26 ☾ SIE
Mein Herz pocht. Es ist das einzige – neben dem Rauschen in meinen Ohren –, was ich auffasse. Das eintönige Piepen habe ich bereits ausgeblendet. Mein Verstand weiß nur darum Bescheid, dass es noch ertönen muss.
Das ist meine schuld. Was habe ich mir nur gedacht? Gar nichts. Meine Angst hat übernommen. In diesem Punkt hat Cil vermutlich recht. Cil. Dank ihm kenne ich die Abläufe hier. Da ich früher öfter mit ihm herkam, weiß ich genau, wie die Zelte vergeben werden; wo die Neuen unterkommen. Dann war es zwar noch ein kleines Ratespiel, aber ich war mir sicher, dass es nur das am Ende sein konnte, da Frederik als Letzter dazu stieß.
Ich bewundere Fritzi, dass sie nicht unvermittelt zu Frederik gelaufen ist – ohne Wenn und Aber. Damit hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht hätte sie es noch getan, wenn sie nicht auf die Hörmarkierung getreten wäre. Daraufhin ist sie jedoch weggelaufen. Das scheint sie zu sehr erschreckt zu haben. Sie sprang erst in die Luft und rannte weg. Nun bin ich hier doch alleine, ducke mich in der Dunkelheit in die Ecke und bin froh, dass einer der Bäume mir Schutz bietet.
Dreißig Sekunden sind verstrichen. Der Alarm ist verklungen. Ich atme etwas auf, denn ich weiß, dass keiner nachsehen wird, wenn der Alarm nicht anhaltend bleibt. Es ist gerade mucksmäuschenstill. Das ist meine schuld, dass er mit seinem Kompagnon nicht weitersprechen kann – worüber auch immer. Ich habe ihnen womöglich noch einen Schrecken eingejagt, in dem ich hier reingeplatzt bin. In Frederiks Intimsphäre. Wie konnte ich nur? Ich sollte gehen.
»Ich sollte wohl lieber gehen«, äußert nun Frederiks Besucher ebenso. Und ich sollte es ebenfalls tun. Langsam wende ich mich ab. Zufrieden, dass es Frederik wohl doch gut geht.
»Hey – äh, wie heißt du eigentlich?« Ich halte inne. Sie kennen sich gar nicht?
»Nilo.«
»Meinen Namen kennst du wahrscheinlich, kennt vermutlich jeder hier. Dein Nicken bestätigt mich. Nilo, du wolltest mir von Jeus Mutter erzählen.«
Mein Herz stockt. W-w-was hat meine Mutter hiermit zu tun? Ich presse meine Hand auf den Mund, um keine weiteren Laute zu machen. Dabei spüre ich, wie meine Augen und kurz darauf mein Gesicht feucht werden.
Von Nilo kommt keine Antwort.
»Du bist deswegen hierher gekommen, zu mir, meine ich. Also?«, hakt Frederik nach.
»Ich habe da etwas gehört«, beginnt Nilo leise und langsam. Sie beide sprechen sehr behutsam, dass ich Mühe habe, alles richtig zu verstehen. »Und ich habe ein schrecklich schlechtes Gefühl, wenn ich es nicht erzähle, aber auch ein mieses dabei, wenn ich es dir mitteile.«
»Du musst das tun, womit du dich besser fühlst.« Frederiks Erwiderung lässt erahnen, wie er Nilo anschaut, mit der sanften, aber auch eindringlichen Stimmfarbe. »Du bist ja auch nicht ohne Grund zu mir gekommen.«
»Ich habe gehört, dass es eventuell kein Unfall war. Lea ... Sie ...« Das kann nicht wahr sein. Oder doch? Nein. Mein Kiefer tut mir mit einem Mal weh, da merke ich, wie doll ich meine Zähne aufeinanderpresse. Genauso auch meine Hände zu Fäusten balle, um nicht laut aufschreien zu müssen. Was spricht er da? Das kann nicht stimmen!
»Lea ist der Name von Jeus Mutter?«
»Ja. Ja. Lea ist schon vor langer Zeit gestorben, Jeu war noch jung, ist sie ja noch immer.«
»Oh. Das habe ich nicht gedacht, dass es schon vor längerer Zeit passierte. Jeu kann sich sehr lebhaft an sie erinnern, denke ich.«
»Kann ich mir gut vorstellen. Sie ist wirklich ein fantastisches Mädchen und wird ihrer Mutter in nichts nachstehen.« Nilo unterbricht sich wieder und ich weiß nicht, wie lange ich es durchhalte, bis ich zusammenbreche. Das kann doch nicht die Wahrheit sein. Meine Sicht ist verschwommen. Ich kauere auf dem Boden. Es soll aufhören, aber mich wegbewegen kann ich ebenso wenig. »Lea liebte es zu schwimmen. Einer unserer Küstenwachen fand sie damals am Strand. Einfach schrecklich.«
Ich setze mich aufrechter hin. Ich schüttle mich und krieche ein wenig näher heran. »Das Meer hat sie dankenswerterweise – und dank des Mondes – wieder angespült. Doch da war sie bereits fortgegangen. Es heißt, sie hätte dieses Mal ihre Kraft nicht richtig eingeschätzt gehabt. Dabei – so heißt es auch – ist sie meist nicht weit ins Meer gegangen. ›Im flacheren Wasser kann man doch ebenso schwimmen‹, habe sie oft belustigt gesagt.« Ja, das hat sie. Er weiß so viel und doch ...
»Was glaubst du, was also passiert ist?« Ich höre Frederik an, dass er mit sich ringt. Auch ihn nimmt es wohl mit.
»Ich muss nichts glauben. Jemand soll ihr hinterher ins Wasser gegangen sein, habe sie weiter hinaus gedrängt und unter Wasser gedrückt. Wer und warum, das weiß ich nicht.«
Ich versuche aufzustehen, bekomme es aber nicht hin. Meine Kraft ist nicht bei mir. Ich halte mir den Bauch. Alles schmerzt so unglaublich doll. Was ist, wenn das wirklich stimmt? Er hat mit vielem recht ... und doch kann es nicht stimmen. Es darf nicht stimmen.
»Warte!«, ruft Frederik. Mein Zeichen, dass ich wirklich gehen sollte. Ich ertrage das nicht mehr. Ich muss hier weg. »Danke, dass du es mir erzählt hast. Wenn ich Jeu sehe und wir genug Zeit haben, hoffe ich, dass ich genug Mut habe, es ihr zu erzählen.« Die Worte von Frederik höre ich noch, als ich mich endlich aufrappeln kann.
»Es war das Mindeste, was ich tun konnte«, erwidert Nilo traurig.
Und dann laufe ich. Wie schon so oft. Aber dieses Mal nicht um mein Leben. Sondern aufgrund ihres. Vielmehr wegen ihres Todes und wie ihr Leben zu Ende ging.
Als ich aus dem Trainingscamp heraus bin, laufe ich neben den Pfaden umher. Mir ist es gleich, wohin.
Mama. Mama. Mama. Kein Unfall also. Womöglich. Vielleicht auch doch? Vielleicht sind es nur Gerüchte? Aber wenn es wahr ist? Hat Papi es gewusst? Oder Cil? Oder beide? Wer dann noch? Wurde ich die ganzen Jahre belogen? Gibt es hier überhaupt die harmonische, friedliche Welt, von der ich es dachte? Habe ich all diese Lügen einfach nur weiter getragen, obwohl nichts davon stimmt?
Irgendwo, ich habe keine Ahnung, wo ich mich genau befinde, brechen mir meine Beine weg. Auch das ist mir egal. Nicht nur egal. Ich nehme den Fall gerne an.
Wieso werde ich in so vielem belogen? Warum wurde ihr Leben auf diese Weise beendet?
Ich bleibe liegen und lasse es alles aus mir heraus. Meine Tränen vermischen sich mit dem braunen Matsch vom Boden. Es ist mir gleich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich dort liege, zieht eine Böe über mir vorüber und bringt etwas Wärme. Sie fühlt sich an, als würde sie mir über den Rücken streicheln.
»Mama?«, flüstere ich zwischen den Bäumen und Blumen, wobei mir erneut einzelne Tränen hochsteigen. Wieder gleitet eine sanfte Böe an mir herüber. »Danke«, hauche ich ihr zu und setze mich auf. Dabei entdecke ich Fritzi, die nur einen Meter von mir entfernt über mich zu wachen scheint.
Ich winke der süßen Hündin zu, für die ich so viel Liebe empfinde, woraufhin sie gleich zu mir herüberkommt und mir durch das Gesicht schleckt. Damit bringt sie mich zum Lächeln.
»Komm, wir gehen nach Hause.« Der Tag ist längst angebrochen. Auch wenn ich wütend, traurig, frustriert und noch so vieles mehr bin, möchte ich erst einmal zurück. Vor der Tür hockt Dira. Sie hebt ihren Kopf. Ihr Blick ist voller Sorgen.
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