt gelockert und so sprudelte es geradezu aus ihm hervor, während Jim langsamer wurde und ihn von der Seite musterte: „Er war nett, aber ich glaube, ich wäre nie mit ihm ausgegangen, hätte er mich nicht andauernd nach einem Date gefragt. Irgendwie ging es dann ganz schnell und ich bin zu ihm gezogen. Es war dämlich; wir kannten uns gerade zwei Monate, aber irgendwie hat Harper mich dazu überredet und ich fand es... aufregend, so selbstständig zu sein."
Einige der Straßenlaternen waren ausgefallen, sodass Sebastian und Jim kurzzeitig in der Dunkelheit weiterliefen. Sebastian erschauderte leicht. Er wusste nicht, wer sich wem genähert hatte, aber plötzlich lief er ein wenig dichter neben Jim. Seine Präsenz beruhigte Sebastian, sodass er weiterreden konnte: „Es lief von Anfang an nicht sonderlich gut, aber ich dachte, das wäre eben so, wenn man noch nicht lang zusammen ist und das man sich nur aneinander gewöhnen muss. Aber es wurde nur schlimmer."
Sebastians Stimme war belegt und er räusperte sich, um nicht ganz so erbärmlich herüberzukommen. „Es fing damit an, dass er meine Nachrichten las. Dann wollte er immer mitkommen, wenn ich mich mit Freunden traf. Irgendwann sollte ich gar nicht mehr mit irgendwem außer ihm irgendwohin. Zu der Zeit war ich ziemlich verliebt in ihn, ich glaube, darüber hätte ich hinwegsehen können. Aber wir haben uns auch oft gestritten. Er sagte immer, es wäre meine Schuld, aber eigentlich fing er jedes Mal damit an. Er hat mich beschimpft und erniedrigt und-" Sebastian hielt inne, bemerkte beschämt, dass seine Augen brannten und war froh über die spärliche Beleuchtung. Er fragte sich, ob er weiterreden sollte, aber eine fremde Macht übernahm diese Entscheidung für ihn und er fuhr fort: „-und es war immer meine Schuld, verstehst du? Er wollte mich nicht anschreien, aber ich hätte nicht so vorlaut sein sollen; er hat es nicht so gemeint, wie er mich genannt hat, aber ich sollte zugeben, dass ich ihn provoziert hätte. Er hat gesagt, dass ich froh sein kann, dass ich ihn hätte, weil ich niemand anderen finden würde, der mit mir zurechtkommen würde. Ich habe ihn trotzdem geliebt. Trotz der Beleidigungen und dieser nie endenden Manipulation - oder vielleicht gerade deshalb. Ich habe ihm geglaubt. Manchmal tue ich es noch immer."
„Das solltest du nicht glauben. Es ist nicht wahr." Beinahe wäre Sebastian zusammengefahren, weil Jims Stimme so fremd klang - so sanft und verständnisvoll und einfühlend und überhaupt nicht sarkastisch.
Sebastian holte tief Luft. Er wusste nicht, ob er wirklich froh war, dass er sich die Sache von der Seele geredet hatte. Es fühlte sich noch immer an, als wäre irgendwas in seiner Brust verschoben und würde nun sein Herz zerquetschen und seinen Lungen jeden Atemzug erschweren. Aber Jims Ton half. Die Sanftheit darin legte sich um Sebastian wie eine warme Decke. Und er sagte nicht, dass es ihm leidtat, was irgendwie auch half, weil Sebastian sich selbst schon genug bemitleidete.
Sie gingen einige Minuten schweigend weiter. Es war gespenstisch still und während Jim federleicht auftrat, hallten Sebastians Schritte in der ganzen Straße wider. Ein leichter, kühler Wind hatte eingesetzt und ließ Jim neben ihm zittern und es juckte Sebastian in den Fingern, seinen schmächtigen Körper in seiner eigenen Jacke einzuwickeln, aber als hätte Jim seine Gedanken vernommen, zog er die Schultern noch ein wenig mehr an und biss die Zähne zusammen, bis das Zittern kaum noch wahrnehmbar war.
„Sebastian?", fragte Jim in die Stille hinein und Sebastian bemerkte, wie seltsam sein Name aus Jims Mund klang und dass er ihn seit geraumer Zeit aus dem Augenwinkel anstarrte und Jim das sicherlich bemerkt hatte, was peinlich war, weil Sebastian selbst es nicht bemerkt hatte.
Sebastian nickte und richtete seinen Blick nach vorn. Auch er fröstelte nun ein wenig.
Jim sprach nicht sofort, als müsste er sich erst überlegen, wie er seine Worte am besten zurechtlegen sollte. Schließlich kam heraus: „Sebastian, wurde Harper je gewalttätig? Also körperlich?"
Und auf diese Frage wollte Sebastian nicht antworten. Konnte nicht. Also presste er nur den Kiefer zusammen und tat so, als hätte Jim nie eine Frage gestellt.
Vielleicht war keine Antwort Jim Antwort genug, denn er hakte nicht weiter nach.
Gemeinsam bogen sie wenig später in die Straße ein, in der Jim wohnte. Jim blieb einige Meter hinter der Abzweigung stehen und Sebastian tat es ihm automatisch gleich.
„Ich denke, von hier aus schaffe ich es auch allein. Außerdem sieht uns hier niemand."
Für einen winzigen, dummen Moment stolperte Sebastians Herz, ehe es sich wieder fing.
Natürlich wollte Jim nicht, dass seine Eltern sahen, wie er die Straßen entlanggeisterte - obwohl es unwahrscheinlich war, dass sie um diese Uhrzeit noch wach waren und ihn durch die Fenster sahen. Aber es war eben besser kein Risiko einzugehen. Das wollte auch Sebastian nicht.
Jim räusperte sich leicht und er sah schon beinahe verlegen aus. Er hob seine Hand, als wollte er Sebastians schüttelten, ließ sie dann jedoch wieder sinken, verschränkte sie mit seiner anderen hinter seinem Rücken und blickte Sebastian schließlich einfach nur an. Sebastian sah zurück. „Ich gebe zu, das war gar nicht so schlimm wie gedacht. Vielleicht... habe ich mich in dir geirrt. Ich schätze... naja, danke, dass du mich eingeladen hast."
Jim stotterte schon beinahe und irgendwie genoss Sebastian es; nicht auf gemeine Art und Weise. Aber in dieser Nacht hatte Jim bereits so viele Facetten einer Persönlichkeit gezeigt, die Sebastian nicht kannte und die er gern, Bruchstück für Bruchstück, kennenlernen wollte. Und er mochte es, sie kennenzulernen. Sehr sogar.
„Du bist jederzeit wieder eingeladen", versprach Sebastian weiterhin lächelnd und kurzzeitig konnte er das Gespräch über Harper aus seinem Gedächtnis verdrängen, weil der Rest dieser Nacht ziemlich gut gewesen war.
„Ich lass es mir durch den Kopf gehen." Jim lächelte ihn tatsächlich an und ehe Sebastian es sich versah, wurde sein eigenes Lächeln breiter, um Jims zu erwidern.
Mittlerweile war Sebastian wärmer - der Wind hatte nachgelassen.
Jim lief zu seinem Haus und Sebastian wartete und beobachtete jeden seiner Schritte bis er an dem Gartentor angelangt war und Sebastian kurz zuwinkte. Dann verschluckte ihn die Dunkelheit des Gartens.
Sebastian verharrte noch einen Moment länger auf der Stelle, sah zum Haus der Moriartys, das genauso schlief, wie eigentlich jeder in dieser Straße und doch wirkte es anders. Vielleicht, weil Sebastian es kannte. Oder vielleicht, weil er wusste, dass Jim gerade dabei war, wieder hinein zu schleichen und als einziger noch wach sein würde. Vielleicht weil es durch die finsteren Schatten wie der richtige Wohnort für ein lebendiges Kunstwerk aus Tinte und Weiß zu sein schien.
Schließlich riss Sebastian sich von diesem Anblick los und machte sich selbst auf den Heimweg. Ihm war wieder kalt.
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Wörter: 4755
Lied: Turn It Off ~ Paramore
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Okay, ich habe zwar gesagt, dass ich das zweite Kapitel innerhalb einer Stunde veröffentlichen würde, aber so richtig geklappt hat das nicht. Das lag jetzt nicht daran, dass ich so lang gelernt habe (nach ungefähr zehn Minuten habe ich aufgegeben), sondern daran, dass My Chemical Romance eine Live-Preview gestartet hatte und da natürlich alles stehen und liegen gelassen wird. Und die restlichen Stunden lang habe ich mich einfach gefreut xD
Ich würde jetzt liebend gern darüber schwärmen, will euch aber nicht nerven und werde morgen stattdessen meinen Freunden damit in den Ohren liegen 😇
Ich wünsche eine gute Nacht! ❤
LG
Tatze
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