10. dern
dern: geheim, versteckt, dunkel; auch auf 'versteckte' Gefühle bezogen - d.h. Trübsinn, Kummer, etc.
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Mittwoch, April
„Sie wissen, dass das nicht so weitergehen kann, richtig, Sebastian?"
Sebastian mochte Ms Attah wirklich. Sie war immer geduldig und freundlich und sie fragte Sebastian jeden Tag, wie es ihm ging. Auch, wenn dies vermutlich nur aus Höflichkeit geschah, wusste Sebastian es wirklich zu schätzen.
Außerdem schien sie die einzige Lehrerin zu sein, die noch in irgendeiner Art und Weise an Sebastian glaubte. Obwohl er die Englischklausur, für die er zwei Wochen beinahe durchgehend gelernt hatte und deshalb nicht einmal Zeit fürs Babysitten bei den Moriartys gehabt hatte, erneut verhauen hatte. Jedenfalls hatte Ms Attah ihm das soeben mitgeteilt. Und diesmal wollte sie offenbar wirklich mit seiner Mutter sprechen.
„Ich weiß", antwortete Sebastian, den Blick auf seine ineinander verschränkten Hände in seinem Schoß gesenkt. Seine Lehrerin klickte unruhig mit ihrem schwarzen Kugelschreiber, den sie immer und überall dabei hatte und der Sebastian in diesem Moment ziemlich wahnsinnig machte.
„Ich weiß, dass Sie ein kluger junger Mann sind, Sebastian. Aber ich verstehe nicht, wie es sein kann, dass Ihre Noten sich noch immer nicht gebessert haben. Ich weiß, dass Sie sich Mühe geben. Also muss es an etwas Anderem liegen." Ms Attah besaß diesen einen Blick, der Sebastian zu durchleuchten, ihm die Gedanken aus dem Verstand zu klauben schien; ein Blick, der ihm Ungehagen bescherte und ihn gleichzeitig ruhig werden ließ, weil er das Gefühl bekam, dass wenigstens sie etwas mit seinen Gedanken anzufangen wusste.
Als Sebastian auf ihre Bemerkung nicht antwortete, seufzte sie und strich sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. „Ich denke, es wird Zeit, dass ich wirklich mal mit Ihrer Mutter rede. Ich weiß, dass Sie das nicht wollen. Aber Sie machen bald Ihren Abschluss und wir haben schon zusammen versucht, Ihre Leistung zu steigern. Wir werden weitere Hilfe brauchen, um das zu schaffen."
Sebastian gab eine Art zustimmendes, unwilliges Brummen von sich.
„Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich sage, dass ich Ihre Mutter lieber anrufen möchte. Bisher haben Sie es immer gut hinbekommen, allen anderen Formen der Kontaktaufnahme entgegenzuwirken."
Sebastian biss sich auf die Lippe und dachte an die ganzen abgefangen E-Mails und Briefe und daran, wie oft er seiner Mutter Termine mit Lehrern verschwiegen und stattdessen Ausreden, wieso sie nicht konnte, erfunden hatte.
„Sebastian, ist das in Ordnung für Sie?"
Erstmals blickte Sebastian auf und nickte kurz. Obwohl es ganz und gar nicht in Ordnung war - seine Mutter hatte bereits genug Sorgen.
Ms Attah musterte ihn aus ihren dunklen, warmen Augen und seufzte schließlich erneut. „Gut, Sie können gehen, Sebastian. Ihre Mutter werde ich erst heute Abend kontaktieren. In Ordnung?"
Sebastian biss die Zähne zusammen und ruckte erneut mit dem Kopf. Dann stand er ebenso ruckartig auf, murmelte ein „Auf Wiedersehen" und verließ den Raum, noch bevor seine Lehrerin antworten konnte.
Auf dem Weg zur Tube stellte er die Musik in seinen Kopfhörern so laut es ging, um seine Gedanken zu übertönen.
Dieses Mal hatte er sein Skateboard nicht dabei, weshalb er von der Station aus, nachdem die U-Bahn angekommen war, zum Haus der Moriartys laufen musste. Somit hatte er noch mehr Zeit, darüber nachzudenken, was in letzter Zeit alles schiefgelaufen war: Zum einen hatte er ungefähr sieben Arbeiten geschrieben (wovon vielleicht zwei gut gelaufen waren, was zu dem Gespräch mit Ms Attah geführt hatte) und zum anderen hatte seine Mutter ihm vor einer Woche von dem baldigen Besuch seines Bruders im Mai erzählt, was dafür gesorgt hatte, dass Sebastian noch nervöser und unruhiger als sonst war. Desweiteren ließ auch Harper weiterhin nicht locker und jede seiner Nachrichten zerrte an Sebastians Nerven und es kostete ihn alles an Überwindung, seinem Ex-Freund nicht zu antworten, denn egal, was er schreiben würde, Harper würde es definitiv als Zeichen nehmen und es würde nur noch schlimmer werden. So gut kannte er Harper. So gut und noch besser.
Als er vor der Haustür der Moriartys stand, fiel ihm wieder ein, wie die Situation dort gewesen war, als er das Haus vor zwei Wochen verlassen hatte. Jim war verschwunden gewesen; Sebastian hatte ihn gefunden und zurückgebracht. Daraufhin hatte Jim ziemlichen Ärger von seinen Eltern bekommen, die gerade von ihrem Wochenendausflug zurückgekommen waren.
Er hatte keine Ahnung, was sich seitdem getan hatte. Zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, dass er nicht einmal mehr an diesen Vorfall gedacht hatte.
Sein Klopfen war sehr zögerlich. Die Tür öffnete sich dafür umso schwungvoller.
Andrew stand vor ihm, sein blaues T-Shirt voller Mehl, ebenso wie seine Hände und seine Jeans - jedenfalls vermutete Sebastian, dass es Mehl war, hoffte, dass es nicht Tatortkreide war (dieser Gedanke war zwar lächerlich, aber Sebastian würde es in diesem Haushalt nur wenig überraschen).
Andrew strahlte ihn an. „Hey, Sebastian! Willst du mit Kuchen backen?"
„Ehm", machte Sebastian überfordert, als Andrew auch schon sein Handgelenk packte und ihn ins Haus zog.
„Wir haben uns wirklich lang nicht mehr gesehen. Wieso hattest du nie Zeit? Es war so langweilig!"
Erneut hatte Sebastian keine Chance, zu antworten, denn Dorian hatte bemerkt, dass er da war.
„Hallo!" Dorian umarmte ihn so heftig, dass Sebastian einige Schritte zurückstolperte.
Verlegen klopfte er dem kleinen Jungen auf den Rücken. „Hey, ihr beiden."
Als Dorian sich von Sebastian löste, kicherte er. Er trug wieder sein rosa Tütü und auch er war über und über mit Mehl bedeckt. Sebastian folgte seinem Blick und sah an sich hinunter; er hätte seine Jacke zumachen sollen, denn nun haftete das weiße Puder auch an seinem hellblauen Hemd. Sebastian schnaufte empört und Dorian lachte erneut und rannte dann zurück in die Küche. Er zog einen feinen Mehlnebel hinter sich her.
„Sind eure Eltern noch da?", fragte Sebastian, der die Antwort bereits erahnen konnte.
„Nö, Mum ist vor einer halben Stunde gegangen. Und jetzt backen wir Kuchen." Andrew lächelte ihn unschuldig an und führte ihn dann weiter in die Küche.
Sebastian war nur wenige Minuten zu spät. Dennoch hatten die beiden Brüder genügend Zeit gehabt, die Küche in ein heilloses Durcheinander zu verwandeln. Auf dem hellen hölzernen Esstisch war Mehl gleichermaßen wie Töpfe und Löffel in allen Größen verteilt. Mitten in diesem Durcheinander lag ein aufgeschlagenes Kochbuch. Beinahe alle Schubladen und Schranktüren waren geöffnet, ebenso wie der Kühlschrank, der ein sanftes Brummen von sich gab.
„Was zum Teufel habt ihr denn hier gemacht?"
„Wir haben nicht alle Zutaten gleich gefunden", antwortete Dorian achselzuckend. In seinen Hände hielt er eine Tafel weißer Schokolade, von der er just in diesem Moment abbiss und Sebastian hätte ja was gesagt, aber er war zu sehr auf den Gedanken fixiert, wie sie das hier je wieder aufräumen sollten.
Er sah mit Schrecken und gleichermaßen mit Bewunderung, weil zwei Jungen ein solches Chaos innerhalb so kurzer Zeit angerichtet hatten, um sich. Dann trat er einen Schritt vor und etwas knirschte unter seinem Fuß. Als er nach unten blickte, war er ganz erleichtert, dass er keine Zeit gehabt hatte, um sich seine Schuhe auszuziehen, denn er war in eine halbe Eierschale getreten, um die herum Eiweiß eine kleine Pfütze bildete. Sebastian konnte weder das Eigelb noch die andere Hälfte des Eies irgendwo sehen.
Seufzend hob er den Fuß und zog sogleich den Schuh aus. „Wir können gern Kuchen backen. Aber erst räumt ihr alles, was wir nicht dafür brauchen, wieder zurück und schmeißt die halben Eier weg."
Andrew und Dorian blickten ihn schmollend an. „Können wir das nicht nach dem Backen machen?"
Sebastian schloss die Kühlschranktür und schüttelte den Kopf. „Ich bin gerade auf ein Ei getreten. Keine Chance, dass wir hier Kuchen backen können, wenn man sich kaum unfallfrei bewegen kann."
Die Brüder seufzten synchron. Danach begannen sie jedoch glücklicherweise tatsächlich damit, das größte Chaos zu beseitigen.
Sebastian schüttelte kurz den Kopf, zog sich seinen zweiten Schuh auch noch aus und half den beiden.
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Obwohl keiner von ihnen wirklich Erfahrungen im Backen hatte, war der Kuchen durchaus genießbar.
Nur leider hatte Sebastian nicht wirklich Appetit - was nichts ausmachte, weil Andrew und Dorian die doppelte Menge für ihn mitaßen.
„Dotty hat seit letzter Woche ein Hausschwein", erzählte Andrew zwischen zwei Bissen; an seinem Kinn klebten Schokokuchenkrümel. „Er heißt Peter und Dotty sagt, er grunzt sie immer an, wenn sie schlafen will, weil er mit in ihr Bett will."
Sebastian hob die Augenbrauen, weil Andrew das so erzählte, als wäre es etwas völlig Alltägliches. „Wieso wollte ihre Familie ein Hausschwein?"
„Wieso würde sie keins wollen?", konterte Andrew.
„Ich will auch ein Schwein", funkte Dorian dazwischen und bestärkte somit die Aussage seines älteren Bruders. „Aber es soll ein Hängebauchschwein sein und ich würde es auch sicher nicht Peter nennen."
Sebastian, der in Irland nahe einer kleinen Farm gelebt hatte, die mitunter auch Schweine beherbergt hatte, und der sich daran erinnerte, wie riesig und breit diese hatten werden können, runzelte skeptisch die Stirn. Er beschloss, sich nicht auf den Wunsch an sich zu konzentrieren, sondern darauf, was Dorian, nach dessen auffordernden Blick, offenbar von ihm erwartete, weshalb er fragte: „Wie würdest du denn dein Schwein nennen?"
„Hamdouni", antwortete Dorian ohne zu zögern, als hätte er nicht nur einmal darüber nachgedacht.
Sebastians Mundwinkel zuckten. „Hamdouni?"
„Ja." Dorian nickte und steckte sich eine weitere Gabel Kuchen in den Mund, setzte an, weiterzureden, hielt aber inne, als Sebastian ihn strafend ansah und kaute zunächst brav zu Ende. „'Ham', weil er ein Schwein wäre. Und 'douni' von Houdini, dem Zauberer. Hamdouni. Ein Zauberschwein."
Sebastian schüttelte lachend den Kopf. „Vielleicht solltest du Dotty dazu überreden, Peter doch noch umzubenennen. Dein Name ist echt klasse."
Doch Dorian schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Hamdouni ist mein Schwein, ein Hängebauchschwein. Wusstest du, dass er letzten Monat Geburtstag hätte?"
„Wer, Hamdouni?", fragte Sebastian verwirrt ob des plötzlichen Themenwechsels und überlegte, ob die Moriartys nicht vielleicht doch mal ein Schwein gehabt hatten oder Dorian vielleicht ein imaginäres Hängebauchschwein besaß.
Aber Dorian verdrehte nur die Augen, als wäre Sebastians Frage wirklich komplett bescheuert. „Natürlich nicht. Ich meine Houdini. Er wurde am 24. März 1874 in Ungarn, Budapest geboren, starb an Halloween mit 52 Jahren und hatte keine Kinder. Außerdem wollte er beweisen, dass es keine echte Zauberei gibt." Diese Worte leiherte er sehr seltsam herunter, als hätte er sie auswendig gelernt oder würde sie ohne wirkliche Motivation vorlesen.
Andrew erklärte Dorians seltsame Aussprache im nächsten Moment bereits: „Er hat in der Schule einen Vortrag über eine Person halten müssen, die im neunzehnten Jahrhundert geboren wurde. Ich musste das auch machen, als ich so alt war, aber ich habe über Einstein gesprochen."
Dorian schnaubte. „In meiner Klasse haben drei Leute einen Vortrag über Einstein gehalten und ich habe immer noch nicht verstanden, was so besonders an ihm war."
Jetzt wirkte Andrew empört. Während er Dorian hitzig versuchte zu erklären, wieso Einstein wichtig für die Physik und die Mathematik heutzutage gewesen war (Dorian argumentierte, dass beides vielleicht ohne ihn nicht so kompliziert wäre), schweiften Sebastians Gedanken wieder ab.
Er würde hier bis acht Uhr bleiben, was hieß, dass er spätestens um neun, selbst, wenn er sich nicht gerade beeilte, wieder Zuhause wäre und seiner Mutter gegenübertreten müsste. Sebastian wollte sich gar nicht vorstellen, wie enttäuscht sie sein würde - er hatte ihr immer gesagt, in der Schule liefe es eigentlich ganz gut und sie war viel zu gestresst gewesen, um sich weiter zu erkundigen oder seine Arbeiten anzusehen. Sie würde ihn ganz sicher nicht anschreien oder tadeln, denn das brachte sie nicht einmal bei Fremden über sich, aber sie würde so traurig gucken wie, als sie das mit Harper herausgefunden hatte, und Sebastian glaubte nicht, dass er das ertragen würde.
Allerdings wusste er auch, dass er dieser Konfrontation nicht länger entgehen konnte. Gefallen musste es ihm ja dennoch nicht.
Sebastian ließ den Blick durch die Küche und durch das Wohnzimmer wandern, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Ließ man das Klirren der Gabeln auf den Tellern und Andrews und Dorians Diskussion außen vor, war es beinahe unheimlich ruhig. Sebastian fragte sich, ob die Brüder sofort ein solches Chaos veranstaltet hatten, nachdem ihre Mutter gegangen war, weil sie allein in der Stille gewesen waren und sich irgendwie hatten ablenken müssen.
Nur, wieso waren sie eigentlich allein?
„Hey, wo ist eigentlich euer Bruder?", fragte Sebastian und unterbrach somit den Disput der Jungen.
„Der ist bei seinem Arzt." Dorian starrte nachdenklich auf den Kuchen, als überlegte er, ob er noch ein viertes Stück nehmen sollte, entschied sich dann glücklicherweise dagegen (Sebastian wollte sich nicht anhören müssen, dass er die Jungen nur mit Süßkram fütterte und außerdem hatte er noch in Erinnerung, wie aufgedreht Dorian letztes Mal gewesen war, als er zu viele Süßigkeiten gegessen hatte) und schob seinen Teller von sich.
„Mum und Dad wollen, dass er bessere Medikamente bekommt", fügte Andrew hinzu; er scheute nicht davor, ein weiteres Stück Kuchen auf seinen Teller zu laden, aber er aß auch langsamer als sein kleiner Bruder und so war es sein drittes und nicht viertes Stück.
„Bessere Medikamente?", hakte Sebastian stirnrunzelnd nach und ihm fiel wieder seine Theorie ein, nach der Jims ständiges Verschwinden weniger mit einem Freiheitsdrang und mehr mit seinen Gefühlsausbrüchen zu tun hatte. „Wieso? Haben seine alten Medikamente nicht funktioniert?"
Dorian hob die Schultern. Andrew erklärte: „Mum sagte, dass sein Verhalten schlimmer geworden wäre. Deshalb muss er jetzt auch zweimal die Woche zum Therapeuten."
Sebastian biss sich auf die Lippe. „Oh." Er wusste nicht so richtig, was er dazu sagen sollte. Vor einem Jahr hatte er selbst an einer psychologischen Sitzung teilgenommen, weil er nicht hatte einschlafen können und Panik hatte, wann immer es an der Tür klopfte, weil er sich die schlimmsten Szenarien ausmalte. Unter anderem auch, dass sein Vater dort stand und verlangte, dass seine Mutter und er zurück nach Irland kamen. Was dämlich gewesen war, weil er zu der Zeit bereits bei Harper gewohnt hatte. Es war auch Harper gewesen, der ihm eingeredet hatte, dass er keinen Therapeuten brauchte und lieber öfter mit ihm ausgehen sollte, weil er vermutlich einfach chronisch gelangweilt war.
„Wann kommt Jim wieder?"
Andrew sah auf seine blaue Kinder-Armbanduhr und überlegte eine ganze Weile lang. „Er kommt immer um sieben... also in ungefähr... fünfundvierzig Minuten."
Also würde er Jim definitiv über den Weg laufen. Er wusste nicht, wie er sich Jim gegenüber dann verhalten sollte. Möglicherweise gab er ihm erneut die Schuld daran, dass seine Eltern ihn bestraften. Vielleicht war es ja seine Schuld. Vielleicht wären seine Eltern weniger wütend gewesen, wäre Jim allein zurückgekommen und hätte Sebastian ihn nicht zurückbringen müssen.
Aber wäre Jim überhaupt allein zurückgekommen?
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Jim kehrte, wie Andrew es vorhergesagt hatte, um Punkt Sieben zurück.
Als er, kurz nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, ins Wohnzimmer trat, wirkte er ein wenig verwundert, dass Sebastian dort auf der Couch neben seinen Brüdern saß und einen Film schaute. Er blinzelte etwas irritiert - Sebastian verstand es gut, immerhin war er die letzten zwei Wochen nicht zum Babysitten erschienen.
Sebastian lächelte Jim vorsichtig an. „Hey."
Für einen langen, unangenehmen Moment starrte Jim ihn nur an wie eine übernatürliche Erscheinung, ehe er tonlos antwortete: „Hi."
„Hallo", sagte Sebastian dämlicherweise noch einmal, weil er irgendwie nervös war, woraufhin Jim die Stirn leicht in Falten legte. „Äh, wie geht's?"
Jim sah ihn einen Augenblick länger an, schüttelte dann leicht den Kopf und verließ das Wohnzimmer ohne ein weiteres Wort.
Sebastian blieb verwirrt zurück.
„Er hat schlechte Laune, das ist nicht wegen dir", flüsterte Dorian neben ihm und konzentrierte sich dann wieder auf den Film; den Kopf hatte er an Sebastians Schulter gelehnt.
Sebastian war sich nicht so sicher, ob es nicht doch seine Schuld war. Sicherlich war Jim sauer auf ihn. Er konnte es ihm ja nicht einmal verübeln. Obwohl ja Jim es gewesen war, der einfach verschwunden war. Und Sebastian hatte sich sogar Sorgen gemacht, während Jim einfach in diesem Abwasserkanal gesessen und sein Graffiti angestarrt hatte. Was seltsam gewesen war, aber wenigstens war ihm nichts passiert.
„Können wir Wraps zum Abendbrot machen?", fragte Andrew.
Sebastian blinzelte seine Gedanken fort, runzelte danach die Stirn. „Ihr habt vorhin erst Kuchen gegessen."
„Aber jetzt habe ich Hunger auf etwas Richtiges", entgegnete Andrew und Dorian nickte bestätigend.
Zunächst wollte Sebastian ansetzen zu sagen, dass drei Stücke Kuchen ja wohl fast wie eine richtige Mahlzeit waren, gab dann allerdings bereits beim Ansetzen eines Widerspruchs auf. „Okay, ich mach euch was."
„Erst schauen wir den Film zu Ende", bestimmte Dorian und drückte seinen Kopf betont stärker gegen Sebastians Schulter.
Der schüttelte jedoch den Kopf. „In einer Stunde muss ich wieder los. Ich mach gleich Essen. Aber keine Wraps, das kann ich nicht."
Andrew und Dorian seufzten gleichermaßen enttäuscht. „Okay."
Sebastian schob Dorian vorsichtig von sich, woraufhin der sich beleidigt in ein Kissen warf. Auf dem Weg in die Küche wurde Sebastian noch einmal von Andrew aufgehalten:
„Sebastian?"
Sebastian gab einen fragenden Laut von sich und sah über seine Schulter.
„Wirst du nach heute wieder so lang nicht mehr kommen?"
Sebastian wusste nicht, ob seine Mutter ihm erlauben würde, überhaupt noch zu kommen, wenn sie das mit seinen Noten erst einmal erfahren hatte. Vermutlich würde sie darauf bestehen, dass er erst einmal mehr für die Schule machte. Dennoch lächelte Sebastian schief: „Sicher nicht. Das war nur eine Ausnahme."
Die beiden Jungen grinsten begeistert und Sebastian wurde ganz warm, weil sie ihn offenbar so gern mochten - er hoffte nur, er würde sie nicht enttäuschen.
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Jim kam weder zum Abendessen hinunter, noch, als Sebastian sich schließlich von Dorian und Andrew und deren soeben eingetroffenen Vater verabschiedete. „Wir sehen uns samstags!", versprach Sebastian winkend.
Im Vorgarten fanden seine Blicke unwillkürlich hinauf zu den Fenstern des ersten Stockes: Jims Fenster war nicht einmal an der Vorderseite des Hauses, dennoch erwischte Sebastian sich dabei, wie er nach seiner Silhouette Ausschau hielt.
Obwohl Jim ihm bei ihrem ersten richtigen Treffen (mit Konversation) gesagt hatte, er sollte sich keine Sorgen um ihn machen, weil sie sich nicht kannten, tat Sebastian es. Jim hatte seltsam gewirkt, als er nach Hause gekommen war. Verschlossen und irgendwie blass. Jetzt, wo Sebastian es sich in Erinnerung rief, fand er auch, dass er sehr erschöpft gewirkt hatte. Die letzten zwei Wochen waren offenbar nicht sonderlich angenehm für ihn gewesen. Sebastian fühlte erneut die Schuld in sich aufsteigen, versuchte das Gefühl allerdings wieder zu verdrängen.
Es ging ihn nicht einmal etwas an. Es war ja nicht so, als wären er und Jim befreundet; Sebastian war nur der Babysitter seiner kleinen Brüder und außerdem offenbar ein Störfaktor in Jims Augen.
Obwohl sie sich am Samstag, als Sebastian bei den Moriartys übernachtet hatte, eigentlich doch ganz gut verstanden hatten. Sebastian hatte ihm sogar von seiner Familie erzählt. Und er erinnerte sich genau, dass Jim ihn angelächelt hatte. Was nicht wie etwas Großartiges erschien, aber es war ein gewaltiger Fortschritt, bedachte man, dass Jim ihn normalerweise bevorzugt provozierte. Dennoch war er in der Nacht einfach so verschwunden, und das, während Sebastian genau gegenüber seines Zimmers im Gästebett gelegen hatte und nicht hatte schlafen können.
Außerdem hatte Jim einem gemeinsamen Ausflug zugestimmt. Sebastian wusste noch immer nicht, wieso er das überhaupt vorgeschlagen hatte, aber er fühlte beinahe so etwas wie Enttäuschung, weil Jim darauf jetzt sicher keine Lust mehr hatte. Es war schade. Sebastian glaubte, dass Jim ein wirklich interessanter und vielleicht, wenn man ihn besser kannte, auch sehr freundlicher Mensch war. Aber vermutlich würde Sebastian nie dazukommen, ihn besser kennenzulernen.
Vermutlich würde er heute sowieso vor Scham sterben, denn es stand ein Gespräch mit seiner Mutter bevor und er glaubte, ihre Enttäuschung bereits über ihre kurze Nachricht spüren zu können:
'Hey, Sebastian. Wir müssen reden, wenn du wieder da bist.'
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Seine Mutter zog ihn in eine überraschende Umarmung, als er versuchte, möglichst leise die Wohnungstür aufzuschließen, nur, damit sie zuerst von ihr aufgerissen wurde.
„Oh, Sebby." Sie drückte ihn fest an sich und presste ihr Gesicht an seinen Brustkorb, ließ einen Seufzer hören. „Wieso hast du mir denn bloß nichts erzählt? Ich hätte dir doch mit dem Lernen helfen können."
Sebastian schluckte trocken und drückte seine Mutter von sich. „Können wir das vielleicht drinnen besprechen, Má?"
Seine Mutter seufzte nur und ließ Sebastian, der sie um beinahe zwei Köpfe überragte, in die Wohnung eintreten. „Miss Attah hat mich angerufen."
Sebastian schlüpfte aus seinen Schuhen, den Blick stets zu Boden gerichtet. „Ich weiß."
„Sie sagte, dass sie fest daran glaubt, dass du es noch schaffst und es besser hinbekommen wirst."
Da war Sebastian sich nicht so sicher. Viel mehr bezweifelte er das sehr. Aber er gab nur ein unbestimmtes Brummen von sich, das sowohl als Zustimmung als auch als Widerspruch hätte gelten können.
Er schloss die Tür leise hinter sich, obwohl niemand da war, den es stören könnte (wie nachts nach einem seiner 'Spaziergänge'), würde er sie ein wenig lauter ins Schloss fallen lassen, wonach ihm eher zu Mute war.
„Wieso hast du mir nichts erzählt?", wiederholte seine Mutter ihre Frage von zuvor sanft.
Sebastian hob die Schultern, rückte seine Schuhe gerade. „Ich weiß nicht. Ich wollte es allein wieder hinbekommen."
„Ach, mo chroí. Das hättest du nicht versuchen brauchen, du weißt doch, dass ich dir gern helfe. Du musst nicht immer alles allein machen."
Sebastian bereute es, dass er aufblickte, denn da war dieser Gesichtsausdruck seiner Mutter, traurig und irgendwie schuldbewusst, hinter dem sich ganz sicher Enttäuschung verbarg, weil Sebastian es nicht einmal auf die Reihe brachte, gute Noten zu schreiben.
„Ich wollte nicht, dass du noch mehr Sorgen hast", murmelte Sebastian schließlich, nachdem er schnell wieder weggesehen hatte.
„Um dir mache ich mir am liebsten Sorgen", behauptete seine Mutter und Sebastian hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie versuchte, ihn anzulächeln, aber er schaute sie nicht noch einmal an. „Außerdem ist es doch kein Weltuntergang. Wir kriegen das sicher hin. Ich weiß, dass du das schaffen kannst."
Sebastian seufzte leise und sagte dann so leise, dass nur er es hörte: „Ich weiß aber nicht, wie ich das alles schaffen soll." Und damit meinte er nicht einmal nur seine Noten, sondern einfach alles.
„Was hast du gesagt, Schatz?"
Sebastian blickte an ihr vorbei.
„Dass du recht hast. Danke, Má."
Er sah aus dem Augenwinkel, wie seine Mutter ihm ein weiteres Lächeln schenkte. Dann strich sie ihm aufmunternd über die Schulter. „Ich bin auch stolz auf dich, wenn du keine perfekten Noten hast, Sebastian. Das solltest du wissen."
Sebastian biss sich auf die Lippe. „Okay."
Er konnte sich nicht vorstellen, wie seine Mutter nicht enttäuscht von ihm sein konnte. Er war nur froh, dass sie es wenigstens zu verbergen versuchte. Offen hätte die Enttäuschung ihn vielleicht zerstört.
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Wörter: 3722
Lied: Let You Down ~ NF
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Es ist ein Wunder geschehen! Ich habe tatsächlich eine Eins in der Mathearbeit. Das fühlt sich nach einer ganz neuen Art des Erfolges an.
Wie läuft es bei euch gerade so? Irgendwas, das ihr loswerden müsst?
Ich hoffe, ihr habt noch eine schöne, restliche Woche. ❤
Bis dann!
TatzeTintenklecks.
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