30 ☾ SIE
»Bolia. Durch Bolia ist das passiert.« Ich halte die Luft an; zwinge mich aber weiter, meine Hand zu bewegen. Ja, dass sie eine Verräterin ist, habe ich schon herausgefunden. Bolia haben wir einmal vertraut, sehr sogar. Meine rechte Hand ballt sich zu einer Faust, wodurch sich das Metallstück in meine Haut bohrt.
»Auf dem Weg nach Hause ... Eigentlich nichts Unübliches. Es war ganz kurz, nach dem du deine Mission gestartet bist. Hier hatte sich zu der Zeit noch nicht viel verändert. Die Stimmung schon irgendwie etwas, aber es war nicht einzuordnen. Jetzt schon. Aber da noch nicht. Es hat sich so viel verändert ... Das ist gefühlt schon so lange her ...« Für mich nicht. Eineinhalb Wochen gerade mal ... Aber hier dreht sich die Zeit schneller und doch nutzen wir sie anders. Zumindest nahm ich das immer an. Obwohl ich weiß, ich es spüren kann, dass das Schlimmste noch kommen wird, macht mir allein das schon Sorgen ...
»Ich traf auf Bolia, was auch nicht ungewöhnlich war, weißt du ja. Sie meinte, dass Kasu mich sehen wolle.« Dira unterbricht sich und muss schlucken. Es tut mir weh, einerseits den Namen von Papi zu hören, aber insbesondere jetzt gerade sie so zu sehen. »Ich dachte, er hätte vielleicht Neuigkeiten von dir und habe mich gefreut. Wie bescheuert von mir. Bolia schien erst wie immer, aber als wir im Gebäude ankamen, wurde ihre Haltung auch anders. Straffer und zielstrebiger. Da habe ich gespürt, dass etwas nicht stimmte. Ich wollte weg, tat so, als hätte ich vergessen, dass ich noch etwas besorgen müsste. Doch es half nichts mehr. Sie hatten mich. Ich entkam nicht mehr. Ich war in ihre Fänge geraten. Der schlimmste Augenblick war nicht, als sie mir später körperlich das alles antaten. Nein, es war, als ich Bolia ins Gesicht sah. In diesem Moment, als ich es realisierte. Sie hat es ebenso begriffen. Ihre sonst so verständnisvolle Mimik verwandelte sich in eine Fratze mit einem widerlichen Grinsen. Das hatte ich lange noch in meinem Kopf, auch jetzt noch manchmal verfolgt es mich. Vielleicht ist es wie bei dir mit dieser Hilde. Wir waren alle zusammengepfercht in einem Teil des Gebäudes. Sie wollten uns dazu bringen, dass wir uns ihnen anschließen. Manche taten das, andere wie ich nicht. Kelia war auch da. Sie half mir dadurch, dass ich nicht den Glauben verliere, dass wir es schaffen können.«
»Wie schrecklich.« Ich bin zu geschockt, als dass ich noch mehr sagen kann und hoffe, dass Dira es irgendwie versteht. Meine Finger bewegen sich nur noch mechanisch. Die Worte und was sie bedeuten, dringen immer mehr zu mir durch. Zeitgleich spüre ich unter meinen Fingern an ihrem Rücken eine Erhebung, die mir eben nicht aufgefallen war. War ich so sehr abgelenkt? Unbeabsichtigt gleitet mein Blick zu ihren Armen. »Ich bin so froh, dass du ...«, will ich ergänzen, damit das von mir zuletzt Gesagte nicht das letzte bleibt, doch meine Kehle schnürt sich zu.
»Ist gut, ich bin hier. Soll ich es dir erzählen?« Ich bin mir nicht sicher, ob ich es erfahren will, doch mein Kopf nickt ihr bereits zu. »Zunächst haben sie es getan, um uns zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen. Manchmal haben sie jemand anderen geschlagen – mal mit einer Peitsche, mal ohne –, manchmal dich. Es ist für viele härter, es bei anderen mit anzusehen, als die Schmerzen selbst zu erleben. Und glaub mir, ich war sehr oft kurz davor, mich zu ergeben und die Seite zu wechseln. Doch Kelia meinte, ich muss stark bleiben, dass es nichts bringen wird, sie dennoch weitermachen werden ...«
»Kelia ... Haben sie ... Du weißt schon.«
»Ja, sie ist wirklich stark. Ihren Willen zu brechen, ich glaube, das ist niemals möglich. Und das haben sie wohl auch bemerkt. Zum Glück haben sie Galiu nicht gefunden, das wäre vielleicht noch ein Grund gewesen. Aber da sie den anderen so tapfer zur Seite stand und sie ihren Willen nicht brechen konnten, haben sie ihr immer wieder anderes ...« Dira senkt ihren Kopf.
»Dira. Es ist doch nicht deine ...« Sie hebt ihren Kopf und ich sehe, wie frische Tränen ihr Gesicht benässen. »Wenn du lieber abbrechen möchtest, ist das in Ordnung.«
»Nein. Ich möchte das, ich will mich von all dem befreien. Es tut mir aber auch für dich leid, all das zu erfahren.«
»Schon okay. Wir stehen das zusammen durch.«
»Wenn welchen eine Flucht geglückt ist, haben sie einen Schuldigen gesucht. Wenn etwas nicht nach Plan lief, haben sie einen Schuldigen gesucht. Und immer so weiter. Was ich meine, ist, dass es ansonsten als Bestrafung diente.«
»Das ist wirklich grausam! Wieso hast du nicht das Armband genutzt?«
»Wenn jemand das Armband benutzt, werden alle bestraft«, leiert sie monoton runter. »Die Spurnachverfolgungsgeräte haben alle sie.«
»Ich bin wirklich unheimlich froh, dass du es geschafft hast.«
»Ja, dank Kelia und schlussendlich dann Dani. Er hat mir geholfen.«
»Dani?«, frage ich verwirrt nach. »Bist du sicher? Er ist doch auch einer von ihnen!«
»Keiner will mir glauben!«, fährt sie mich an. »Aber er hat mir geholfen«, spricht sie etwas ruhiger weiter, jedoch weiterhin aufgebracht.
»Tut mir leid, Dira. Natürlich glaube ich dir!«, versuche ich sie zu besänftigen. »Es überrascht mich nur, weil Frederik und ich Bolia und Dani zusammen gesehen haben, als sie uns verfolgten.«
»Ja, aber welche Wahl hat er denn? Er will uns helfen, er hilft denen, die gefangen genommen werden und riskiert dafür echt viel. Könntest du das?« Mit großen Augen schaut sie mich an. Sie sieht in diesem Moment nicht nur aufgrund ihrer Narben zerbrechlich aus.
»Das ist wirklich mutig«, gebe ich zu. Wenn es denn wirklich so ist ... »Und ich bin ihm dankbar, wenn er dir geholfen hat. Bist du dann gleich hierher?«
»Mir war klar, dass ich nicht nach Hause kann. Eigentlich stand fest, dass es nur dieses Ziel geben kann. Schwierig war es, da ich Kelia bei mir hatte und sie nicht laufen konnte. Sie hat sich gequält und mehr als einmal meinte sie, ich solle sie der Natur überlassen, aber nach allem, was sie für mich getan hat, konnte ich das nicht. Und was hätte ich Galiu erzählen sollen? Nein ... Wir hatten Glück, dass auch bei uns Bolia mit Dani Streife gemacht hat und wir hörten, wie Dani sie in eine falsche Richtung lockte, sodass wir einen Vorsprung bekamen. Dann haben wir uns in den Bach gestürzt. Ich musste Kelia überreden, aber es war unsere einzige Chance. Ich habe zum Mond und allem gesprochen, dass wir ihre Hilfe brauchen. Wir haben es geschafft. Als wir beim Tor ankamen, habe ich Ma von der anderen Seite schreien hören. Wie ich später erfuhr, hat sie da ausgeharrt. Sie hatte keine Wahl, sie musste von zu Hause fort, dort Schutz suchen und ich bin dankbar dafür. Sie hat durchgehend dort gewartet und ebenso immerzu zum Mond gesprochen, meint Pa. Nachdem wir wieder vereint waren, haben wir das auch weiterhin für dich gemacht«, beendet sie ihre immer rascher gewordende Erzählung und blickt zu mir auf. Ihre traurigen Augen, die bis eben noch so betrübt waren, klaren auf.
»Wie fühlst du dich?«
»Es geht. Es kostet viel Kraft, darüber zu reden, aber es ist in Ordnung, wirklich.« Sie nimmt den Blick nicht von mir und ich habe das Gefühl, dass sie ein anderes Thema anschneiden will.
»Was ist denn?«, frage ich daher nach.
»Ich bin so froh, dass du hier bist. Dass dir nicht noch viel mehr passiert ist. Wir wussten ja nicht genau, was geschehen ist. Aber kurz nach dem du aufgebrochen bist, ist hier das Chaos ausgebrochen. Und da konnten wir uns natürlich denken, dass auch bei deiner Mission womöglich etwas nicht stimmte.«
»Das tut mir leid. Ich wollte niemanden Sorgen bereiten.«
»Das wollte ich damit nicht sagen. Ich glaube, du weißt gar nicht, wie viel Macht du hast.«
»Aber ich habe gar nicht so viel Kraft. Ich verstehe das nicht.« Erst Cilai, nun auch Dira mit ihren Andeutungen. Ich glaube, sie sehen etwas in mir, was ich nicht bin. Sie vermitteln mir zumindest dieses Gefühl. Ich denke vielmehr, sie setzen zu viel auf mich. »Warum habt ihr alle so eine Hoffnung in mich?«
»Du weißt und siehst es wirklich nicht, oder?«
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