Kapitel 1
Aarons Augenlider flatterten. Umgeben von einer angenehmen Wärme und einem Duft, der ihn beruhigte, begrüßte er den Tag mit einem Lächeln. Das Licht schien durch das Fenster, die aschgrauen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar leuchteten. Sie waren braun gewesen, zuvor. Zuvor, als er noch ein Mensch gewesen war. Nein, das war er nie gewesen. Er war kein Mensch gewesen, er war ein gefallener Engel.
Durch seinen Tod war Aaron in der Hölle gelandet und war dort seinem Herz begegnet. In diesen Armen lag er gerade, rieb seine Nase an dessen Brust. Sein ehemaliger Folterknecht war der Mann, den das Schicksal für ihn auserkoren hatte – Lucifers rechte Hand und nun dessen Stellvertreter.
Ich hätte sterben sollen. Nein, auch das stimmte nicht. Er hätte wiedergeboren worden sollen – im Himmel als Engel, unerreichbar für Cypher. Lucifer hätte eine wichtige Säule seiner Herrschaft verloren. Das Schicksal war ein mieses Arschloch.
Aaron war nicht wiedergeboren worden, war nicht im Himmel erwacht. Lucifer hatte das verhindert. Der Höllenfürst hatte seine Hand in Aarons Brust gestoßen, seine Seele ergriffen und beansprucht. Er hatte ihn zu seinem Kindred gemacht, hatte seiner Seele eine fleischlichen Hülle aus seinem eigenen Körper gegeben. Doch das Schicksal machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Lucifer musste den Preis zahlen, bezahlte mit seinen Flügeln.
Aaron richtete sich auf. Er betrachtete die Silhouette seines Herzens. Feuerrote Haare fielen in sein Gesicht, in die Augen. Diese verruchten Augen. Eines rot, das andere vollständig schwarz mit goldener Iris. Versteckt unter den Lippen, die ihn gestern Nacht über seine Grenzen geführt hatten, befanden sich die gefährlichsten Giftzähne der Hölle. Cyphers Gift lähmte seine Gegner im besten Falle.
Auf Cyphers Brust war das Bindungsmal, so wie auch auf Aarons. Er ließ seine Schulter kreisen und entfaltete seine Flügel. Die weißen Schwingen mit aschgrauen Spitzen waren nun Teil von ihm, da er ein Engel war. Wiedergeboren als Engel, doch nicht im Himmel. Dennoch hatte Aaron alle seine Erinnerungen eingebüßt. Sein Leben war gelöscht worden, seine Vergangenheit waren Worte, die ihm erzählt wurden, doch sie waren nicht die seinen. Wenige Erinnerungen hatten ihn erreicht, doch nicht das große Ganze. Doch das war in Ordnung. Seine Finger fuhren über die weiche Wange seines Liebsten, der sich zu regen begann.
Aschblonde Strähnen, aschgraue Spitzen – das waren Lucifers Farben, die an Aarons Körper hafteten. Doch nicht nur in seinem Aussehen spiegelte sich der Höllenfürst wider, sondern auch in seinen Fähigkeiten.
Aaron war Lucifers Kindred, sein Abkömmling. Was das für Aaron bedeutete, wurde nun nach und nach klar.
„Guten Morgen, Zhurek", begrüßte ihn Cyphers sinnliche Stimme.
Langsam beute sich Aaron nach vorne und küsste die Lippen, von denen er nie genug bekommen würde. Ohne Vorwarnung umschlang ihn ein Arm und ehe er sich versah, lag er unter dem Dämon mit den Augen einer Viper.
Cypher leckte sich über die Lippen, denn vor ihm lag ein köstliches Festmahl. Die Flügel seines Gefährten zogen ihn an und er fuhr über die weichen Schwingen. Ein sinnlicher Laut entkam dem Engel, denn die Flügel waren empfindlich. Gestern Abend hatte er seine Zähne in diesen versenkt, hatte Aaron zum Schreien gebracht.
„Verführst du mich schon so früh am Morgen?"
Ein herausfordernder Blick trat in Aarons Gesicht und für einen Moment sah Cypher den Menschen, der an der Wand im Inferno gekettet ihn verspottet hatte. Dieser Blick, der seine inneren Dämon aufgerieben und hervorgelockt hatte. „Vorsicht, Zhurek, oder du wirst heute dieses Bett nicht verlassen."
Ein Lächeln wanderte auf die Lippen des Engels. Seine Finger fuhren über Cyphers Wange und der Daumen drückte sanft auf die Unterlippe. „Dann wirst du aber die Vorbereitungen für die Inauguration des neuen Kommandanten verpassen und ich meine Trainingsstunde mit Lucifer. Bist du sicher, dass er dir das durchgehen lassen wird?", erwiderte dieser keck.
Verdammt. Sein Gefährte brachte ein unschlagbares Argument. Wenn Lucifer angepisst war, würden Köpfe rollen. Cypher glaubte zwar nicht, dass es der seine würde, doch er wollte diesem Mann keinen Grund geben. Lucifer könnte sich Aaron schnappen und Cypher würde für eine Weile lang auf „Trennungsurlaub" gehen, wie es der gefallene Engel formuliert hatte. Dass er das tun würde, daran hatte Cypher keinen Zweifel. Lucifer war unberechenbar. Im einen Moment rettete er einem Menschen das Leben, im anderen beendet er das einer Dämonin, die ihm Jahrhunderte gedient hatte. Kein Zögern.
Lilla hatte dem Falschen ans Bein gepisst. Cypher hatte sie gewarnt, doch sie hatte nicht hören wollen und hatte trotz Lucifers Warnung Asherons Gefährten entführt und ermordet. Asheron hatte dasselbe Schicksal wie Cypher erlitten. Aaron war gestorben, so war es auch Syèl. Der Grund, weshalb Asheron noch am Leben war, dass Lucifer eingegriffen hatte – erneut.
Er hat mir und Asheron unseren Gefährten geschenkt. Weshalb hatte Lucifer so gehandelt? Natürlich besaß er nun Cyphers und Asheron uneingeschränkte Treue, doch das hatte ihn zuvor nie gekümmert. Er verändert sich. Seit Aleksander aufgetaucht war und die Prophezeiung der Verdammnis eingetreten war, hatte sich der Höllenfürst verändert.
Manchmal beobachtete ihn Cypher, wie er einfach aus dem Fenster starrte. Das hatte sich gehäuft, nachdem Nix bei ihm gewesen war. Was das Orakel getan oder gesagt hatte, wusste er nicht, doch es hatte etwas in Gang gesetzt.
Mit einem Seufzen stieg Cypher aus dem Bett und beobachtete, wie sich sein Engel ebenfalls ankleidete. Niemals würde er es Lucifer vergelten können, dass er jeden Tag neben diesem Mann aufwachte. Seine Arme schlossen sich um Aaron und er legte seine Lippen in dessen Nacken, atmete nochmal seinen Duft ein. „Dann lass uns gehen. Lucifer ist nachsichtiger mit dir, wie auch immer du das anstellst."
Aaron lachte. „Er scheint mich zu mögen."
Cypher schnaufte. „Da bist offensichtlich auch das einzige Wesen auf diesem Planeten. Was hast du ihm geboten?" Er war nicht dahinter gekommen.
„Ich bin möglicherweise hinter deinem Rücken seine heiße Affäre und er ist lieb zu seinen Betthäschen. Vielleicht solltest du es auch mal versuchen."
Dem Dämon klappte der Mund auf. Du frecher... Sein Gefährte zog ihn auf? Aaron schien nun die anfängliche Zurückhaltung vollständig abgelegt zu haben. Nach der Kabbelei machten sich beide auf den Weg zum Frühstück. Aaron ging danach direkt zum Höllenfürsten, während Cypher sich mit dem Team traf, das die kommende Zeremonie vorbereitete.
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Es klopfte leise und Lucifer schaute vom Schreibtisch auf. Da niemand eintrat, wusste er, wer vor der Tür stand. „Komm herein, Aaron", sagte er und die Tür öffnete sich. Cyphers Gefährte trat ein und verbeugte sich. Tadellos, wie immer. Aaron hielt sich an die Etikette, wich niemals davon ab.
Lucifer stand auf und trat vor seinen Schreibtisch. „Berichte mir."
Aaron schaute auf, schaute in die trüben Augen, die ihm bis in die Seele zu blicken schienen. Ein vertrautes Gefühl breitetes sich aus, denn sein Körper erkannte diesen Mann. Seine Hülle war aus Lucifers Federn geschaffen worden, aus einem Teil des Höllenfürsten. „Ich habe keine weiteren Veränderungen bemerkt. Mein Magielevel ist wieder auf dem normalen Stand."
Nachdenklich tastete Lucifer den Engel mit seiner Magie ab. Dass die Resonanz ein Spiegel seinesgleichen war, war nach wie vor ungewohnt. Ich spüre nichts Auffälliges. Der Engel vor ihm wurde mit jedem Tag stärker. Die Fähigkeit zu heilen, die Lucifer als Erzengel besessen hatte, war bei Aaron nach etwa zweieinhalb Jahrzehnten erblüht und er hatte Asherons Gefährten geheilt, hatte dessen Körper in ein lebensfähiges Gefäß verwandelt.
Vor drei Wochen hatte Aaron plötzlich einen Magieabfall verspürt. Während eines ihrer Treffen war es zu einer schlagartigen Entladung gekommen und Lucifer war dessen Gefäß gewesen. Daraufhin war Aaron in einen schlafähnlichen Zustand gefallen, aus dem er nach fünf Tagen erwacht war. Lucifer hatte abgewartet, wie lange der Engel brauchte, um sich eigenständig zu regenerieren. Sollte ich ihn als Magiereserve nutzen, ist er für etwa drei Wochen außer Gefecht.
Es war ein schmaler Grat, doch zu wissen, was sie erwarten würde und wie es sich auf Aaron auswirken würde, war ein wertvolles Wissen. Es jetzt zu erproben und nicht im Ernstfall, verschaffte ihnen mehr Handlungsmöglichkeiten.
„Hast du seit deiner Auseinandersetzung mit Lilla erneut den Schatten des Falls gespürt?" Die Bilder standen ihm vor Augen. Für einen Moment hatte Lucifer einen Schmerz verspürt, den er schon so lange nicht mehr verspürt hatte. Sein Fall – der Moment, als er alles verloren hatte, sein ganzes Selbst sich in nichts aufgelöst hatte. Diesem jungen Mann wäre dasselbe passiert. Doch zu fallen, ohne ein Vergehen begangen zu haben, ist nicht möglich.
Lange hatten seine Gelehrten gerätselt und sie sind zu einem Schluss gekommen – Aarons Körper war der eines gefallenen Engels, seine Seele und seine Fähigkeiten, die eines Engels. Es war eine Mischung, die es nicht geben konnte. Es musste von dem Teil verursacht worden sein, der ihn mit Lucifer verband.
„Gut, Aaron. Dann beginnen wir mit der nächsten Phase. Ich denke, du bist bereit, dass wir es rufen", sprach Lucifer ruhig.
Aaron versteifte sich. Es ist so weit. Seit Jahren wartete er bereits darauf. Die Vorfreude wallte in ihm auf. Engel wurden mit diesem geboren, doch es blieb verborgen, bis sie in der Regel ein Jahrhundert alt waren. Aaron war nicht einmal ein halbes Jahrhundert alt, doch seine Entwicklung war auch nicht die eines gewöhnlichen Engels. Er war als Halbling – halb Mensch, halb gefallener Engel – bereits vor seiner Wiedergeburt vor über zwei Jahrzehnten erwachsen gewesen.
Lucifer erhob sich und Aaron tat es ihm gleich. „Komm zu mir, Aaron."
Der Engel trat zu dem Höllenfürsten und blickte ihn mit den granatroten Augen an. Lucifers Hand legte sich an seine Brust. „Es ist ein Teil von dir, das aus deiner Seele geboren wird. So wie du selbst, besitzt es einen Namen."
Ruhe überkam Aaron. Ein Name. „Wie lautet der Name des deinen?", fragte er ruhig.
Der Dämon schwieg einen Moment. „Ich habe es seit dem Tag meines Falls nicht mehr gerufen. Ohne einen Namen kann es nicht gerufen werden."
Er hat den Namen vergessen. Aaron ballte die Faust.
Lucifer wusste, wie der Engel seine Aussage interpretiert hatte. Das war auch seine Absicht gewesen. „Schließ die Augen und öffne deine Ohren. Du wirst es hören, es wird zu dir sprechen. Dafür rufe dir eine Situation vor Augen, in der du es brauchst", fuhr Lucifer fort.
Die Situation erschien vor Aarons Augen.
Ihre Hand begann zu leuchten, dann hob sie sie an, sodass sie nur noch mit den Fingerspitzen seine Brust berührte. „Wie lautet deine Antwort, Aaron?"
Sie wird mir wehtun. Aaron starrte sie an. Sein Herz schlug schneller. „Nein." Dann setzte der Schmerz ein. Ihr Finger sanken nach innen und ein unbeschreiblicher Schmerz schoss durch seinen Körper. Er begann zu schreien.
Hätte ich nur nach ihm gerufen, anstatt auf das Monster zu hören, das hervorzubrechen versucht hatte. Hätte Lucifer nicht eingegriffen, hätte er sein eigenes Herz vergessen.
Steh mir zur Seite, ich brauche dich, flüsterte er in seinen Gedanken.
Minutenlang stand er dort, wartete. Vielleicht war er noch nicht so weit.
Lucifer blickte zu seinem Kindred. Es ziert sich. Das war nicht ungewöhnlich. Aaron war bisher von Cypher und ihm beschützt worden. Bis auf Lillas Angriff hatte er kein Leid erfahren. Seine Hand legte sich erneut auf die Brust des Engels, dann verband er sich mit ihm.
„Schütze ihn, umarme ihn, offenbare dich", flüsterte er, schickten diesen Befehl mit einem Magieimpuls durch die Bahnen seines Kindreds.
Aarons Körper zuckte, seine Flügel brachen hervor und leuchteten. Aarons Hand schoss nach oben, seine Augen leuchteten. „Erblühe, Kalaksha", erklang es aus dessen Mund und ein helles Licht floss aus seiner rechten Hand. Das Licht wanderte nach außen und formte das, was er gerufen hatte.
Nun würde sich zeigen, welchen Rang Aaron innehatte und einnehmen würde. Engel des niedrigsten Rangs konnten lediglich einen kleinen Dolch beschwören, da sie in der Regel keinerlei Waffen benötigten, um sich zu verteidigen. Die Klingenlänge wuchs mit dem Rang, was die Engel verschleierten. Dämonen wussten über diesen Umstand nicht Bescheid – sie glaubten, nur Erzengel konnten eine Waffe rufen.
Lucifer beobachte, wie sich ein silbernes Schwert in Aarons Hand formte und Gestalt annahm. Für einen Moment war er schockiert. Diese Form. Es gab keinen Zweifel – Aarons hielt einen Zwilling seines eigenen Schwertes in der Hand. Es war noch im Grundstadium, hatte noch nicht seine endgültige Form erreicht, dennoch erkannte er es wieder. In diesem Augenblick kam ihm ein Gedanke, der ihm bisher unwirklich erschienen war. Wirst du mich beerben? Würde Aaron seinen Platz einnehmen? Den, den er vor Jahrhunderten verloren hatte?
Seit Jahrhunderten war kein Erzengel im Himmel mehr geboren worden, doch in einigen Jahrhunderten würde Aaron möglicherweise dieses Stadium erreichen. Ein Lachen entkam ihm. Es waren zwei Erzengel geboren worden, doch beide waren an die Hölle gebunden, würden niemals Teil der himmlischen Reihen werden. Was für ein makabres Geflecht, das euch die Flügel stutzt.
Aaron öffnete die Augen, spürte das kühle Metall in seiner Hand. Behutsam senkte er die Hand und fuhr über die glänzende Klinge. „Ein Schwert?" Lucifer hatte von einem kleinen Dolch gesprochen.
Der Höllenfürst trat zu ihm, legte seine Finger auf die Klinge und blickte ihn an. „Aaron, weißt du, was das ist?", fragte er den Jungengel.
„Ist das ein Engelsschwert?"
Lucifer nickte.
Ein Schwert. „Was bedeutet das für mich?" Wieso war anstelle eines Dolches ein Schwert erschienen?
Sein Fürst trat nahe zu ihm. „Aaron, das ist kein gewöhnliches Schwert. Es ist ein Zwilling zu dem meinen."
Auf diese Worte hin erstarrte. Ein Zwilling zu Lucifers Schwert. Aber Lucifer ist ein ehemaliger Erzengel. Das würde bedeuten... Er schaute auf und blickte in die trüben Augen. Ein leuchtender Ausdruck stand in den sonst so emotionslosen Augen.
„Du bist mein Erbe. Du wirst irgendwann in den Stand der Erzengel aufsteigen." Er würde nur eine Frage der Zeit sein. Sobald ein Erzengel seine Position niederlegen würde oder diese verlor, würde ein anderer Engel aufsteigen. „Du bist also ein Anwärter auf eine Position unter den sieben Erzengeln des Himmels."
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Aaron erblüht und gedeiht als Lucifers Kindred.
Was haltet ihr von seiner Entwicklung?
Was könnte es mit der "Bindung" die die beiden teilen auf sich haben? Welche Konsequenzen hat sie?
Eure Mausegöttin
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