16. Kapitel
In der Schublade befanden sich ein Fadenknäuel und eine leere Spule. Es schien, als wäre der Faden einst ordentlich um die Spule gewickelt gewesen, doch jetzt war er abgerollt und noch dazu fürchterlich verknotet. Und in mir stieg die Befürchtung hoch, dass es meine Aufgabe war es zu entwirren, wenn ich wollte, dass meine Flügel wieder dahin verschwanden, wo sie hergekommen waren.
Der Faden schimmerte in einem unwirklich anmutendem Perlmuttweiß – zumindest war das mein erster Eindruck. Nahm man den Faden jedoch unter genaueren Augenschein, bemerkte man, dass in das Perlmuttweiß hauchdünne Fäden, in allen möglichen Farben des Regenbogens eingearbeitet waren. Dadurch, dass sie so dünn waren, sah man sie immer nur aus bestimmten Winkeln aufblitzen. Meine Gedanken flackerten zu meinen Flügeln, die immer meine jeweiligen Gefühlsfarben reflektierten und in meinem Kopf klickte es. Doch es gab aktuell andere Dinge mit denen ich mich beschäftigen musste, also griff ich nach kurzem Zögern nach dem Fadenknäuel.
Sobald ich es berührte, spürte ich eine instinktive Reaktion meiner Flügel und der elektrische Schauer, der mich durchfuhr, ließ mich überrascht nach Luft schnappen. Es war als würde jemand federleicht über meine Flügel streichen, auf eine Art die eine Gänsehaut am ganzen Körper hervorrief. Konnte man eigentlich eine Gänsehaut auf gefiederten Flügeln haben? Ich schüttelte leicht den Kopf, wie um den unsinnigen Gedanken loszuwerden und mich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Okay, den Faden in die Hand zu nehmen, löste also intensive Gefühle in mir aus. Damit musste ich irgendwie umgehen können, während ich versuchte den Faden zu entwirren.
Ich gönnte mir einen kleinen Moment, um mich an das seltsame Prickeln zu gewöhnen und gab Elea eine Kurzfassung von dem, was ihre Frage mich hatte entdecken lassen. Und dann machte ich mich an die Arbeit. Wer schon einmal versucht hat ein Wollknäuel zu entwirren und den Anfang zu finden, wusste wohl was für eine mühselige Arbeit das war, die in der Regel eine Menge an Nacken- und Rückenschmerzen nach sich zog. Aber wenn jede Berührung des Fadens dafür sorgte, dass ein intensives Prickeln durch den eigenen Körper schoss, war man schon nach wenigen Minuten überreizt und frustriert genug, um nie wieder in seinem Leben einen einzigen Knoten lösen zu wollen. Doch während ich bei einem Wollknäuel spätestens jetzt gesagt hätte "Fuck it" und es in die nächste Ecke geschmissen hätte, wusste ich genau, dass ich hier diese Möglichkeit nicht hatte. Also biss ich die Zähne zusammen und versuchte weiterhin verbissen den Faden wieder in seinen Ursprungszustand zu versetzen. Zusätzlich saß mir die Zeit im Nacken, auch wenn ich nicht sagen konnte, wie viel Zeit verging während ich Knoten für Knoten löste.
Als ich schließlich den letzten Knoten gelöst hatte, war ich so erleichtert, dass ich den verdammten Faden am liebsten in eine Ecke geschmissen hätte. Doch meine Flügel waren noch da und ich hoffte, dass sich das ändern würde, wenn ich ihn um die leere Spule wickeln würde. Die Erleichterung endlich mit dem Entknoten fertig zu sein, verschwand sobald ich anfing den Faden aufzuwickeln. Dachte ich eben noch, ich hätte das Schlimmste hinter mir, wurde ich jetzt eines Besseren belehrt. Das Schlimmste fing gerade erst an. Den Faden aufzuwickeln, fühlte sich an, als würde jemand glühende Eisenstäbe an die sensiblen Nervenenden meiner Flügel halten. Ich konnte fühlen – wirklich fühlen –, wie sich meine Flügel ein Weg zurück in meinen Körper bahnten. Ich fühlte wie sich Sehnen verkürzten, Federn zurückzogen, Muskeln schrumpften und am schlimmsten – ich fühlte wie die spitzen Knochen am Ende meiner Flügel sich zurück in meinen Körper bohrten.
Ich fluchte leise und hätte fast den Faden losgelassen. Mir gelang es noch, ihn im letzten Moment zu fassen und ich erhöhte mein Tempo, damit dieser verfluchte Albtraum endlich vorbei war. Als ich das letzte Stück des Fadens aufgerollt und dann festgeklemmt hatte, damit sich der Faden nicht erneut verselbstständigte, schloss ich die Schublade so schnell wie möglich und verließ diesen seltsamen Ort in meinem Geist, als könnte ich so auslöschen was geschehen war. Den Atem anhaltend tastete ich nach den Stellen, wo eben noch die Flügel gewesen waren und ertastete zu meiner grenzenlosen Erleichterung nur glatte Haut. Doch ich erfühlte zwei kleine Hubbel, die vor dieser Sache ganz sicher nicht dagewesen waren und mir wurde klar: Auch wenn ich die Flügel vielleicht wieder zurückgedrängt hatte, waren sie nicht weg. Sie waren jetzt ein Teil von mir und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich besser schnell herausfinden sollte, wie ich sie benutzte.
"Sag mal, hat es eigentlich wehgetan, als du vom Himmel gefallen bist?". Der Blick den ich Arthur als Antwort zuwarf, hätte töten können. Wie konnte es sein, dass Arthur, einer der schlausten Menschen, die ich kannte, als Reaktion auf die neusten Geschehnisse, nur einen dämlichen Anmachspruch nach dem anderen raushauen konnte? Manchmal hasste ich es, das wir schon so lange befreundet waren. Denn wo andere, unter meinem Blick wahrscheinlich den Schwanz eingezogen hätten und winselnd weggelaufen wären oder zumindest den Anstand gehabt hätten sich unwohl zu fühlen, brachte mein Blick Arthur nur dazu noch mehr zu lachen.
Ich plottete gerade meine Rache, in der ein peinliches Geheimnis von ihm und seine Geschwister vorkamen, als Elea meine Rachefantasien unterbrach und Arthur in die Rippen boxte. Hart. Sein Lachen verwandelte sich in ein schmerzerfülltes Stöhnen und Genugtuung erfüllte mich.
"Auch wenn ich normalerweise nichts dagegen hätte, wenn du dein Repertoire an schlechten Anmachsprüchen an Roxanne ausprobierst, hatte ich definitiv nicht genug Schlaf, um Roxannes Todesblick den ganzen Tag auszuhalten. Also tu mir den Gefallen und lass gut sein, denn es warst immerhin nicht du, der um fünf Uhr morgens aufgeweckt wurde, um zu sehen, dass deine beste Freundin sich in eine mythologische Kreatur verwandelt hat", sagte sie in einem halbherzigen Versuch streng zu klingen. Aber ich konnte genau sehen, dass sie sich zusammenriss, um nicht ebenfalls zu lachen, weshalb Arthur auch nur grinste, nachdem er sich von Eleas Schlag erholt hatte.
Doch glücklicherweise verkniff er sich einen weitern Anmachspruch und sagte stattdessen: "Erinnert ihr euch noch daran, wie ihr die Bedeutung des Alpha und Omegazeichens als Unsinn abgetan habt? Wie sehr stuft ihr es jetzt noch als Unsinn ein, nachdem Roxanne Flügel gewachsen sind, die Eleas Beschreibung nach ziemlich genauso aussehen, wie man sie sich bei einem Engel vorstellt?". Auf seine Frage hin folgte eine Schweigen und er verschränkte in einer triumphierenden Geste die Arme. "Außerdem steht in dem Kreis immer noch Raphaels Name und wenn seine Aura wirklich so hell ist, wie du sagst...". Er ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen und mir stockte der Atem, als ich darüber nachdachte, was Arthur implizierte.
Bevor ich jedoch vehement widersprechen konnte, weil mein logischer Verstand sich immer noch dagegen wehrte, sprach Elea meine Gedanken aus.
"Du meinst Raphael ist eine Art Engel? Ja, klar und Luca ist dann der Teufel, oder was?", spottete sie ungläubig. Arthur zuckte mit den Schultern.
"Ich sage ja nicht, dass es so sein muss. Aber ganz ehrlich: Die Erklärung ist auch nicht viel verrückter, als alles was im Moment so abgeht. Außerdem ist Raphael der Name von einem der sieben Erzengel. Klar, auch das kann ein Zufall sein, aber um es mit Sherlock Holmes Worten zu sagen: Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrigbleibt, die Wahrheit, wie unwahrscheinlich sie auch ist". Elea klappte ihren Mund auf und zu, doch fand keine passenden Worte und auch ich war nicht in der Lage eine Antwort zu formulieren.
Die Schulklingel rettete mich davor, etwas erwidern zu müssen, doch ich konnte meine Gedanken nicht dazu bringen, sich einem anderen Thema zu widmen. Ich glaubte nicht an einen Gott. Ich war zwar als Christin getauft worden, doch ich konnte mich nicht dazu bringen, an einen Gott zu glauben, der so grausame Dinge zuließ, wie sie auf dieser Welt geschahen. Wäre es nicht eines der wenigen Dinge, die mich noch mit meinen Eltern verband, wäre ich schon längst aus der Kirche ausgetreten. Genauso wenig wie ich an einen Gott glaubte, glaubte ich auch nicht an Himmel und Hölle. Das war ein Konzept, dass jemand sich ausgedacht hatte um Menschen zu kontrollieren. Denn ängstliche Leute ließen sich immer noch am leichtesten kontrollieren. Das hieß nicht, dass ich nicht ein paar Leute kannte, die ich liebend gerne in der Hölle schmoren sehen würde. Vielleicht war ich so überzeugt von der Nichtexistenz eines Gottes, weil ich als kleines Kind umso fester an ihn geglaubt hatte. Ich hatte zu ihm gebetet und ihn angefleht mir zu helfen. Stattdessen war alles irgendwie immer nur noch schlimmer geworden und irgendwann hatte ich aufgehört zu beten und zu glauben. Aber die Auren von Raphael und Luca fühlten sich wirklich außerweltlich an. Sie übten einen bizarren Einfluss auf mich aus und ich fragte mich, ob dieser magnetische Sog, den ich fühlte, sich nicht vielleicht doch mit Dingen erklären ließ, die aktuell über meinen Verstand hinausgingen. Neben mir fing Arthur an zu pfeifen und als ich die Melodie von "Hey Angel" von One Direction erkannte, funkelte ich ihn böse an, weil er es wohl einfach nicht lassen konnte. Doch er grinste nur und ich wusste, dass es ein langer Tag werden würde.
Die Telenovela, die sich mein Leben nannte, kam wieder ins Rollen, während der Religionsstunde. Ausgerechnet. Weil ich zu faul war, zu wechseln, war ich immer noch im katholischen Religionsunterricht. Unser Religionslehrer war der schrägste Typ, den du an dieser Schule finden konntest. Wenn du dich einmal daran gewöhnt hattest, war sein Unterricht ziemlich unterhaltsam, weil es wie eine bunte Überraschungstüte war. Er balancierte auf einem schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn und erzählte die Hälfte der Zeit so einen Blödsinn, dass man vergaß, dass er eigentlich ein ziemlich kluger Kopf war, der dich dann aus dem Nichts mit ziemlich guten Gedankengängen überraschte. Ich hatte längst aufgegeben, diesen Menschen verstehen zu wollen und es war sowieso viel unterhaltsamer sich auf seine schräge Art einzulassen, als zu versuchen irgendeine Logik in seinem Verhalten zu finden.
Bisher hatte ich an diesem Tag noch keinen Kurs mit Luca der Raphael gehabt und war ziemlich froh darüber gewesen, weil die Theorie von Arthur immer noch durch meinen Kopf geisterte. Doch ausgerechnet in Religion trat erst Raphael und dann Luca in den Raum ein. You've got to be kidding me. Das war doch wohl ein schlechter Witz. Doch leider stellte sich dieser schlechte Witz als Realität heraus, in der sowohl Raphael, als auch Luca direkt auf mich zusteuerten und sich rechts und links neben mich fallen ließen. Zum ersten Mal verfluchte ich die Tatsache, dass weder Elea noch Arthur in meinem Kurs waren. Meinetwegen hätte Arthur alle seine schlechten Anmachsprüche an mir ausprobieren können, nur damit ich jetzt nicht allein zwischen Luca und Raphael saß. Ich erwägte sogar kurz, ein Stoßgebet hoch zu dem Gott zu schicken, an den ich nicht glaubte. Doch auch das würde nichts an der Tatsache ändern, dass ich eingeklemmt zwischen zwei Typen saß, zwischen denen eine solch explosive Spannung herrschte, dass ich das Gefühl hatte, eine falsche Bewegung von mir könnte eine Bombe hochgehen lassen.
Also starrte ich krampfhaft auf den Block vor mir und kritzelte mit einem Kuli Muster auf ein Blatt, unsicher wie ich mit der Situation umgehen sollte. "Hey, Roxanne", grüßte mich Raphael, in seinem üblichen warmen Tonfall und unwillkürlich entkrampften sich meinen Schultern ein wenig und sanken ein Stück herab. Ich schaffte es sogar, mich zu Raphael umzudrehen und ihn anzulächeln. "Hey", erwiderte ich und wurde mit einem atemberaubenden Lächeln belohnt, dass kurz ein flaues Gefühl in meinem Magen auslöste. Wenn Raphael lächelte, bekam er Grübchen in seinen Wangen und sah so schön und gelöst aus, dass es beinahe wehtat ihn anzusehen. Es war unmöglich nicht zurückzulächeln, wenn er so lächelte.
"Hey, Roxanne", äffte Luca Raphael nach und ließ damit den Moment wie eine Seifenblase zerplatzen und erinnerte mich daran, warum ich gerade eben noch angespannt war. Langsam drehte ich mich zu Luca um und schenkte ihm den kältesten Blick aus meinem Repertoire.
"Hast du irgendwas von Wichtigkeit beizutragen oder willst du einfach nur ein Arschloch sein?", fragte ich und starrte ihm dabei direkt in die Augen. Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. "Wenigstens gebe ich nicht vor, etwas anderes als ein Arschloch zu sein", sagte er und kurz huschte etwas Eisiges über seine Züge, doch es wurde schnell durch ein maliziöses Grinsen ersetzt. "Nicht wahr, Raph?".
Aus dem Augenwinkel sah ich einen Muskel in Raphaels Kiefer zucken, das einzige Anzeichen, dass Lucas Worte einen Effekt auf ihn hatten. Oberflächlich blieb er jedoch vollkommen ruhig und ging nicht auf Lucas Worte ein. Ich kam jedoch nicht umhin, mich zu fragen, was wohl ihre Geschichte war, die sie miteinander teilten. Denn ein solcher Hass aufeinander, wurde nur aus Schmerz geboren. In diesem Moment kam der Lehrer herein und schrieb ohne etwas zu sagen "Himmel und Hölle" an die Tafel. Jep, mein Leben war wirklich eine Telenovela.
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Hey, da bin ich mit einem neuen Kapitel. Wieder etwas spät, da wir dieses Wochenende wieder in Holland sind, aber naja...
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen. Normalerweise stelle ich ja immer noch ein paar Fragen, aber mein Bruder stresst gerade, dass wir losmüssen und ich will euch das Kapitel nicht länger vorenthalten : ).
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