Kapitel 17
Blake Henderson
Für etwa fünf Tage tauchte das Protektorat nicht mehr auf. Und auch, wenn ich froh war, Linus Quinn nicht nochmal ins Gesicht blicken zu müssen, beunruhigte es mich. Würde das jetzt heißen, dass der Prozess abgeschlossen wäre? Würde ich einzig und allein wegen meiner Verbindung zu Ares nicht mal die Chance bekommen etwas zu erklären oder mich zu verteidigen?
Ich bezweifelte, dass ich die Meinung von jemandem wie Linus Quinn verändern konnte, aber die eigene Verteidigung war doch eigentlich ein fester Bestandteil eines Prozesses. Egal, wer auf der Anklagebank saß.
Mittlerweile war ich in eine der Zellen verfrachtet worden, was mich in meiner Annahme bestärkte, dass ich nicht weiter befragt werden würde. Allerdings kam es mir in soweit entgegen, als das ich mich endlich mal hinlegen und vernünftig schlafen konnte - auch, wenn mein "Bett" alles andere als bequem war. Und auch an Privatsphäre mangelte es reichlich.
Anhand der Mahlzeiten, die mir gebracht wurden hatte ich mir ausgerechnet, dass ich mittlerweile schon sechs Nächte hier im Gefängnis verbracht hatte und so langsam hatte ich das Gefühl durchzudrehen. Niemand wechselte mehr als ein paar Worte mit mir und meine einzige Beschäftigung bestand so ziemlich darin, die Steine zu zählen, die mich umgaben. Mittlerweile würde ich mich sogar über eins von Ravens Klatschmagazinen freuen.
Meine Zelle öffnete sich und ich richtete mich auf, in der Erwartung mein Abendessen zu bekommen. Stattdessen blickte ich Linus Quinn und seinen zwei Gefolgsleuten entgegen. Es waren die gleichen, die mich auch vor einer knappen Woche empfangen hatten.
"Auf den Boden knien und Hände hinter den Kopf", befahl Sergei. In seiner Hand konnte ich eiserne Handschellen sehen. Jedoch fehlte die Kette, die die beiden Metallringe normaler miteinander verband. Stattdessen waren sie direkt miteinander verbunden, um mir auch die letzte Bewegungsfreiheit zu nehmen.
"Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend", begrüßte ich sie, erhob mich langsam von meinem so genannten Bett und musterte die Neuankömmlinge nacheinander. Alle drei waren mit jeweils einem Schwert bewaffnet, vielleicht auch mit weiteren Dolchen oder Messern. Es wäre durchaus vorstellbar, dass ich sie in der richtigen Situation überwältigen konnte. Nur würde ich dann vermutlich trotzdem nicht aus diesem Gefängnis herauskommen.
"Mit dem Rücken zu uns hinknien, Hände hinter den Kopf und Beine überkreuzen", ertönte erneut der Befehl, was mich jedoch nicht direkt handeln ließ. So wie es schien, hatten die drei Protektoratsmitglieder gewaltig Respekt vor mir und würden jedem Kampf aus dem Weg gehen.
Ich zögerte noch einen Moment, um nochmal nach einem Ausweg zu suchen. Ohne Erfolg gab ich schließlich nach und kniete mich hin. Sobald ich die Hände hinter dem Kopf und die Beine überkreuzt hatte, hörte ich sich mir nähernde Schritte.
Kurz darauf spürte ich das kalte Metall um mein rechtes Handgelenk, welches gewaltsam hinter meinen Rücken gezogen wurde. Die Handschellen schlossen sich um mein zweites Handgelenk und ich wurde auf die Füße gezogen.
Sergei hatte wirklich auf alles geachtet, das musste ich zugeben. Meine Handflächen waren bei der Fesselung nach außen gedreht worden, sodass mir noch weniger Aktionsradius blieb, als ohnehin schon. Zudem zeigten die Schlüssellöcher nach oben, wodurch es zusätzlich erschwert wurde, diese zu manipulieren.
Ich hatte mit einem blöden Spruch von Linus Quinn gerechnet, aber er schwieg und ging voran zur Treppe. Das zweite Protektoratsmitglied ergriff meinen Oberarm und ich wurde in der Mitte der beiden Männer die hunderten Stufen hochgezogen.
"Blake, bist du das?"
Ich schaute mich verwirrt um. Wir waren gerade aus dem naturwissenschaftlichen Gebäude treten und steuerten nun auf den schwarzen SUV zu, welcher ein paar Meter entfernt stand. Und an diesem lehnte Gwen, welches sich jedoch schleunigst vom Wagen abstieß und auf mich zueilte.
"Bist du das, Blake?", fragte sie erneut und blieb vor mir stehen, trotz Linus' genervtem und warnendem Blick. Ihre Frage ließ mich kurz stutzen, bevor ich realisierte, dass Gwen mich noch nie in meiner richtigen Erscheinung gesehen hatte.
Sie kannte nur das Aussehen von Myla Johnson und das von Blake Collins, das Mädchen dessen Identität ich in meiner Zeit an der Londoner Mythos Academy angenommen hatte.
Ich blickte in die verdunkelte Fensterscheibe des SUV und stutzte erneut. Die vier Jahre hatten wohl doch mehr verändert, als ich erwartet hatte. Meine Haare waren sehr viel länger als früher und reichten mir knapp bis unter die Brust. Abgesehen von den kaputten Haarspitzen, waren meine Haare von fettigen und verdreckten Strähnen durchzogen.
Mein Gesicht sah... anders aus. Wie jeder Teenager durchlief ich momentan die Pubertät, was selbstverständlich auch Einfluss auf mein Aussehen hatte. Was mich aber mehr schockierte, war die Narbe, welche sich seitlich an meinen Hals entlangzog.
Bei meiner Flucht auf die Mythos Academy in London war ich verletzt worden. Ich hatte unglaubliches Glück, dass der Schnitt weder Halsschlagader, noch Luftröhre verletzt hatte, aber dennoch blieb die knapp zehn Zentimeter lange Narbe.
"Es tut mir so leid, Blake!"
Gwens Stimme riss mich aus meinen Gedanken und holte mich zurück in die Gegenwart. Mein Blick traf den ihren und ich kniff die Augen zusammen. "Lass mich in Frieden, Gwen."
"Blake, bitte!", sagte die Gypsy verzweifelt. "Das war doch nicht meine Absicht!"
Gwen redete weiter, aber ich hörte ihr nicht mehr zu, während mich die Männer zum Auto zogen und auf die Rückbank drückten. Erstaunlicherweise saß ich dort nicht alleine, sondern direkt neben dem Bibliothekar Nickamedes.
Die Autotür wurde zugeknallt und für einen Moment herrschte Stille. "Es tut mir leid, Blake", sprach Nickamedes und schaute mich mitleidig an.
"Das sagen heute erstaunlich viele Leute zu mir", erwiderte ich, "dennoch scheint niemand etwas an meiner Hinrichtung zu ändern."
"Ich habe getan, was ich konnte", Nickamedes seufzte, "aber Menschen wie Linus hören anderen nicht gerne zu."
Ich zuckte bloß mit den Schultern und ging nicht weiter darauf ein.
"Es tut mir leid", sagte er erneut, verstummte aber, sobald die vorderen Autotüren geöffnet wurden.
Die Autofahrt verlief schweigend. Ich wusste weder, wo wir genau hinfuhren, noch wie lange die Fahrt dauern würde. Aber die Strecke würde vermutlich kurz genug sein, um in einem durchzufahren.
Als wir das Gelände der Mythos Academy verlassen hatten, waren noch zwei weitere SUVs zu uns gestoßen, welche uns jeweils vorne und hinten flankierten. Scheinbar schloss das Protektorat nicht aus, dass wir unterwegs von Schnittern angegriffen wurden, die mich angeblich befreien wollten.
Ich hatte keine Ahnung, worüber die Schnitter Bescheid wussten und konnte mir daher auch keine begründeten Sorgen machen. Ob sie nun kamen, oder nicht, es würde nichts daran ändern, dass ich in der nächsten Zeit sterben würde.
An der jetzigen Situation konnte ich nichts ändern, also musste ich wohl einfach abwarten. Trotz der Fesseln, die unangenehm in meine Haut schnitten und der Position, in die meine Arme gezwungen wurden, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Bis zur Explosion.
Ein lauter Knall ertönte, der mich aus meinem Sitz fahren ließ. Unser Wagen geriet ins Schlittern und blieb nach einigen Metern schließlich mitten auf der Straße stehen.
Ein kurzer Blick aus der Frontscheibe verriet mir, was geschehen war. Eine Bombe hatte den ersten Wagen des Konvois in die Luft gesprengt, dessen Überreste jetzt circa hundert Meter entfernt am Straßenrand standen. Ich bezweifelte, dass irgendjemand in diesem Wagen überlebt haben könnte.
Und dann kamen die Schnitter. Mehrere Wagen bogen auf die Straße und hielten mit etwas Abstand vor uns. Innerhalb weniger Sekunden blickten wir Duzenden Schnittern entgegen.
"Drehen Sie um!", herrschte ich den Fahrer an, welcher immer noch vollkommen paralysiert war. "Drehen Sie den Wagen und fahren Sie, verdammt nochmal!"
"Das hätten Sie wohl gerne!", widersprach Linus Quinn mit fester Stimme. "Du bleibst hier, Nickamedes, lass sie nicht aus den Augen. Der Rest steigt aus und kämpft." Und das war das Signal. Den restlichen Protektoratsmitgliedern aus dem anderen Wagen hatte er scheinbar per Funk den Befehl erteilt, sodass ich kurz darauf alleine mit Nickamedes im SUV saß und zusehen musste, wie sich ein halbes Duzend Protektoratsmitglieder mehr als zehn Schnittern entgegenstellte.
"Dreh dich um", ertönte Nickamedes gehetzte Stimme. Ich schaute ihn verwirrt an und wusste nicht recht, was er von mir wollte. "Dreh dich um und lass mich an deine Handschellen!"
Ich wusste immer noch nicht, was er damit bezwecken wollte, aber ich hörte auf ihn. Kurz darauf merkte ich, wie die Fesseln um meine beiden Handgelenke aufsprangen. "Was haben Sie vor, Nickamedes?", fragte ich ernst und nahm verwirrt meine Hände vor meinen Körper, um meine Schultern endlich etwas zu entspannen, welche einer guten Stunde in dieser Position hatten verharren müssen.
"Dir helfen, was denn sonst?", erwiderte er und reichte mir ein Messer, welches ich sogleich in meinem Stiefel versteckte. "Denkst du, du schaffst es unbemerkt aus dem Auto und kannst fliehen?"
Ich warf einen Blick aus dem Fenster und analysierte die Lage. "Nie im Leben. Die wissen genau, dass ich hier drin sitze. Ich komme hier nicht mehr weg."
"Was sollen wir dann tun?"
Ich atmete einmal tief durch und suchte nach einem anderen Weg. Aber es gab wiedermal nur einen Ausweg und der gefiel mir ganz und gar nicht. "Ich werde mich stellen. Vielleicht lassen die Schnitter dann von den Protektoratsmitgliedern ab, sodass wenigstens ein paar überleben."
"Aber was ist mit dir?"
"Meine Zeit ist eh abgelaufen", ich seufzte, "vielleicht kann ich noch fliehen, aber ich muss immerhin versuchen die Tode zu verhindern." Angst erfüllte meinen Körper, aber merkwürdigerweise blieb ich äußerlich ruhig. Vielleicht, weil ich immer gewusst hatte, dass es irgendwann so enden musste.
"Dann solltest du keine Zeit mehr verlieren", stimmte Nickamedes zu, ohne eine Mine zu verziehen. Ich wusste jedoch nicht, ob es ihm egal war, oder ob er mir nicht zeigen wollte, was er empfand. Aber eigentlich spielte das auch keine Rolle mehr.
"Legen Sie mir die Handschellen wieder an", wies ich den Bibliothekar an, welcher mich verwirrt ansah. "Ich werde mich davon befreien können. Wenn die Schnitter mich erneut fesseln, wird das schwerer. Also", ich atmete tief durch und drehte meinen Rücken zu ihm, "legen Sie mir die Handschellen an. Achten Sie darauf, dass die Schlüssellöcher nach unten zeigen."
"Steck das hier vorher ein", widersprach Nickamedes. Ich drehte mich wieder zu ihm und sah das Handy an, welches er in der Hand hielt. "Dann können wir dich orten und befreien."
"Seien Sie vorsichtig, falls Sie wirklich kommen sollten. Und beeilen Sie sich", sagte ich und nahm das Handy entgegen. Glücklicherweise handelte es sich um ein etwas älteres und vor allem kleines Gerät. Durch die komfortable Größe konnte ich es in meinem BH verstauen, wo es höchstwahrscheinlich unentdeckt bleiben sollte. Also hatten BHs tatsächlich doch einen guten Zweck.
"Du musst einfach nur durchhalten, Blake. Ich verspreche dir, dass wir schnellstmöglich zu dir kommen", sprach Nickamedes, während er mir die Fesseln wieder anlegte. Dann drückte er mir den kleinen Schlüssel in die Hand, damit ich später die Handschellen öffnen könnte. Ich schloss meine Faust darum und hoffte einfach, dass die Schnitter nicht darauf achten würden.
Nickamedes beugte sich über mich und öffnete die Autotür.
"Viel Glück."
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