47 ☾ ER
»Ist es wirklich in Ordnung, also in deinem Sinne, wenn ich nun mit Dira gehe und dich–«
»Ja, Frederik. Wirklich«, unterbricht Jeu mich, weil sie genau weiß, was ich fragen will. Ganz eventuell, weil ich sie in den letzten Minuten bereits fünfmal gefragt habe. Sie schaut mir lächelnd entgegen, doch das Lächeln kann über den Schimmer in ihren Augen nicht hinwegtäuschen.
Ich lasse meine Schultern sinken. »Okay«, erwidere ich, erhebe mich und bedeute Fritzi, dass sie bleiben soll, wobei ich nicht mal wüsste, ob sie das nicht sowieso schon gemerkt hat.
Dira hat sich, während ich das zweite Mal nachgehakt habe, von Jeu verabschiedet und ist vor zum Pfad hochgegangen und wartet dort auf mich. Immer wieder habe ich hochgeblickt, woraufhin sie mich zu sich gewunken hat. Ich wende mich erneut dem Weg zu, auf dem Dira sich befindet, und sehe wieder ihre Hand wedeln. Wahrscheinlich hat sie nicht mehr damit gerechnet, dass ich nun wirklich endlich in ihre Richtung komme.
Bis vorhin war ich im Funktionsmodus gefangen, doch seit dem wir am Flussufer zur Ruhe kamen ... Fridas Bild tauchte ein paar Mal vor meinen Augen auf. Nicht wie in den fürchterlichen Situationen, die mich versteinern lassen und doch hat sich der Schmerz in meinem Inneren erneut ausgebreitet. Ich habe Fridas helles, fröhliches Lachen gehört, während sie über die Wiese hüpft und springt; auf mich zu läuft, von mir aufgefangen werden möchte, damit ich sie herumwirbele, wodurch ihre blonden Haare durch die Luft schwingen. Ich liebe dieses Bild, es stimmt mich glücklich und gleichzeitig verpasst es mir einige Stiche in den Magen und Rücken.
Auch wenn ich nicht genau den gleichen Verlust durchgemacht habe ... Für Jeu muss es furchtbar sein, dass sie gerade erst erfahren hat, dass hinter dem Tod ihrer Mutter mehr steckt und dann stirbt ihr geliebter Vater.
Funktionsmodus. Dahin zurück. Jeu hat einen Befehl erteilt. Funktionsmodus. Es gibt Aufgaben. Wichtige Anliegen. Freiwillige. Wir brauchen Freiwillige.
Als ich zu Dira aufschließe, meint sie, dass es am klügsten wäre, erst einmal zu ihr zu gehen, um ihre Eltern zu unterrichten. Sollte Cilai nicht dort sein, werden wir zum Camp gehen. Die restlichen Meter bringen wir schweigsam hinter uns.
Geht es hier gerade wirklich um eine Mission, um Menschen auf der Erde zu helfen? Das kommt mir so surreal vor. Doch genauso keimt Hoffnung in mir auf. Für Waldtraud, Wilma und einige andere. Kara zum Beispiel. Kara ... Viel zu wenig Zeit hatten sie und ich. Ich wusste nie, was sie von mir hält. Mir war immer nur klar, dass ihr Bruder einen ordentlichen Knacks weg hat, was sich als noch viel schlimmer herausgestellt hat, als mir vorher bewusst war. Aber sie ist anders, wenn auch nur milde weniger ruppig. Ganz schön ... Worüber denke ich hier gerade nach? Was ist nur los mit mir?
»Frederik?«
Abrupt bleibe ich stehen und sehe, dass neben mir niemand mehr ist. Ich drehe mich um und bemerke, dass ich an der Hütte von Dira und ihrer Familie vorbeigelaufen bin. Sie unterdrückt ein Lachen. Ja, da war ich wohl mal wieder zu sehr in Gedanken.
»Mama, Papa?«, ruft Dira sofort, als wir die Hütte betreten.
Lesuna kommt uns entgegen. Ihr Blick ist durchzogen von Kummer, sie hat offenbar auch kein Auge zugetan letzte Nacht. Ihre Augen sind gequollen, dunkle Ränder sind zu sehen ... Auch wenn die Gefahr hier gebannt ist, scheint es alle mitgenommen zu haben, was sich zugetragen hat.
»Dein Pa ist hinten, er kommt gleich.« Auch ihre Stimme klingt erschöpft. Dennoch tritt sie in die Küche und es sieht so aus, als würde sie für uns Getränke zubereiten wollen.
»Kann ich dir mit etwas helfen, Lesuna?«, frage ich.
»Danke«, antwortet sie und schüttelt dabei mit dem Kopf. Ihre Augen schimmern, was mir das Gefühl gibt, dass ich ihr lieber Raum geben sollte.
Daher begebe ich mich zu Dira in die Stube und setze mich zu ihr. Cilai kommt in der Tat – mit Nilo und Feran – kurz danach nach vorne. Cilai schreitet zunächst zu Lesuna, nimmt sie in den Arm und flüstert ihr etwas zu. Dann kommt er zu uns.
»Jeu ist die neue Staatsoberhäuptin und hat diese Rolle angenommen. Ich soll dir eine Mitteilung überbringe«, beginnt Dira unmittelbar.
»Okay.«
Alle horchen gebannt zu, auch Lesuna aus der Küche, während Dira Jeus Ansage wiedergibt.
»Aber warum denn nur ihr drei?«, hakt Lesuna daraufhin nach. »Wir können doch alle ausschwärmen und die Leute für morgen zusammentrommeln.«
»Ich glaube nicht, dass Jeu das so gemeint hat. Natürlich können wir alle das machen. Das wäre wirklich hilfreich. Danke dir«, bestätige ich sie mit einem Lächeln.
Dass sie sofort mithelfen möchte, erfreut mich, denn es geht hier nicht um Lun-Vale, sondern um die Erde. Dass hingehend Cilai noch nichts dazu gesagt hat, macht mich unruhig und lässt meinen Blick durch die Gruppe schweifen. Nilo und Feran nicken mir unmissverständlich zu. Cilai scheint in Gedanken versunken zu sein. Und Dira ratlos.
»Papa?«, spricht Dira ihn als Erste ungehalten an. Er hebt seinen Kopf. »Alle warten auf Rückmeldung von dir, dem Anführer der Truppen.«
»Wir haben einige Verluste erlitten. Ich hatte schon Sorge, wenn es zu einem Konflikt hier auf Lun-Vale kommt. Außerdem wollte ich grundsätzlich nie ein Blutvergießen. So was kann nicht gut gehen. Gewalt erzeugt Gewalt. Frederik, ich dachte, da sind wir einer Meinung?«
Es entsteht eine Pause, vielmehr eine Stille. Auch wenn Cilai mich angesprochen hat, fühlt es sich so an, als würden sich alle angesprochen fühlen. Nicht nur angesprochen, eher angegriffen. Ich versuche zu begreifen, was er mir damit sagen will.
»Cilai, es geht hier nicht darum, dass ich ein Blutvergießen; euch in einen Krieg auf der Erde ziehen will. Auf gar keinen Fall«, versuche ich ihm so ruhig wie möglich zu sagen. »Es geht vielmehr um eine Rettungsmission für die Menschen auf der Erde, die unter dem System dort leiden und das seit Ewigkeiten.«
»Und Papa, dieser Befehl stammt nicht von Frederik, sondern von unserer neuen Staatsoberhäuptin Jeu. Du kennst sie. Sie will uns nicht ins Verderben stürzen. Sie will, dass wir so viele Leute versammeln, wie wir es bis morgen schaffen, dann wird sie ein paar Worte an uns alle richten und es geht erst einmal darum, einen Plan zu schmieden. Sie möchte dem Mann etwas zurückgeben, der uns so viel Unterstützung gegeben hat. Und sie möchte auch den Menschen auf der Erde helfen, die ihr geholfen haben. Ist das nicht verständlich? Und macht das nicht wahre Größe aus?«
Alle schauen Dira perplex an, mit welcher eindrucksvollen Präsenz sie auf ihren Vater einreden kann und wie schlau und bedacht sie ihre Worte gewählt hat, aber auch, wie wahr es einfach ist.
»Du hast recht, mein Schatz«, antwortet er seiner Tochter. »Es ist mein Job, zunächst an das Wohl meiner Truppen zu denken. Tut mir leid.«
Wir haben uns darauf geeinigt, zu verkünden, dass es morgen ein Treffen mit der neuen Staatsoberhäuptin Jeu im Trainingslager am Kommandozelt geben wird, in der sie ein paar Worte sagen möchte.
Das Dorf ist nun völlig überfüllt, was allen aber lieber zu sein scheint und sie auch jedem gönnen, als sich außerhalb zu befinden, weil dort noch irgendwelche Gefahren lauern könnten. Erneut begreife ich, was Jeu mir sagte. Hier ist es anders. Die Menschen sind untereinander anders. Sie leben im gegenseitigen Miteinander. Dass sie durch diese Angst auseinanderdrifteten ... Ein paar Details habe ich aufschnappen können. Vielleicht ist das auch nachvollziehbar. Nach unendlichen Runden durch das Dorf, um die Kunde mitzuteilen, darf ich endlich zur Ruhe kommen. Diesen Abend und diese Nacht darf ich jedoch bei Fritzi – in Cilais und Lesunas Hütte verbringen.
Beim gemeinsamen Abendessen tauschen wir uns über den Stand aus und wie viele wir womöglich erreicht haben. Wir haben zusätzlich Zettel mit der Botschaft aufgehangen. Jeu steht als erste vom Tisch auf und geht hinaus. Ich folge ihr. Sie setzt sich im Vorgarten auf den Rasen und schaut hoch zum Mond.
»Darf ich?«, frage ich und zeige neben sie.
»Natürlich.«
»Wenn du über irgendetwas reden möchtest, dann kannst du das mit mir tun. Ich hoffe, das weißt du«, versuche ich die richtigen Worte zu finden.
»Danke.« Sie schaut weiterhin nach oben. Spricht sie gerade zum Mond? Störe ich sie?
»Ist alles so weit okay? Wegen morgen, meine ich. Wenn ich dich störe, dann sag es.«
»Ich weiß nicht«, erwidert sie monoton.
»Soll ich dich lieber alleine lassen?«
»Nein, tut mir leid. Das meinte ich nicht.« Sie dreht ihren Kopf nun zu mir. »Wegen morgen. Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finden werde.«
»Ich bin dir allein dafür schon dankbar, dass du es versuchst. Und wenn Waldtraud und Wilma das wüssten, wären sie es ebenso.« Ich spüre, wie sich meine Augen füllen, presse meine Lider zusammen, denn jetzt möchte ich nicht weinen. »Du hast jetzt schon so viel mehr für die Menschen auf der Erde gemacht als sonst irgendjemand jemals je zuvor. Du bist gütig, stark, mutig und ich habe das Gefühl, dass du immer weißt, was wirklich zählt und wichtig ist.«
»Du hast es wirklich behalten«, stellt sie mit einem ehrlichen, breiten Lächeln fest.
»Aber klar doch. Ich habe doch gesagt, ich werde es in Erinnerung behalten, warum der Mond so gut wie immer sichtbar ist.« Ihr Lächeln intensiviert sich.
Nebeneinander sitzen wir auf dem Gras und betrachten schweigend den Mond und die Sterne.
»Es gibt etwas, das kaum jemand weiß.«
Jeu dreht sich zu mir um und erst da wird mir bewusst, dass ich es laut ausgesprochen habe.
»Auf der Erde ... Da ist vieles – fast alles sehr streng. Auch die Namensgebung.«
»So etwas habe ich mir schon gedacht, aber ganz dahinter gestiegen bin ich noch nicht.«
»Kinder müssen Namen mit den gleichen Anfangsbuchstaben bekommen wie ihre Eltern. Am besten sollten alle in der Familie den gleichen Buchstaben haben.« Jetzt, wo ich es laut ausspreche, ist es noch absurder, als es eh schon für mich war. »Paare müssen sich mittlerweile danach bilden. Vorher wurde es nur angeraten, es war ein indirekter Befehl, aber nicht alle hielten sich daran. Es war ein Faktor, an denen die angeblich guten von den nicht so guten Menschen erkannt werden konnten. Also die Auserwählten, Sektionsmitglieder und so. Wenn Eltern unterschiedliche Anfangsbuchstaben haben, dann müssen die Kinder je nach Geschlecht benannt werden.«
»Nach Geschlecht? Du meinst, bei euch wird nach männlich und weiblich kategorisiert?« Jeu ist völlig verblüfft. Ich habe es schon mitbekommen. Hier ist ein Mensch ein Mensch. Nur in meiner Gegenwart wurde versucht, in den Kategorien zu sprechen.
»Ja. Alles andere ist strengstens untersagt.«
»Da Sash oder Siggi mit einem S beginnt, wurde Frida nach ihrer Mutter benannt?«
Der nächste Stich durchfährt mich, aber jetzt will ich es loswerden. Vielleicht tut es mir gut, es endlich auszusprechen. »Ja und nein. Ähm ...« Ich bin doch zu schwach. Eine Träne kullert aus dem Augenwinkel. Mist.
»Wenn du nicht weiterreden kannst, ist das in Ordnung. Tut mir leid.«
»Frida musste sich umbenennen lassen, nachdem sie zu mir kam. Vorher hieß sie Ramona. Dann Frida. Ich habe einen Namen gewählt, der mit einem F beginnt.«
»Brauchte sie einen Namen mit einem F, weil sie bei dir war?«
»Ja genau. Wegen der Zugehörigkeit. Ich wollte aber auch einen Namen, der beiden Elternnamen ähnlich ist. Siegfried und Rita. Daher Frida. Und dafür schäme ich mich jetzt.«
»Das wusstest du doch nicht. Und Frida ebenso wenig. Frida hat sich bestimmt gefreut, dass du ihr einen solchen Namen gegeben hast, einen ehrenvollen.«
»Ja, das hat sie.« Das stimmt. Jeu hat recht. Vielleicht sollte ich mich daran festhalten. Jeu legt ihre Hand auf meine Schulter.
»Danke«, sage ich zu ihr, als wir uns wenig später erholsame Schlafstunden wünschen.
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