Kapitel 4
Gwen Frost
Es war genau eine Woche vergangen, seitdem ich mich das letzte Mal richtig mit Myla unterhalten hatte, sie gegen Logan im Schwertkampf gewonnen hatte und die ganze Schule darüber diskutiert hatte, wer nur das neue, mysteriöse Emo-Mädchen war.
Die Situation hatte sich zwar wieder beruhigt, aber ich fand es schade, dass Myla mir aus dem Weg gehen wollte. Das größte Problem daran war, dass sie dabei ziemlich erfolgreich war.
Wir saßen zwar während des Unterrichts bei Professor Metis nebeneinander, aber ihre Antworten auf gelegentliche Fragen von mir fielen noch kürzer aus, als vor sieben Tagen. Das einzig positive war, dass sie mich nicht komplett ignorierte, oder so tat, als würde ich gar nicht existieren.
"Da die Stunde schon in zehn Minuten endet, würde ich noch gerne mit euch über eure Hausaufgaben sprechen", ertönte Metis Stimme und riss mich aus meinen Gedanken. Auch wenn Mythengeschichte mein Lieblingsfach war, was größtenteils an der Lehrerin lag, driftete ich in letzter Zeit häufig völlig vom Thema ab und bemerkte es meist erst nach längerer Zeit. "Ihr tut euch alle bitte zu zweit zusammen und bereitet gemeinsam eine Präsentation für den Unterricht vor."
Keine Sekunde später brach pures Chaos aus, da jeder sichergehen wollte, seine beste Freundin oder seinen besten Freund als Partner haben zu können. Nur ich blieb still auf meinem Platz sitzen und wartete ab, bis Metis wieder weiterreden konnte. Wobei, das stimmte nicht so ganz; ich war nicht die Einzige. Myla saß ebenso schweigend neben mir und seufzte bloß über das kindische Verhalten unserer Mitschüler.
Und in diesem Moment wurde es mir klar. Da jeder Schüler schon seinen Lieblingspartner hatte, blieben nur noch Myla und ich übrig. Das bedeutete, dass wir zusammen an der Präsentation arbeiten würden. Und das bedeutete widerum, dass sie endlich mal mit mir reden müsste.
Während ich schon darüber nachdachte, wie ich Myla am Besten zum reden bekam, erklärte Professor Metis, welche unterschiedlichen Themen es gab und, dass jedes Pärchen sich vor Ende der Stunde bei ihr mit einem Thema gemeldet haben sollte.
"Und, welches Thema findest du am interessantesten?", fragte ich Myla, welche scheinbar auch schon begriffen hatte, dass sie mit mir zusammen arbeiten musste. Was sie davon hielt, erkannte ich leider nicht, da sie keine Miene verzog.
"Mir egal. Entscheid du, oder wir nehmen das, das übrig bleibt." Damit war die Sache für sie geklärt und ich sollte wohl allein entscheiden, womit wir uns in nächster Zeit beschäftigen würden.
"Wärst du einverstanden, wenn wir Ragnarök nehmen?", hakte ich nach, obwohl sie ja zuvor deutlich gemacht hatte, dass es ihr ziemlich egal war. Aber das Ende der Welt war doch immer ein schönes Thema für einen Vortrag.
"Meinetwegen", stimmte sie zu, "hör mal, Gwen. Ich bereite den Vortrag einfach alleine vor und gebe dir alle Informationen, die du brauchst." Sie klang ziemlich entschlossen, aber ich würde mir diese Gelegenheit keineswegs entgehen lassen.
"Das kannst du vergessen, Myla. So schnell wirst du mich nicht los", mit diesen Worten stand ich auf und meldete mich schnell bei Metis, damit uns keine andere Gruppe das Thema wegschnappen konnte.
Wir verabredeten uns dafür, dass wir uns nach dem Unterricht in der Bibliothek der Altertümer treffen würden, um schon mal die grobe Struktur unseres Vortrags festzulegen.
Myla schien zwar immer noch begeistert davon zu sein, dass ich unbedingt an dem Projekt mitmachen wollte, aber das war mir ziemlich egal.
Fünf lange und nervige Schulstunden später war es dann endlich so weit. Ich fand es zwar doof, mein Treffen mit Grandma Frost nicht wahrnehmen zu können, aber was tat man nicht alles, um die Geheimnisse einer neuen Mitschülerin zu lüften.
Als ich in der Bibliothek eintraf, hatte Myla sich schon an einen der Tische gesetzt und ihre Unterlagen ausgebreitet. Sie schien es wohl echt eilig zu haben, da sie schon die nötigen Bücher besorgt hatte und fleißig dabei war, die wichtigsten Fakten zu notieren.
Bei ihren Unterlagen befand sich auch ihre schwarze Brille, welche sie immer ablegte, wenn sie mit Büchern arbeitete. Daraus schloss ich, dass sie kurzichtig war und somit nur Probleme hatte in der Ferne etwas zu erkennen.
"Na, wie geht's?", fragte ich lächelnd und ließ mich schwungvoll gegenüber von ihr auf den Stuhl fallen.
"Gut. Habe schon Bücher rausgesucht und die relevanten Seiten markiert", erklärte sie mit nüchternem Tonfall und blickte währenddessen nicht mal von ihren Notizen auf. "Wenn du willst, kannst du dich hiermit auseinandersetzen", sie nahm eins der dicken, alten Bücher und legte es vor mich auf den Tisch - immer noch ohne mich anzusehen.
"Ähm... klar, mach ich", sagte ich sichtlich überrumpelt und schlug das Buch auf.
In der kommenden Stunde arbeiteten wir fleißig an unserem Thema und kamen zu zweit ziemlich schnell voran. Manchmal konnte ich den Drang nicht unterdrücken und probierte mit Myla eine Konversation aufzubauen, was mir aber nicht gelang.
Auf die Frage, wie ihr Tag war, antwortete sie bloß mit "Gut".
Das Wetter fand sie "schön".
Ihre Lehrer waren alle "nett".
Und die anderen Schüler hier auf Mythos waren "ganz okay".
Kein einziges Mal verwendete sie mehr als zwei Worte, um zu antworten.
Schließlich gab ich es auf und beschäftigte mich stumm mit meinen Unterlagen, welche noch durchgearbeitet werden mussten. Myla schien mein Schweigen sehr gelegen zukommen, da sie innerhalb der nächsten Stunde kein Wort mehr mit mir wechselte.
Ich hätte erwartet, dass Myla es schwer fallen würde sich lange zu konzentrieren, aber trotz ihrer Unruhe fiel es ihr nicht schwer, mehrere Stunden lang konzentriert zu arbeiten. Sie saß zwar nicht still - entweder kippelte sie mit dem Stuhl, spielte mit ihrem Stift oder wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger - aber sie war vollkommen auf unser Thema fokussiert.
Als sie dann aber schließlich ohne ein Wort zu sagen ihre Tasche packte, reichte es mir. "Was ist los mit dir, Myla?", war das erste, was ich fragte, um sie aufzuhalten. "Ich weiß, dass mit Logan ist doof gelaufen, aber... wieso redest du nicht mehr mit mir und gehst mir dauerhaft aus dem Weg?"
"Ich rede mit dir." Das war alles, was sie dazu sagte.
"Jetzt stell dich wenigstens nicht dumm, Myla", sagte ich genervt. "Nur weil Logan sauer auf dich ist, heißt das nicht, dass du nicht mehr mit mir reden kannst."
Die Schwarzhaarige schwieg einen Moment, bevor sie auf meine Fragen einging. "Ich kann darauf verzichten, mich weiter mit Logan anzulegen. Die ganze Aufmerksamkeit wegen dem Kampf... gefällt mir nicht. Daher dachte ich, dass es das Beste wäre, mich von euch fernzuhalten."
Wow. So viele Wörter hatte ich sie noch nie zuammenhängend sagen hören.
"Das ist alles?", hakte ich verwirrt nach. "Du willst nicht, dass die anderen Schüler über dich reden?"
"Ja. Aber das solltest du doch auch verstehen, oder nicht, Gypsymädchen?", sie grinste mich verschmitz an, woraufhin ich nur seufzen konnte. Also hatte auch sie das ganze Zeug gehört, das an der Schule so über mich erzählt wurde.
"Ja ja, Emo-Mädchen", gab ich zurück, was von Myla allerdings einfach durch ein Schulterzucken abgetan wurde. "Darf ich dich bis zu unserem Wohnheim begleiten, oder willst du alleine gehen?", fragte ich schließlich und wartete gespannt auf Mylas Antwort.
"Wenn du mir erklärst, wieso du so versessen darauf bist, mit mir zu reden, kannst du gerne mitkommen", stellte sie als Bedingung und schulterte ihre Tasche.
"Solange deine Sätze mindestens drei Wörter beinhalten, haben wir nen Deal. Du weißt schon... Subjekt, Prädikat, Objekt", sagte ich grinsend, da ich mich gerade ziemlich lustig fand.
"Du bist ziemlich komisch, Gypsymädchen."
Da Myla schon Anstalten machte loszugehen, stopfte ich schnell das letzte Buch in meine Tasche. Kurz bevor ich losgehen wollte, sah ich, dass Myla ihre Brille auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Ich wollte schon danach greifen, als Myla mir zuvor kam und die Brille blitzschnell vor meinen Augen wegschnappte. Ich schaute sie verwundert an, reagierte aber nicht weiter drauf und lief gemeinsam mit ihr zum Ausgang.
"Also schieß los", forderte mich Myla auf, als wir die Bibliothek der Altertümer verlassen hatten. "Was bringt dich dazu, mit mir zu reden, wo es doch sonst keiner tut."
Ich überlegte einen Moment, beschloss dann aber einfach die Wahrheit zu sagen. Zumindest einen kleinen Teil der Wahrheit. "Vor nicht allzu langer Zeit war ich die komische Neue hier und keiner hat mit mir geredet. Ich dachte mir, dass du es vielleicht schön fändest, jemanden zu haben, der nicht so tut, als würde man nicht existieren."
"Also bist du einfach nur nett zu mir, weil du Mitleid hast." Natürlich fasste sie meine Erklärung vollkommen falsch auf.
"Nein, ich bin einfach nur nett zu dir, weil ich nett bin", verbesserte ich sie, woraufhin Myla mal wieder mit den Schultern zuckte.
"Läuft das nicht auf's Selbe hinaus?"
"Nein, tut es nicht", ich seufzte und atmete einmal tief durch. "Hör mal, wenn du nichts mit mir zu tun haben willst, okay, dann sag mir das. Aber ansonsten hätte ich nichts dagegen, wenn wir normal miteinander reden können", sagte ich schließlich und stellte sie somit endgültig vor die Wahl. Da wir schon beim Styx angekommen waren, hatte ich mich dazu entschlossen, das ganze schnell abzuklären.
"Ist ja gut, Gypsymädchen, du hast gewonnen." Ich weiß, es ist unglaulich, aber ich hatte es tatsächlich geschafft.
"Gute Entscheidung", erwiderte ich grinsend und trat mit ihr ins Innere des Wohnheims. "Wir sehen uns dann morgen beim Mittagessen, okay?" Ich grinste noch breiter, als Myla nickte und ging dann entspannt weiter zur Treppe des Wohnhauses.
"Mein Zimmer ist im Erdgeschoss, also bis morgen", Myla lächelte mich zur Verabschiedung leicht an und wollte sich schon aus dem Staub machen, als ich sie nochmal aufhielt, um sie nach ihrer Zimmernummer zu fragen.
Nachdem sie mir diese mitgeteilt hatte, ließ ich sie ziehen und machte mich selber auf den Weg in mein Zimmer. Das triumphierende Grinsen, welches sich auf meine Lippen geschlichen hatte, blieb den ganzen Weg bis in den zweiten Stock über da.
In meinem Zimmer angekommen, hängte ich mein sprechendes Schwert Vic wie üblich an die Wand und stellte meine Tasche neben den Schreibtisch. Vic hatte den Tag über die ganze Zeit geschlafen und fand scheinbar auch meine jetzige Anwesenheit nicht spannend genug, um mal sein Auge zu öffnen. Solange es keine Schnitter oder andere Monster zum Umbringen gab, fand Vic es zu langweilig.
Ich seufzte und verschwand im Badezimmer, wo ich mir die Zähne putzte und meinen flauschigen purpurnen Schlafanzug anzog. Zurück im Zimmer ließ ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen, um meine Tasche auszuräumen. Ich packte mein Mäppchen, zwei Bücher über Ragnarök raus, sowie meine Unterlagen zu Chemie, Englischer Literatur und Mathe.
Ich war schon halb aufgestanden, als ich etwas in meiner Tasche funkeln sah. Es schien als würde sich das Licht meiner Schreibtischlampe auf etwas Kleinem reflektiert werden, dass in meiner Tasche lag.
Verwundert ließ ich mich zurück auf den Drehstuhl fallen und griff ohne groß nachzudenken nach dem funkeldem Gegenstand. Da es sich um meine Tasche handelte, müsste dieses komische Ding wohl auch mir gehören, auch wenn ich es noch nicht hatte erkennen können. Aber dem war nicht so.
Somit wurde ich direkt mit fremden Gefühlen und Erinnerungen konfrontiert.
Bevor ich allerdings etwas sehen konnte, spürte ich bloß nackte Angst. Die Angst jemanden zu verlieren, den man liebt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro