Kapitel 33
Maze spürte ein Kribbeln, doch lief weiter. Seltsamerweise schienen alle Engel um ihn herum innezuhalten, fragende Blicke in den Himmel gerichtet. Was war gerade geschehen?
Unbeirrt lief er weiter. Zu Neraniels Anwesen würde er noch etwa eine Viertelstunde brauchen, denn es war in der Nähe der Bibliothek. Das ergab Sinn, denn so war er immer in der Nähe der Quelle des Wissens.
Er wusste nicht viel über den Engel, doch es gab Gerüchte. Neraniel sei sehr eigen und in sich gekehrt, nicht gesellig. Doch ob das stimmte, davon würde er sich selbst überzeugen. Maze brauchte den Engel und er hoffte, dass er ihn in dieser Sache weiterbringen konnte. Noch drei Tage. Seit seiner Verletzung hatte sein Körper seine Magie dazu verwendet zu heilen. Er würde noch zwei oder drei Tage brauchen, bis diese sich weitestgehend regeneriert hatte. Dann ist es endlich soweit.
Im Hintergrund sah er die kurzen blonden Haare und die Robe. Gabriel hatte ihm tatsächlich wieder seinen Wachhund nachgeschickt. Unbeeindruckt lief er einfach weiter, sollte sie doch schnüffeln, es machte keinen Unterschied.
Vor einem großen Holzhaus hielt er. Es sah sehr alt aus und hatte viele Verzierungen aus Holz, die jedoch etwas verwittert aussahen. Ein Augenschmaus war die Türe, welche einer sehr alten Holztür aus dem Mittelalter der menschlichen Sphäre nachempfunden war. Schmiedeeiserne Beschläge und ein Bronzegriff. Das ist sehr kunstvoll. Maze mochte die Erdfarben, die das Haus trug, anders als die meist weißen Gebäude der Engelschaft.
Respektvoll klopfte er und wartete. Eine Zeit lang geschah nichts. Er legte seine Hand an den Bronzegriff und dieser ließ sich nach unten drücken, woraufhin die Tür sich öffnete. Als er jedoch durch diese trat, spürte er, dass er eine Barriere durchschritten hatte. Doch der Gedanke verschwand schnell, als der den Raum erblickte, in den er getreten war. Die Eindrücke stürmten auf Maze ein.
Überall Holzpaneele mit Vitrinen und Holzbalken, auf denen Skulpturen und andere Schätze standen. Ein großer Wandteppich mit wertvoller Stickerei hing rechts von ihm. Den Rest bedeckten Regale. Jeder Platz der Wände war gefüllt mit Bücher, Pergamentrollen und anderen Dingen, doch es herrschte keine Unordnung.
Maze' Blick blieb an einer Maske hängen, die an der Wand hing und ihm entgegenblickte. Bedächtig schritt er auf sie zu und ließ seine Augen über diese wandern. Sie bestand aus weißem Holz und stellte eine Art Fuchsgesicht dar. Jeweils drei rote Streifen verliefen anstelle der Tasthaare von der Nase über die Backen. An der Oberseite war ein fuchsrotes Fell angebracht. Wunderschön.
„Diese Maske ist ein seltenes Artefakt aus der Hölle", erklang eine tiefe Stimme hinter ihm und er schreckte zusammen. Ein Engel mit schwarzen Augen und dunkelbraunen Haaren, die er zu einem Zopf gebunden hatte, trat neben ihn. Er trug eine schlichte braune Hose und ein schwarzes Hemd. Seine Hände waren mit weißen Handschuhen bedeckt. „Sie ist aus der Hand eines lange verstorbenen Schmiedes, eines der letzten Exemplare. Angeblich verleiht sie dem Träger das Gesicht eines Fuchses, die perfekte Tarnung. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, bis ich sie in den Händen hatte."
„Sie ist wunderschön." Maze spürte die Magie, die in diese verwoben war.
Neraniel drehte sich zu ihm, da fiel Maze erst die Linse auf, die in einem dünnen goldenen Rahmen um dessen Nacken hing. Er ist wirklich sehr eigen. „Ich hoffe, ich störe Euch nicht."
„Verzichte auf die Förmlichkeit und nenne mir stattdessen deinen Namen und dein Anliegen." Neraniel war direkt, das schreckte viele sicherlich ab. „Maze. Ich bin hier, weil ich mehr über eine Göttin und ein Artefakt in Erfahrung bringen muss", antwortete er knapp.
Der Engel schaute ihn prüfend an, dann zur Tür. Maze tat es ihm gleich und er sah, wie sein Wachhund vor der Türschwelle stand, jedoch nicht in dem Raum. „Und welchen Auftrag hat sie?"
„Ich bin einer Dienerin Gabriels und hier, um Maziel zu begleiten", sagte sie knapp, machte aber keine Anstalten einzutreten.
Seltsam. Weshalb kam sie nicht herein? Konnte sie es vielleicht nicht? Damit lag Maze richtig, Neraniel hatte ihr den Zutritt verweigert. „Dann mach es dir draußen gemütlich, bis wir fertig sind", sagte der Historiker.
„Aber ich-"
„Ich habe keinen Lust, dass jemand unbeaufsichtigt in meinem Heim herumschnüffelt und spioniert. Wenn Gabriel das anders sieht, hole mir eine direkte Anweisung von ihm. Bis dahin gestatte ich dir nicht, dieses Haus zu betreten." Damit war die Sache für Neraniel erledigt. „Der Kleine wird dir nachher alles Wichtige erzählen." Der Engel trat zur Tür und schloss diese direkt vor ihrem erstaunten Gesicht.
Maze blickte ihn an. „Damit hast du dir vielleicht Probleme eingehandelt. Das war nicht meine Absicht."
Der Engel schüttelte den Kopf. „Ich bin zu wertvoll und wegen so einer Bagatelle wird der Erzengel keine Terz veranstalten. Wie dem auch sei, folge mir, Maze."
Sofort fiel Maze auf, dass er ihn nicht bei dem Namen nannte, den sein Wachhund genannt hatte. Er ist ein gutes Wesen. Auch wenn er schroff und unfreundlich wirkte, so war dieser Engel der aufrichtigste, der ihm je begegnet war. Neraniel versteckte seine Meinung nicht und handelte ohne versteckte Absichten. Das schätzte Maze.
Sie liefen gemeinsam zu einer Wendeltreppe, die nach unten führte. Dort erstreckte sich eine riesige Bibliothek und mehrere Bereiche, in denen Tische und Werkzeuge lagen. Hier arbeitete Neraniel, forschte und untersuchte Artefakte. Sie liefen zu einem freien Tisch und er zog zwei Holzschemel unter diesem hervor. „Setze dich und führe mir aus, was du suchst. Ob ich behilflich sein kann, werden wir dann sehen."
Maze nickte dankbar und setzte sich. Er holte die Seite aus dem Rucksack und legte sie auf den Tisch. „Ich muss mehr über die Göttin Aletheia herausfinden und den Krug der Aletheia."
Neraniel blickte auf das Pergament, dann drehte sich sein Kopf nach links. Er stand auf und verschwand in dem Labyrinth an Regalen. Nach etwa zehn Minuten kehrte er mit zwei großen Büchern zurück, welche einen dunklen Ledereinband besaßen, die Schrift war jedoch verblasst. „Gut, dann beginne ich mit dem, was ich weiß. Dennoch muss ich direkt im Vorhinein sagen, dass all das Wissen aus einer Zeit weit vor mir entstammt und die Quellen auch nicht unbedingt verlässlich sind."
Erwartungsvoll blickte Maze den Engel an, der ein Buch aufschlug. Darauf sah er eine Abbildung der Göttin, wenn auch detaillierter.
„Aletheia oder auch Göttin der Wahrheit war nur eine niedere Göttin im Pantheon. Man könnte sagen, sie hat eigentlich keine großen Taten oder Entscheidungen zu verzeichnen, außer dass sie der Rasse der Engel die Stimme der Wahrheit verliehen hat. Sie besitzt eine Zwillingsschwester namens Dolos, welche die Göttin des Betrugs war, also ihr direkter Spiegel. Ihr Namen wird des Öfteren in den Analen genannt, vor allem im Bunde mit einer dritten Göttin, deren Namen mir unbekannt ist. Die drei waren unzertrennlich, doch aus einem unbekannten Grund entstand Zwietracht und das Schicksal nahm seinen Lauf."
Neraniel schlug die nächste Seite auf, auf der eine identische Abbildung wie auf Maze' Pergament war, doch das stimmte nicht ganz. Maze verglich die beiden.
„Dir fällt es sofort auf, nicht wahr?", fragte Neraniel.
„Die Füße", antwortete Maze. Sie sahen völlig verformt aus.
Der Engel nickte. „Ja. Das Bild, von dem du eine Kopie hast, ist eine veränderte Version. Das hier ist das Original. In diesem Bild ist nicht Aletheia dargestellt, sondern Dolos. Dieses Bild zeigt die Szene des Verrates von Dolos an ihrer Schwester. Den Überlieferungen nach war Aletheia verbotenerweise durch das Tor von Amphiaraos bei Oropos geschritten – der einzige uns bekannte direkte Weg in die Sphäre der Träume."
Die Traumsphäre? Maze hatte von ihr gehört. „Weshalb war es verboten und was hat sie dort gemacht?"
„Die Traumsphäre darf nur von den Göttern des Traumes und des Schlafes betreten werden und den Oneiroi, sowie den Traumdämonen. Doch so manche Götter haben diese Regel missachtet, um direkt in die Träume anderer zu gelangen. Selbst Götter sind nicht gegen die Beeinflussung ihres Verstandes durch Träume gefeit, deshalb das Verbot. Dolos zeigt direkt auf dieses, denn sie hat die anderen Götter direkt zu ihrer Schwester geführt. Aletheia wurde vor Gericht gestellt und verurteilt, ihr Dasein in einem Gefängnis auf unbestimmte Zeit zu fristen", fuhr der Engel fort.
Maze hörte ruhig zu, doch Neraniel war noch nicht fertig. „Seltsamerweise verschwand sie, bevor sie die Strafe antrat. Niemand hat eine Spur von ihr gefunden, in keiner Sphäre. Angeblicher Weise hatte sie vor ihrer Überführung Besuch, doch es wurde nicht überliefert, wer es war. Das ist alles, was ich über sie weiß", schloss er ab.
„Ich danke dir. Weißt du auch etwas über den Krug der Aletheia?"
Der Historiker nickte. „Ja, doch anders als der Name sagt, war es ein Geschenk." Er schlug in dem anderen Buch die Seite auf, die ein detailliertes Abbild darstellte. „Aletheia hat ihn geschenkt bekommen. Er wurde nach ihrer Flucht in der Zelle sichergestellt. Was wir wissen, ist, dass er ein mächtiges Artefakt war, um jedes Wesen darin einzuschließen."
Maze fuhr über das Bild. Es sieht anders aus. „Was bedeuten die Symbole, weißt du das?" Diese waren auf der Darstellung von Cypher nicht zu sehen gewesen.
Neraniel blickte auf dieses. Er legte die Lupe, die er um den Hals trug, auf die Abbildung und ließ diese darüber wandern. Die verschlungenen, leicht verblassten Buchstaben wurden größer und er antwortete: „Es ist die uralte Sprache der Götter." Er hatte sie sich in vielen Jahrzehnten mühsam angeeignet. „Dort steht. Die Wahrheit liegt nur im Namen und im Blute."
Im Namen und im Blute? Maze erstarrte. Es war, als würde sich eine Türe öffnen und das Bild, bei dem so lange ein Puzzleteil gefehlt hatte, wurde vollständig.
„Danke, nun habe ich es." Die Finger des Dämons fuhren über die Klinge des Kurzschwertes und das Blut, das an dieser haftete, blieb an seinen Fingern hängen. Diese wanderten zu dessen Hüfte. „Āmi tōmākē bēm̐dhē rākhi, Maziel."
Stille.
Maze blickte zu dem Dämon, der erstarrte. Die Worte verursachten Maze eine Gänsehaut.
Dann die Szene in Roshanee, kurz nach der Entführung einer Seele.
„Es wurde neben dem Flehen, aufzuhören, auch der Name der Seele gerufen. Dann wurde es plötzlich ruhig. Die Seele war gerade einmal drei Tage hier", sagte sie mit zitternder Stimme.
Nun war alles klar. Es war nicht nur das Blut, dass benötigt wurde, um eine Seele einzusperren, es gab noch eine weitere Bedingung. Eine Bedingung, die nicht erfüllt gewesen war, schlichtweg, weil der Dämon ihn nicht kannte.
Maze sprang auf. „Ich bedanke mich. Vielleicht habe ich gerade den Schlüssel erhalten, den ich benötige."
Neraniel stand auf. „Geh und tu, was du tun musst."
Er nickte und ging. Draußen sprang sein Wachhund erschrocken auf, als er herausstürmte. Ohne ein Wort lief er vorbei, um direkt in Gabriels Anwesen zu gelangen. Der Erzengel musste ihn zurück in die Hölle schicken, damit er seinen Verdacht überprüfen konnte.
Gabriel war nicht zugegen, weshalb sein Stellvertreter ihn zurückschickte. Zügig durchschritt er das Portal und kehrte in die Hölle zurück.
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Das Puzzle fügt sich langsam. Es reicht weiter, als gedacht.
Was wird Maze als Nächstes tun?
Wofür muss sich seine Magie regenerieren?
Eure Mausegöttin
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