Facetten der Kroketten
Währenddessen versuchte ein Mann am anderen Ende der Stadt ein Gespräch am Tisch eines eleganten Restaurants wieder in Fahrt zu bringen.
"Und du magst auch die Farbe blau?", fragte er unsicher und schaute die Frau am anderen Ende des Tisches verlegen an.
"Ja, wie gesagt, ich mag alle Farben gleich gern.", antwortete diese knapp und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fenster, durch das sie die letzten 20 Minuten Stille gestarrt hatte. Draußen sah man auf eine Straße, auf der jedoch fast niemand war.
Lediglich ein Schild mit der Aufschrift "Sayl", das ein Mann im weißen T-Shirt seit Stunden auf seiner Hand drehte und teilweise sogar hoch warf, nur um es auf eindrucksvolle Weise wieder aufzufangen. Die Frau fragte sich gerade, warum er es die ganze Zeit wegwarf, wenn er es doch sowieso wieder auffing und warum er es nicht einfach zur Seite schleuderte, um es loszuwerden. Dann kam ihr ein Gedanke. Was wenn er es gar nicht loswerden konnte? Was wenn er auf ewig an dieses Schild gefesselt war? Beinahe wäre sie aufgestanden, um ihn von seiner Last zu befreien, als ihr Gesprächspartner auf sich aufmerksam machte und sie aus den Gedanken riss.
"Das ist schön", sagte er "Ich mag auch Farben. Farben sind so...farbenfroh." Dann wendete er sich mit einem Mal wieder von ihr ab und holte sein Handy raus. Unter dem Tisch verborgen tippte er einen Chatverlauf mit seinem Kumpel, der sich selbst J.C-K.D. WvD MC Mega-Rapgott-krass-guter-Rapper-Shit-King nannte, aus guten Gründen im Folgenden jedoch als Jesse Kady betitelt wird, der in etwa wie folgt ausgesehen haben muss.
Der Fremde mit dem Namen Hugh Ven musste wohl etwas geschrieben haben wie:
"Sie hat keine Lieblingsfarbe, Mann. Was soll ich tun, jo?"
Woraufhin der andere geantwortet hatte:
"Keine Ahnung, Mann. Sag ihr, dass du sie liebst, jo!"
"Wie denn, jo?"
"Sie ist echt ein krass beschissener Bossfight, jo, sie hat dich mit der stärksten Waffe der Frauen angegriffen, der Ignoranz, du musst regenerieren, Mann."
"Jo, Bro, du hast jo und Mann vertauscht, jo. Wir haben Regeln, Mann, das Jo gehört ans Ende, jo."
Die Sprache der jungen Erwachsenen hat mit der Zeit immer mehr ihr Eigenleben entwickelt und wurde zu einer Sprache, die die Menschen in dieser Stadt die Sprache der Junerwa¹ tauften, was sich aus den Anfangsbuchstaben, der Worte jung und erwachsen zusammensetzt. In einigen Teilen wird sie fälschlicherweise noch Jugendsprache genannt, obwohl man sie wohl kaum mit der uns bekannten Jugendsprache gleichsetzen konnte. Andere bezeichnen sie als "Seltsamer Dialekt, den kein Mensch über 40 versteht" und das trifft es oft am meisten.
Zu dieser Sprache gehörte es auch, Ausdrücke, die oft aus der neuen aber auch aus der veralteten Jugendsprache kommen, als Satzzeichen zu verwenden, um zu signalisieren, dass sie gerade entweder einen neuen Teil des Satzes beginnen oder ihre Aussage beenden wollen. Diese Strategie hat die Rate der Unterbrechungen, während jemand sprach, unter den 18-28 Jährigen um etwa 80% gesenkt.
Hiermit enden die Aufzeichnungen des Chatverlaufs, denn der Mann schaute wieder zum Tisch herauf. Du musst regenerieren, dachte er im Stillen vor sich hin, als der Kellner zu ihrem Tisch kam.
"Was darf es sein?", fragte er mit leeren Augen, die sich zu einem schiefen Lächeln zwangen. "Irgendwas mit Herzen", murmelte Hugh, in Gedanken noch immer bei dem Videospiel.
"Ausgezeichnete Wahl!", sagte der Kellner recht unbeeindruckt und notierte etwas auf seinem Block. "Wir haben Rinderherzen, Schweineherzen und ganz neu, das Herz eines Axolotl."
"Was? Nein! Ich will kein Herz essen!", sagte der Mann verwirrt." Aber Sie sagten doch...!" Der Kellner schaute ihn entgeistert an.
"Es interessiert mich nicht, was irgendwer gesagt hat, ich erwarte bessere Rechtfertigungen für Fehler von einem Kellner, der in einem so pompösen Laden arbeitet. Bringen sie mir eine Pommes!" In einem letzten Versuch zwinkerte er seiner Begleiterin zu, die jedoch noch immer aus dem Fenster schaute.
"Wir haben keine Pommes.", sagte die Bedienung und schien langsam zu verzweifeln. Auch Hugh schien es zur Verzweiflung zu treiben. "Nicht mal das.", sagte er kopfschüttelnd. "Was haben sie denn überhaupt?", blaffte er den Aufwärter an. Dieser fuhr sich durch die Haare. "Wir hätten Kroketten." sagte er zögernd. "Ach ja, Kroketten!", sagte der Kunde streitlustig. "Das haben sie mir also zu bieten?", wütend stand er auf. "Kroketten?" Die Bedienung war nun vollends verwirrt. "Also keine Kroketten?", fragte er langsam.
"Nein!", sagte Herr Ven "Haben sie denn überhaupt irgendetwas Essbares, außer gestampfte Kartoffeln?", fragte er spöttisch.
"Entschuldigen Sie der Herr, aber unsere Kroketten sind nicht aus Kartoffeln, wir sind kein Fastfood-Imbiss. Wir bereiten sie aus Fleisch, Gemüse, Trüffel und anderen Pilzen zu.", rechtfertigte sich der Kellner.
"Dann nehm ich halt die.", räumte der Gast ein und widmete sich wieder seinem Handy, auf das er bereits den gesamten Nachmittag gestarrt hatte.
"Und die Dame?", fragte der Ober und drehte sich zu der Frau. "Haben Sie schon einen Wunsch?"
"Haben Sie hier denn etwas Veganes?", fragte sie und ließ ihren Blick vom Fenster ab.
Der Kellner schien eine Liste im Kopf durchzugehen. "Ehm...Nein.", sagte er schließlich.
"Dann nehme ich eine Cola.", sagte die Frau ernüchtert.
"Wir führen keine Softdrinks." Mit denen konnte es ja noch heiter werden, dachte sich der Mann mit Schreibblock in der Hand gerade wahrscheinlich.
"Dann nehme ich ein Wasser.", sagte sie und richtete ihren Blick erneut aus dem Fenster. Auf der Straße wand sich der Typ mit dem Schild nun auf dem Boden und hielt das Schild in die Luft. Aha, dachte sie, er kämpft mit dem Schild! Er war wirklich an das Brett gebunden! Sie sollte ihm jetzt wirklich helfen, schließlich rang er bereits seit Stunden mit seinem immerwährenden Feind, von dem er sich zu trennen versuchte und es doch nicht schaffte.
Hugh war noch immer mit seinem Handy beschäftigt, als er endlich aufblickte. "Deine Augen glänzen und dein Haar leuchtet wie Sterne." Dann bemerkte er, was er gerade gesagt hatte und tippte panisch auf seinem Handy eine Nachricht.
Sie bemerkte es nicht, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, den Mann vor dem Geschäft auf der anderen Straßenseite zu beobachten. Was tat er da bloß? Warum holte er sich keine Hilfe, wenn es ihm so schlecht ging? Und was bedeutete Sayl überhaupt? So viele Fragen barg dieser mysteriöse Fremde. So viele Fragen, dass sie schon längst vergessen hatte, dass sie sich gerade auf einem Date befand.
"Und was machst du so in deiner Freizeit?"
Was war diese Stimme? Ach ja, es war der Typ, dessen Namen sie schon längst vergessen hatte. Ob sie ihn nach seinem Namen fragen sollte? Nein, so etwas tat man nicht. Was hatte er noch gleich gesagt?
"Ja, ich mag auch Jogurt", sagte sie ihm als Antwort und schaute sich weiter im Laden um. Der Raum in dem sie saßen, war voller roter Vorhänge und wäre sicherlich schön gewesen, säße man an an einem Abend im Kerzenschein am Tisch und nicht an einem Freitagnachmittag.
Der Mann gegenüber vom Tisch tippte nach ihrer Antwort wieder einmal energisch auf sein mobiles Endgerät ein.
"Sie spricht voll in Rätseln, jo"
"Du musst sie einfach mit Benzin übergießen und dann anzünden. Niemand wird es je herausfinden und wenn du sie dann irgendwo im Wald vergräbst wird es auch keine Fragen geben."
Der Mann stand geschockt auf und riss dabei fast die Tischdecke mit. Der Stuhl kippte nach hinten um und landete mit einem Scheppern am Boden. Die Gläser auf dem Tisch klirrten auf und kamen ins Schwanken. Die Menschen im Restaurant schauten sich um, woher das Geräusch kam, und er schaute sich nach den Leuten um, die sich wiederum nach ihm umschauten. Als sich alle Blicke rund ums Publikum endlich getroffen hatten , schaute er auf seine Begleitung, die davon nichts mitbekommen hatte und noch immer etwas auf der Straße fixierte. Er überlegte, ob der Tipp seines Freundes nicht vielleicht doch die richtige Wahl war und er sie einfach verbrennen sollte.
In diesem Moment ploppte eine neue Nachricht auf seinem Handy auf:
"Sorry, falscher Chat."
Dann fing er an zu lachen. Er lachte haltlos und aus dem Nichts heraus. Es war jedoch kein erleichtertes Lachen und auch kein selbstironisches Lachen, nein. Es war die pure Panik, die sich auf den Gesichtern der Menschen an den anderen Tischen breit machte, die ihn geschockt anstarrten. Zu sehr geängstigt, um auch nur einen Finger zu rühren.
¹ Die Junerwa sind zudem eine sektenartige Glaubensgemeinschaft, die es sich, in den Anfängen oft noch scherzhaft, zur Aufgabe gemacht hat, „die große Wand über ihnen"² anzubeten.
² Die große Wand über uns im vollen Namen mit dem zusätzlichen Titel „die uns vor den Einflüssen des Universums beschützt" ist der Name einer Gottheit, die ihren Ursprung in den Junerwa¹ findet.
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