Kapitel 1
Gwen Frost
Wie so häufig, war ich mal wieder die erste Schülerin, die ihren Platz im Klassenzimmer eingenommen hatte. Aber an sich war das eigentlich nichts besonderes. Schließlich war es die erste offizielle Unterrichtsstunde des Tages und die anderen Schüler hatten sicher besseres zu tun, als überpünktlich aufzustehen, um ja nicht zu spät zum Unterricht zu erscheinen.
Das Komische war, dass Professor Metis, meine Lehrerin in Mythengeschichte, noch nicht da war, was ihr gar nicht ähnlich sah.
Als es wie gewohnt nach fünf Minuten zu Unterrichtsbeginn klingelte, waren meine restlichen Kursmitglieder schon eingetroffen, aber bis Professor Metis ankam, dauerte es nochmal doppelt so lange.
"Entschuldigt bitte meine Verspätung, aber es gab noch etwas Wichtiges zu klären", erklärte Metis mit ihrem üblichen ruhigen Tonfall. Bevor ich mich fragen konnte, was das Wichtiges gewesen sein konnte, betrat hinter Metis ein Mädchen den Raum.
Das Mädchen hatte dunkelbraunes, gewelltes Haar, welches sie in einem lockeren Zopf trug. Während ihr Gesicht eher unscheinbar aussah, erregte ihr Kleidungsstil direkt meine Aufmerksamkeit. Nicht weil er so auffällig, sondern eher dem Gegenteil entsprach. Ihre Jeans, der Pulli, selbst die Schwertscheide und ihre Brille waren in schlichtem Schwarz gehalten. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen und da ich dank meiner Psychometire ein ziemlich gutes Gedächtnis hatte, würde ich behaupten, dass es sich um eine neue Schülerin der Mythos Academy handelte. Gerade bei ihrem besonderen Stil hätte ich sie bestimmt wiedererkannt.
Seltsamerweise erinnerte ihr Stil mich an mich selber. Ich fand zwar fröhlichere Farben, wie purpur oder grau angenehmer, aber soweit ich es beurteilen konnte, hatte die Neue auch kein Vergnügen, oder schlicht kein Geld für teure Designerklamotten.
„Das ist Myla. Sie ist neu hier und wird in eure Stufe gehen", sagte Metis lächelnd und schaute Myla auffordernd an. „Möchtest du dich kurz vorstellen?"
„Ich bin Myla Johnson, 19 Jahre alt, und bin bis jetzt in London zur Mythos Academy gegangen", erklärte die Angesprochene knapp. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie sich besseres vorstellen konnte, als sich vor circa 20 fremden Teenagern vorstellen zu müssen.
Metis schien das auch zu verstehen und bedeutete Myla mit einem Nicken, dass sie sich setzen dürfte. Sie setzte sich in Bewegung und ich bemerkte, dass sie sich neben mich setzen würde, da dort wie gewohnt ein Platz frei war. Seitdem Carson Callahan nicht mehr in meinem Kurs war, gab es da nicht wirklich jemand anderen, den ich als einen Freund bezeichnen könnte. Ob es mir gefiel, dass ich eine neue Sitznachbarin hatte, wusste ich noch nicht genau, aber es schadete nie nett zu sein. Besonders der Gedanke daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich vor zwei Jahre die Neue an der Mythos Academy war, bestärkte meine Motivation, nett zu Myla zu sein und ihr ihren Einstieg in die neue Schule zu erleichtern.
Da sie zuvor auf die Mythos Academy in London gegangen war, war heute zumindest nicht alles komplett neu für sie. Im Gegensatz zu meinem ersten Tag auf Mythos. Nach ein paar Sekunden fiel mir ein, dass ich schon jemanden kannte, der auch die Academy in London besucht hat. Alexei Sokolov, der feste Freund von Oliver, war vor nicht allzu langer Zeit zu uns gekommen. Da er in meine Stufe ging, musste er wohl auch in London mit Myla in eine Stufe gegangen sein. Darauf musste ich die beiden unbedingt ansprechen. Da es aber wohl ein schlechter Start für's Kennenlernen war, schob ich diesen Gedanken erstmal beiseite.
"Ich bin Gwen", stellte ich mich freundlich vor, nachdem sie sich neben mich gesetzt hatte.
"Meinen Namen kennst du ja schon", sie grinste mich verschmitzt an und holte ihr Mythengeschichtsbuch heraus.
Als sie neben mir saß, nahm ich mir die Zeit sie eingehender zu mustern. Zusammenfassend sah sie sehr durchschnittlich aus. Sie hatte irgendwie so ein Allerwelts-Gesicht, das man schon nach zwei Minuten wieder vergessen hätte, falls man ihr zufällig begegnen würde. Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass sie nicht hübsch war.
Ihre Haare hatten einen interessanten Farbton und jetzt, wo sie direkt neben mir saß, konnte ich mich doch nicht mehr richtig darauf festlegen, welche Farbe sie hatten. Ich hatte zunächst vermutet, dass sie dunkelbraun wären, aber vereinzelt gab es auch helle Strähnen, sodass ihre Haare unter bestimmten Lichteinflüssen heller wirkten. Ihre Augen waren braun und bestärkten ihr durchschnittliches Aussehen weiter.
Als ich mit der äußeren Beobachtung von Myla fertig war, fiel mir noch etwas Anderes auf. Es schien so, als wenn von ihr eine bestimmte Art von Magie ausging, die mich entfernt an etwas erinnerte. Ich war mir sicher, dass ich so etwas schon mal gespürt hatte, nur kam ich nicht drauf, von wem ich dieses Gefühl kannte. Es hatte keine Ähnlichkeit mit Grandmas Hellsichtigkeit und auch nicht mit Daphnes Walkürenmagie. Bevor ich mir aber weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, unterbrach eine Stimme meine Gedanken.
„Öffnet eure Bücher auf Seite 74", ertönte Metis' Anweisung, welcher ich und die anderen schweigend folgten. „Heute werden wir noch ein wenig über griechischen Götter des Pantheons reden. Kann mir jemand die Namen der zwölf olympischen Gottheiten nennen?"
Ich seufzte. Anscheinend war heute keiner der unterhaltsameren Tage.
„Gwen?", ich blickte von meiner Tasche auf, in welcher ich gerade mein Buch verstaut hatte. Es kam nicht oft vor, dass mich jemand aus meinem Mythengeschichtskurs ansprach, demensprechend war wohl auch mein Gesichtsausdruck verwirrt.
"Ich wollte fragen, ob du mir den Weg zur Turnhalle zeigen kannst", erklärte Myla, "ich habe bis jetzt erst dieses Gebäude und mein Wohnheim gesehen und kann darauf verzichten, zu spät zu meiner ersten Sportstunde zu kommen."
"Du hast jetzt Sport?", hakte ich verblüfft nach. „Also bist du gemeinsam mit Logan im Fortgeschrittenem-Kurs." Ich stand auf, hängte mir meine Tasche um und machte mich mit Myla auf den Weg nach draußen, während wir uns weiter unterhielten. Wir hatten zehn Minuten Zeit, um zum nächsten Unterrichtsraum zu gelangen, also konnten wir uns ruhig etwas Zeit lassen. Außerdem gab es schlimmeres, als zu spät zu Mathe zu kommen, weil man einer neuen Schülerin den Weg zeigen musste.
"Ich wusste nicht, dass der Kurs für Fortgeschrittene ist. Und wer ist Logan?" Myla schaute mich überrascht an und schien nicht ganz zu wissen, was sie mit dieser neuen Information anfangen sollte. „Das heißt wohl, dass ich mich gleich mit den ganzen Spartanern rumschlagen darf."
"Logan ist mein Freund. Und er ist Spartaner", erklärte ich grinsend. „Was bist du denn, dass du zu den Profis gesteckt wirst?"
"Kunoichi", lautete ihre simple Antwort, welche mir keineswegs weiterhalf. Als sie meinen ratlosen Blick sah, schien sie das auch zu verstehen. „Kunoichi sind die weiblichen Ninjas", ergänzte sie netterweise für mich.
„Cool, eine Kunoichi habe ich noch nie getroffen", staunte ich ehrlich und betrachtete sie neugierig. „Du musst mir später unbedingt erzählen, wie es in Sport war. Ich würde es zu gerne mal sehen, dass die Spartaner-Elite von einem Mädchen plattgemacht wird!"
"Da kann ich dir nichts versprechen, aber ich werde mein Bestes geben!", versprach sie und ich sah erstmals ein leichtes Grinsen auf ihren Lippen, während sie sich auf der offenen Fläche umschaute, welche sich zwischen den fünf großen Hauptgebäuden befand.
Zu den fünf Hauptgebäuden zählten die Sporthalle, der Speisesaal, die Bibliothek der Altertümer, ein naturwissenschaftliches Gebäude und eins für Fächer wie Erdkunde, Englisch oder Geschichte. Im Letzeren hatten wir gerade unsere Mythengeschichtsstunde verbracht.
Während wir weitergingen fiel mir auf, dass Myla ziemlich hibbelig war. Sie schaute sich die ganze Zeit genau um und spielte mit ihrer linken Hand an einem Armband, welches sie am rechten Handgelenk trug. Aufgrund der langen Ärmel ihres Sweatshirts konnte ich nur einen kurzen Blick darauf erhaschen, wobei ich nur erkannte, dass es ein schlichtes silbernes Armband mit mehreren Anhängern war.
Auch im Unterricht war mir aufgefallen, wie Myla auf ihrem Stuhl rumkippelte und ihre Finger mit einem Stift beschäftigt hielt, welche diesen immer wieder geschickt drehten. Ich war mir zunächst nicht sicher, ob sie nur nervös war, aber da sich diese Unruhe immer noch nicht gelegt hatte, und sie auf mich nicht gerade unsicher wirkte, vermutete ich, dass sie von Natur aus eine sehr energiegeladene Person war.
Der Drang sie, oder einen Gegenstand, der ihr gehörte, zu berühren wurde immer stärker, da ich gefühlt nichts über sie wusste. Während des Unterrichts hatte sie fast gar nicht gesprochen. Zumindest nicht mit mir. Dafür hatte sie erstaunlich gut am Unterrichtsgespräch teilgenommen und gezeigt, dass der Lehrstoff auf der Mythos Academy in London defitiniv genauso gut oder sogar besser vermittelt wurde, als hier in Cypress Mountain.
„In welchem Wohnheim bist du untergebracht?", fragte ich Myla. „Ich bin im Styx, du auch?" In mir machte sich die Hoffnung breit, eine Freundin in meinem Wohnhaus haben zu können. Daphne, meine beste Freundin, hatte ihr Zimmer in Walhalla und die restlichen meiner Freunde waren in den Wohnhäusern für Jungen untergebracht. Wenn ich so drüber nachdachte, fiel mir auf, dass zu unserer Clique nur Jungen gehörten, abgesehen von Daphne und mir.
"Ich bin auch im Styx", antwortete Myla schlicht. Ihre Antworten fielen generell eher kurz aus und beschränkten sich nur auf das Nötigste.
"Super, dann sehen wir uns da bestimmt noch häufiger", sagte ich lächelnd. „Und wie sieht's mit deinen Kursen aus? Du hast nicht zufällig auch später noch Erdkunde vor der Mittagspause?"
"Nein, ich habe nach Sport noch Kunstunterricht", erklärte die Schwarzhaarige, woraufhin ich seufzte. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber immerhin hatte ich nach dem Mittagessen nur noch Kurse mit Daphne, Logan, Oliver oder seinem Freund Alexei.
"Kunst", wiederholte ich angeekelt, da ich im Zeichnen schon immer eine Niete war. Ich verstand einfach nicht, wie Gesichter proportional richtig gezeichnet werden können. „Konnte ich noch nie und wahrscheinlich wird das auch so bleiben."
"So schwer ist es gar nicht", meinte Myla leichthin, äußerte sich aber nicht weiter zu diesem Thema.
Mittlerweile waren wir bei der Turnhalle angekommen, vor welcher wir nun standen.
"Na ja, ich geh dann mal lieber zu meinem Raum, nicht dass ich zu spät komme. Wir sehen uns in der Mittagspause, okay?", ich lächelte Myla an und schulterte meine Tasche nochmal richtig. "Und vergiss ja nicht den Spartanern zu zeigen, was du drauf hast!"
"Bis später", lautete ihre kurze Verabschiedung, bevor sie die Tür zur Sporthalle öffnete. "Ach ja", sie drehte sich nochmal kurz zu mir , "danke für's Weg zeigen." Mit diesen Worten verschwand sie in der Halle und ließ mich nachdenklich zurück.
Das komische Gefühl, welches ich schon im Unterricht bemerkt hatte, war auch den ganzen Weg über da gewesen. Und dem Ergebnis wovon es kommen könnte, war ich noch keinen Schritt näher gekommen.
Na ja, das müsste dann wohl bis später warten. Vielleicht hatten Logan oder Daphne eine Idee. Die hatten ja eh mehr Ahnung von diesem ganzen mythologischen Zeug.
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