27 ☾ ER
»Warte!« Ich muss irre sein. Auch wenn wir mittlerweile davon ausgehen, dass uns doch niemand belauscht, wird es mit jeder Minute riskanter, sich hier zu unterhalten. Während des Alarms hat er nervtötend leise – beinahe musste ich lediglich von seinen Lippen lesen – erklärt, dass, wenn es nach einer halben Minute wieder aufhört, es wahrscheinlich nur ein Chin gewesen ist. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was das sein soll, klingt es wie etwas Harmloses. Und da ich nicht noch weiter ›Was forme ich mit meinen Lippen?‹ spielen wollte, habe ich nicht nachgefragt. Und obwohl da draußen wieder etwas raschelt, halte ich ihn wieder zurück. Ja, ich muss irre sein.
»Kommt auch noch etwas oder warum ›warte‹, Frederik?«
»Ähm. Doch, ich habe was.« Ich atme ein und aus, um dann mit einer ruhigeren Stimme fortfahren zu können. »Du denkst also, dass Tian noch hier – also hier auf Lun-Vale – ist?«
»Ja, ich glaube schon. Wieso?«, flüstert er zurück.
»Wenn dem so ist, wo?«, frage ich verunsichert nach.
»Ich denke im Ratshaus.« Also bei Sash. Er hat sich auf den Weg gemacht ... Oder so ähnlich. Das war seine Geschichte.
»Ich muss mit Cilai sprechen. Mist, der wird ja nicht mehr hier sein.« Ich könnte schon wieder durchdrehen. Meine Finger krallen sich fest, in meine Haare. Dann kommt mir eine Idee. »Ist Ryu hier, also auf dem Camp, über Nacht? Sprich, Mensch!«
»J-jia-a«, nuschelt er.
»Ich muss sofort zu ihm«, äußere ich und springe auch direkt auf. Mein Puls hat sich ordentlich beschleunigt und mein Herz wird gerade hochgehoben ... Es schlägt in irgendwelchen anderen Sphären. Aber es ist unsere Chance!
»Halt, halt. Ryu könnte dir was antun, wenn du so bei ihm auftauchst«,entgegnet mir Nilo wieder sicherer und packt mich am Arm. »Was ist denn jetzt auf einmal los?«
»Lass mich los. Ich muss zu ihm. Das verstehst du nicht.«
»Mag sein. Aber du kennst Ryu nicht. Wenn du ihn jetzt störst, wirst du gar nichts damit erreichen.«
Er lässt mich los, schaut mich aber weiterhin an. Ich gebe nur ein Murren von mir. Doch die Maus.
»Weise Entscheidung.« Würde er nicht so freundlich klingen, hätte ich ihm dafür gerne eine reingehauen. »Du kannst auch morgen früh direkt mit Cilai sprechen.«
»Aye aye.«
»So lange wird es sicher nicht mehr hin sein. Schau mal raus.«
Nilo und ich verabschieden uns und tatsächlich macht es den Eindruck, dass bald die Zeit ist zum Aufstehen. Zum verkackten Training. Dass es wichtig ist, weiß ich. Den Grund will ich lieber ausblenden. Und ich hoffe auch, dass Cilai die Wahrheit sagte. So unblutig wie möglich. Ich hoffe inständig gar keins.
Mit Nilo habe ich – vermute ich – einen Gefährten gefunden. Ja, doch, das denke ich wirklich. Das habe ich hier auch nötig. Vor allem nach zwei schlaflosen Nächten. Ob Cilai mich heute wieder freistellt? Wohl eher nicht.
Ein lauter Ton reißt mich hoch. Verdammt! Da bin ich gerade ... eingeschlafen. Der Tag beginnt ... Juhu. Eine innere Freudenparty macht sich in mir breit. Ausgelaugt – aber fertig angezogen – mache ich mich auf den Weg zur Meldung. Ryu steht dort und nickt mich ab. Er hört mir nicht zu, dass ich ein Anliegen habe. Er geht nur seine Morgenroutine durch. Na danke. Dann muss ich auf Cilai setzen und hoffen, dass er merkt, dass ich wirklich etwas Wichtiges zu sagen habe.
Im Speisebereich suche ich direkt nach Nilo. Als ich ihn entdecke, warte ich ab, ob er mich zu sich an den Tisch einlädt oder nicht. Ich muss ihn ja nicht als den outen, der mit dem Erdenbewohner abhängt. Dadurch würde ich ihn eventuell womöglich uncool machen. Es reicht, dass ich hier Ärger habe. Er winkt mir nicht zu. Okay, geheimer Gefährte. Dann nicht. Auch wenn ich ihn verstehen kann, schmerzt es trotzdem. Zugeben würde ich es nicht, vielleicht aber auch doch.
Vom Frühstück schleppe ich mich zu den Sanitäranlagen und stelle mich unter das kalte Wasser, lasse es auf mich niederprasseln. In der Hoffnung, dass es mir helfen kann, mich munter macht – und wenn es mich nur einen Hauch belebt. Damit wäre mir schon ein klitzekleines Bisschen geholfen. Das Wasser ist so kalt, dass es anfängt wehzutun wie Klingen, die sich in meine Haut bohren. Klingen ... Unwillkürlich drängt sich Sebs Bild vor meinem geistigen Auge. Ich wollte ihn nie mehr sehen, auch wenn ich froh war, dass er dort an meiner Seite stand. Doch durchgeknallt ist er alle Male. Jetzt bin ich extrem glücklich, erfahren zu haben, dass er hier ist. Er ist unsere Chance. Dass ich so etwas mal sagen würde ...
Oh man, muss ich dann beim nächsten Aufeinandertreffen mit Seb – oder Basti oder Tian oder was auch immer für ein Name – wieder irgendein Psycho-Rätsel lösen? Ich hoffe nicht. Letztes Mal war nur Glück, das ist mir bewusst.
Energischer greife ich zunächst das Handtuch, rubbel mich trocken und ziehe meine Kleidung wieder drüber.
Ich muss Cilai sofort darüber in Kenntnis setzen. Am besten auf dem Weg zum Training. Je eher, desto besser und er kann auch so schnell wie möglich jegliche Hebel in Bewegung setzen.
Auf dem Weg zum Trainingsplatz kann ich ihn entdecken – natürlich ganz vorne. Ich beeile mich, laufe im Eilschritt an den anderen vorbei – jedoch ohne irgendwen anzurempeln. Das aber provozieren sie, doch ich weiche allen aus. Sie machen es mir weiterhin schwer und sich selbst indirekt damit auch. Wenn sie nur wüssten ... Sie sollten mich lieber nicht aufhalten. Als ich endlich bei Cilai ankomme, sind wir auf dem Platz angekommen und er brüllt »Aufstellung!«
Ohne auf seinen Befehl einzugehen, schreite ich einen Schritt auf ihn zu. »Cilai, ich habe eine dr–«
»Ich sagte Aufstellung!«, unterbricht er mich und spuckt mich beinahe dabei an, vielleicht unabsichtlich, aber dennoch passiert es eben, wenn man jemanden aus dieser nahen Distanz Befehle zuschreit. Ich reihe mich in die Einheit ein und hoffe, dass ich kurz darauf eine Gelegenheit finde.
»Ab heute hast du jemanden an deiner Seite. Mich«, wird mir von hinten zugeflüstert. Nilo. Ein kleines Lächeln – das ich schnell wieder wegdrücke, weil es sich hier nicht gehört – schleicht sich auf meine Lippen. Sachte nicke ich und hoffe, er sieht es.
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