Kapitel 5
Gwen Frost
Angst. Das war das Einzige, das ich für einen viel, viel zu langen Moment wahrnahm. Dann verebbte das Gefühl langsam und ich bemerkte nach und nach andere Dinge.
Es war stockduster, nur der Mond spendete ein wenig Licht, und ich stand vor einem großen Tor, welches mich an das Ein- und Ausgangstor hier in Mythos erinnerte. Aber es war nicht dasselbe.
Der Unterschied bestand darin, dass es sich hier um zwei Greife handelte, welche rechts und links vom Tor lauerten, nicht um zwei Sphinxe. Aber auch bei diesen Greifen spürte ich das Gleiche wie bei den Statuen in Mythos - irgendeine uralte, gewalttätige Macht, die mich in Stücke reißen könnte.
Vor diesem Tor stand eine Person. Ich sah einen dunkelhaarigen Jungen, welcher ganz in schwarz gehüllt war und von innen an die linke Säule vom Tor gelehnt war. Er blickte hinaus in die Dunkelheit und schien auf jemanden zu warten, während er mit den Händen an etwas herumhantierte, das immer wieder leise klimperte und trotz des schwachen Lichts leicht aufblitzte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich dabei um den Gegenstand handelte, welchen ich gerade in der Hand hielt. Über seiner Schulter hatte er einen Beutel hängen, welcher als einziges nicht schwarz war, sondern diesen typischen hellbraunen Ton eines Jutebeutels hatte.
Plötzlich stieß sich der Junge von der Wand ab und lief einer zweiten Person entgegen, welche gerade in meinem Blickfeld erschien.
Diesmal handelte es sich um ein, soweit ich es erkennen konnte, bildhübsches Mädchen mit schwarzen, stark gelockten Haaren, welches auch schwarze Klamotten trug und dem Jungen mit bedachten aber zügigen Schritten entgegenkam. Über ihrer linken Schulter hing eine ebenfalls schwarze Tasche, welche bis obenhin zugestopft war. An ihrer Hüfte hing ein Schwert, was mich jetzt nicht allzu sehr überraschte.
Als sich die beiden gegenüber standen, konnte ich erkennen, dass das Mädchen einen dunkleren Teint hatte und ihre Wurzeln somit vermutlich in einer südlicheren Region hatte. Die beiden blickten sich für einen langen Moment schweigend an, bevor sich das Mädchen räusperte und anfing zu sprechen. "Du hättest nicht so nah kommen sollen."
Der Junge ging nicht darauf ein, sondern lächelte sie nur schwach an. "Ich hab noch was für dich", flüsterte er mit rauer Stimme und streckte dem Mädchen seine offene Hand entgegen, in welcher sich das Ding befand.
Bei diesem Ding handelte es sich um ein silbernes Armband, wie ich nun erkennen konnte, welches mehrere Anhänger hatte. Leider war es zu dunkel um Details auszumachen. Vermutlich hielt ich in diesem Moment einen dieser Anhänger in der Hand, welcher diese Erinnerung preisgab.
"Danke", antwortete das Mädchen mit kaum hörbarer Stimme und nahm das Armband, welches sie zusammen mit ihrer Hand in der Jackentasche verschwinden ließ. "Ich sollte jetzt gehen."
"Ich weiß", erwiderte er, machte aber keine Anstalten sich zu verabschieden. "Lass mich dich noch ein Stück begleiten", bat er dann. Mir fiel auf, dass beide einen britischen Akzent hatten, woraus ich sinnvollerweise schloss, dass wir uns momentan im Vereinigten Königreich befanden.
"Du weißt, dass das zu gefährlich ist. Ich mache das ganze hier, um dich zu beschützen. Ich werde kein Risiko mehr eingehen", sagte die Schwarzhaarige, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie sich seine Begleitung mehr als alles andere wünschte. "Hast du alles besorgt, worum ich dich gebeten habe?"
"Natürlich", er seufzte kaum hörbar und holte nach und nach Dinge aus seinem Beutel.
Beim ersten Gegenstand handelte es sich um ein Brillenetui, welches das Mädchen direkt öffnete. Sie musterte die sich darin befindende schwarze Brille, setzte sie aber noch nicht auf und schloss die Schachtel wieder.
Danach gab der Junge ihr irgendwas kleines aus Papier. Beim genauen Hingucken fiel mir auf, dass es sich um einen Reisepass, sowie einen Personalausweis und Führerschein handelte. Die darauf geschriebenen Namen konnte ich in dieser Dunkelheit nicht mal annähernsweise erkennen, egal wie sehr ich mich bemühte.
Der letzte Gegenstand war ein Prepaid-Handy. Die Schwarzhaarige schien damit nicht gerechnet zu haben und schaute ihren Gesprächspartner, Freund oder was auch immer, dementsprechend verwirrt an.
"Ich hab meine Nummer eingespeichert", sagte der Junge. "Ich dachte... Ich hatte gehofft, dass du vielleicht mal anrufen wirst."
"Michael", das Mädchen schaute Michael, ihren Freund - ich hatte einfach mal entschieden, dass die beiden ein Paar waren - gequält an, "du weißt doch, dass das nicht geht. Ich kann nicht zulassen, dass sie eine Verbindung zu dir finden können." Trotz ihrer Aussage ließ sie das Handy in ihrer Hosentasche verschwinden.
"Also", die Stimme des Jungen brach und er musste sich einen Moment nehmen, um weitersprechen zu können, "also werde ich nie wieder von dir hören?"
"Es tut mir leid", das Mädchen schien überraschend gefasst zu sein, da sie mit dem ganzen schon gerechnet zu haben schien. "Ich werde probieren einen Weg zu finden, aber ich kann nichts versprechen."
Michael nickte daraufhin bloß und kämpfte damit seine Tränen zurückzuhalten, welche sich in seinen Augen gesammelt hatten. Als ihm dennoch eine einzelne Träne stumm über die Wange lief, trat das Mädchen näher zu ihm heran und wischte ihm diese weg. Ihre Hand ließ sie an seiner Wange liegen und strich sanft darüber. "Ich liebe dich, Michael. Vergiss das nicht. Ich werde versuchen eine Lösung zu finden, aber warte nicht auf mich. Versprich mir das, okay?"
"Niemals", sprach Michael diesmal mit sichererer Stimme. "Sei vorsichtig, Blake."
"Versprochen", antowortete Blake und lächelte ihn schwach an. "Ich werd mein Bestes geben, wie immer." Sie schaute ihm einen Moment vertträumt in die Augen und schien kurz zu vergessen, was gerade passierte. Dann wurde ihr Blick wieder klar und sie entfernte ihre Hand von seiner Wange.
"Ich muss jetzt los, Michael", sie klappte erneut das Etui auf und holte die Brille heraus. Es war ein schwarzes Gestell, welches keinerlei Auffälligkeiten hatte, sondern so durchschnittlich wirkte, wie nur möglich.
Bevor Michael antworten, beziehungsweise sie aufhalten konnte, handelte seine Freundin schon. Blake streckte sich und gab ihrem Freund einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor sie an ihm vorbeidrängte und zum Tor eilte. Michael blieb überfordert stehen, sagte nichts, sondern drehte sich bloß schweigend um, um Blake nachzuschauen. Diese quetschte sich gerade seitlich durch die Gitterstäbe des Tores hindurch und ihre Sillhouette verschwamm langsam mit der restlichen Dunkelheit.
Kurz bevor sie vollständig in den Schatten verschwand, dreht sie sich ein letztes Mal zu Michael um. Und in diesem Moment passierte etwas... ziemlich, ziemlich Seltsames.
Während Blake sich die schwarze Brille auf die Nase schob, veränderte sich ihre äußere Erscheinung.
Aufgrund der Dunkelheit konnte ich nicht genug erkennen, aber als Blake sich wieder abwandte und losging, waren ihre Haare nicht mehr stark gelockt und kurz, sondern nur noch leicht gewellt und reichten ihr bis zur Mitte ihres Rückens.
Und dann endete die Erinnerung.
Ich ließ den Gegenstand los, um keine weiteren Visionen zu haben und blinzelte leicht, da es mir schwer viel das eben Geschehene zu verstehen.
Blake, ein britisches Mädchen, mit lockigen, kurzen Haaren, welches keine Brille trug, hatte sich innerhalb einer Sekunde in jemand gefühlt völlig anderen verwandelt. Und zwar in ein britisches Mädchen, welches stets schwarze Klamotten trug, eine schwarze Brille besaß und lange, braune Haare hatte.
Scheiße.
Verdammte Scheiße.
Blake war eigentich Myla.
Beziehungsweise Myla war Blake, wenn man berücksichtigte, dass das scheinbar ihre wahre Identität war.
Mein Blick richtete sich auf den Gegenstand. Wie ich schon vermutet hatte, handelte es sich um einen Anhänger des Armbands, welches Michael Myla geschenkt hatte. Oder besser gesagt Blake - was auch immer, das ganze überforderte mich.
Der Anhänger stellte eine kleine Eule da. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war, dass die Eule eins der Symbole von Athene war. Der griechischen Göttin der Weisheit. Aber das war dann auch das Einzige, das mir auffiel.
Vermutlich hatte sich der Veschluss gelöst, als ich mit Myla, oder vielmehr Blake, in der Bibliothek gearbeitet hatte. Und dann war es versehentlich in meiner Tasche gelandet, wo ich es dann schließlich vor wenigen Minuten gefunden hatte.
"Scheiße", fluchte ich laut.
Ich fuhr mir gestresst durch die Haare und schaute auf Unterstützung hoffend zu Vic, welcher aber immer noch das Auge geschlossen hatte. "Das war bestimmt alles nur Einbildung", redete ich mir selber zu und atmete einmal tief durch.
Dann griff ich wieder nach dem silbernen Anhänger und durchlebte wieder die gleiche Szene wie zuvor. Aber diesmal ließ ich den Anhänger nicht los, sondern wartete ab, was mir noch gezeigt wurde.
Ich sah Myla, wie sie das Armband das erste Mal anlegte - und danach nie wieder ablegte.
Ich sah, wie sie immer wieder mit den einzelnen Anhängern spielte.
Ich spürte ihre Traurigkeit, weil sie Michael vermisste.
Ich spürte ihre Angst und Sorge, weil sie nicht wusste, wie es Michael erging und ob er in Gefahr war oder nicht.
Und dann wechselte die Szenerie.
Statt Blake sah ich nun Logan. Er trug seine Sportklamotten und befand sich in der Sporthalle hier in Mythos. Auch die anderen Kursmitglieder konnte ich erkennen, Myla eingeschlossen.
Ich konzentrierte mich auf Logan, da es mir so vorkam, als wenn er diesmal der wichtigste Akteur war. Und ich sollte Recht behalten.
Ich sah, wie Logan sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Dabei handelte es sich unzweifelhaft um die kleine Eule.
Das Komische war, dass er den Anhänger ohne Kommentar in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
Im nächsten Moment, befand ich mich im Speisesaal. Logan saß an dem Tisch, wo wir heute gemeinsam zu Mittag gegessen hatten. Meine Tasche stand schon dort, da ich mir in diesem Moment etwas zu Essen geholt hatte. Und in diese ließ Logan den Anhänger fallen.
Das konnte doch nicht wahr sein.
Ich ließ die Eule wieder los und sackte geschafft in meinem Stuhl zusammen.
Also hatte Logan weiterhin vermutet, dass mit Myla etwas nicht stimmte. Damit hatte er ja scheinbar Recht. Und deswegen hatte er den Anhänger genommen und mir gegeben, damit ich Myla überprüfen konnte. Was ich soeben eher unfreiwillig getan hatte.
Myla war also eine Lügnerin und hieß eigentlich Blake.
Das war eigentlich das Wichtigste, das ich gerade erfahren hatte.
Nur wusste ich nicht so recht, was ich damit anfangen sollte.
Das konnte doch jetzt nicht unweigerlich bedeuten, dass sie böse war, oder?
Der Gedanke war naiv - das wusste ich - aber es war das Einzige, das noch dafür sorgen konnte, dass ich diese Nacht noch Schlaf fand.
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