1. Kapitel
Mit Schwung schloss ich den Deckel meines Koffers und strich dann liebevoll über seine abgewetzten Ecken. Die bunten Farben waren schon längst verblasst, so oft wie ich mit ihm woanders hingereist war. Mit einem Ächzen hievte ich den Koffer vom Bett und sah mich in dem leeren Zimmer um. Lebewohl musste ich ihm nicht sagen, weil es nie ein Zuhause für mich dargestellt hatte. Mein Zuhause hatte ich mit dem Tod meiner Eltern verloren und ein Zimmer in dem man schläft und seine Habseligkeiten verstaut als Zuhause zu betrachten, wäre falsch. Ich nahm meinen Koffer und trug ihn die Treppe herunter.
Am Absatz wartete schon Mrs. Jensen, meine mir vom Jugendamt gestellte Hilfe, um mich von einer Pflegefamilie zur nächsten zu schleifen. Ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst – wahrscheinlich hatte der Anruf sie beim Abendessen gestört. Als ich sie vor einigen Jahren kennengelernt hatte, hatte sie mich noch ganz nett angelächelt, doch mit jedem Mal, wenn sie mich abholen musste um mich zu einer neuen Pflegefamilie umzusiedeln war ihr Lächeln dünner und dünner geworden, bis es sich schließlich ganz verflüchtigt hatte. Ohne ein Wort der Begrüßung wandte sie sich ab und ging auf die Tür zu. Ich folgte ihr ohne mich noch einmal umzusehen. Von meiner Familie ließ sich keiner blicken um mich zu verabschieden. Was anderes war ja auch nicht zu erwarten zu gewesen. Schweigend verstaute ich meinen Koffer im Kofferraum des Kombis und setzte mich zu Mrs. Jensen. Ohne mich anzugucken sagte sie: „Wenn du das wieder in den Sand setzt, dann können wir nichts mehr für dich tun, hast du das verstanden?“. Ich nickte nur. Das war mir längst bewusst. Ich hatte schon immer gewusst, dass es mein Schicksal war irgendwann ganz auf mich allejnegestellt zu sein. Das Auto fuhr los und ich war froh endlich von diesem schrecklichen Haus wegzukommen.
Ich hatte schon auf den ersten Blick gewusst, dass ich hier nicht bleiben würde, als mich Mrs. Jensen hier vor etwa einem halben Jahr abgesetzt hatte. Auch wenn die Fassade des Hauses in noch so einem schönen Weiß leuchten mochte, konnte sie mich nicht über die verunreinigten Farben, der Seele des Hauses hinwegtäuschen – vergiftet durch die Auren seiner Bewohner. Das Heim eines Menschen gab mir immer schon den ersten Aufschluss über den Charakter seines Bewohners. Denn in den dicken Wänden speicherten sich die Energien, die jene Menschen von sich gaben, wenn sie sich für längere Zeiten in dem Gebäude aufhielten. Wie viele Steine lange die Wärme der Sonne speicherten, so nahmen sie auch diese Energien für längere Zeit in sich auf. So erkannte ich schon auf den ersten Blick, die wichtigsten und grundlegendsten Dinge, die seine Bewohner ausmachte. Das Haus, welches im Rückspiegel gerade immer kleiner wurde, hatte ein trübes Gelb umgeben. Dieses versiffte Gelb hatte mir schon beim ersten Ankommen gezeigt, dass ich nur hier war, weil es der Pflegefamilie Geld einbrachte. Denn in diesem Zustand, zeugte die Farbe von Materialismus. Desweiteren konnte man ihr auch noch den Neid und die Missgunst entnehmen, mit denen sich die Familienmitglieder gegenseitig beschenkt hatten. Die Heuchelei in diesem Haus hatte mir regelmäßig die Luft zum Atmen geraubt. Das falsche Lächeln mit dem Bridget ihren Mann immer bedacht hatte, bevor er zur Arbeit gefahren war und sich dann Tag für Tag andere Lover die Klinke in die Hand gegeben hatten. Die verwöhnte Melissa, die mir immer mein eh schon knapp bemessenes Taschengeld abgenommen hatte und dann scheinheilig gefragt hatte, warum ich denn jeden Tag die gleichen Klamotten anhätte und nie was aus meiner Spackenfresse machen würde. Und dann war da noch der Vater gewesen, der mir immer ein wenig leidgetan hatte unter der Regentschaft seiner Frau und seiner Tochter. Diese beiden falschen Schlangen hatten alles mit ihm machen können, ohne dass er je versucht hatte etwas dagegen zu sagen. Ich hatte außerdem nur zu oft dabei zuhören müssen, wie Bridget – nach lautstarkem Liebesspiel – mit ihrem derzeitigen Lover über ihren Mann hergezogen war.
Aber ich hatte mich da nicht eingemischt. Wenn ich über die Jahre etwas Sinnvolles in meinen unzähligen Pflegefamilien gelernt hatte, dann, dass man die natürliche Hierarchien und Umgebungen, nicht verändern durfte. Denn die Katastrophen die sich daraus ergaben, konnte man absolut nicht mehr steuern. Deswegen hatte ich immer den Kopf eingezogen und die Probleme der Familie Jackson, die Probleme der Familie Jackson sein lassen. Jetzt gehörte das zum Glück der Vergangenheit an.
Leider blickte ich nicht viel optimistischer in die Zukunft. Dazu hatte ich einfach schon zu viele Enttäuschungen hinter mir.
Wie immer war die Stille in Mrs. Jensens Kombi erdrückend. Über die Jahre hatte sie es perfektioniert ihr Schweigen verdammt anklagend klingen zu lassen und dabei ihren eisigen Blick auf mich zu legen ohne mich dabei anzusehen. Auch wenn ich nie verstand, wie sie das machte. Manchmal versetzte mir das Ganze immer noch einen Stich, wenn ich neben ihr in diesem Auto saß wie gerade in diesem Moment. Denn auch wenn ich in die wenigsten Menschen mein Vertrauen setzte und schon gar keine Erwachsenen, war sie immer noch die Person die mich seit dem Tod meiner Eltern durch mein Leben begleitete und dabei eine regelmäßige Konstante bildete. Der Gedanke daran, sie immer wieder zu enttäuschen, ließ also irgendwo tief in meinem Inneren - wo sich eventuell ein kleiner Teil von mir nach ihrer Anerkennung sehnte – etwas schmerzhaft zusammenziehen. Doch ich schob diese sinnlosen Gedankengänge beiseite – denn ich wusste, dass es am Ende wieder so enden würde. Irgendwann würde die Familie, zu der wir gerade unterwegs waren, genug von mir und meinem schwierigen Charakter haben und mich wieder in die Obhut des Jugendamts abgeben. Und dieses hatte mir ja durch Mrs. Jensen klargemacht, dass das hier meine letzte Chance war. Entweder ich würde mich mit meiner neuen Pflegefamilie arrangieren oder ich würde es endgültig verbockt haben.
„Wir sind da“, schnarrte Mrs. Jensen auf einmal von der Seite und riss mich damit aus meinen trüben Gedanken. Langsam löste ich meinen Anschnallgurt und öffnete umständlich die Tür, um mich noch einen Moment länger davor zu bewahren, das Haus anzuschauen und in seiner Seele von meiner nächsten Enttäuschung lesen zu können. Das Knallen der Autotür. klang unheilvoll in meinen Ohren, aber das bildete ich mir wahrscheinlich nur ein, da ich mit dem Schlimmsten rechnete. Von der grellen Sonne geblendet, schirmte ich meine Augen ab um etwas erkennen zu können. Bewusst blockierte ich erst ein Mal die Farben, die sich mir aufdrängen wollten, den zuerst wollte ich mir einen Eindruck von der äußeren Fassade machen, die alle anderen Menschen sahen und mich vielleicht ein wenig der Illusion hingeben, dass es dieses Mal anders war. Wir waren anscheinend bis an den Stadtrand gefahren, denn direkt an das Haus grenzte der Wald an, was für mich schon mal ein Pluspunkt war. Denn wenn ich mit meiner Pflegefamilie gar nicht klarkam, konnte ich einfach in den Wald verschwinden. Das Haus selbst war viel kleiner, als das aus dem ich kam. Einerseits mochte ich kleine Häuser viel lieber, aber andererseits bedeutete das, dass ich weniger Platz hatte den anderen Menschen auszuweichen. Ein kleiner, verwachsener Vorgarten war vor dem Haus angelegt und ich konnte mir gut vorstellen, wie hier tagsüber die Hummeln und Bienen durch die Blumen summten – was meine neue Pflegefamilie leider Gottes noch sympathischer machte, denn in der modernisierten Welt gab es leider viel zu wenige Menschen mit bienenfreundlichen Vorgärten. Meistens waren vor den Häusern solche Steinwüsten angelegt – welche meiner Meinung nach, nicht einmal wirklich schön waren – oder der Rasen sah aus, als würde er mit der Nagelschere geschnitten, so dass kein einziges Blümchen sich traute sein Köpfchen aus der Erde zu stecken. An der zum Wald gewandten Seite des Hauses rankte sich Efeu seinen Weg in die Höhe. Es sah irgendwie ein bisschen verwunschen aus und verströmte den Flair von einem alten Schloss. Nachdem ich alles einmal in mich aufgenommen hatte, ließ ich den Schleier fallen, der die Farben des Hauses von mir abschirmte. Erstaunlicherweise war auf den ersten Blick auch an den Farben nichts zu erkennen, was mir irgendwie vermittelte, dass hier etwas faul war. Das Haus umgab ein orangenes warmes Schimmern. Das war eine Farbe die von Fröhlichkeit, Wärme, Zuneigung und Offenheit zeugte. Ich runzelte die Stirn und tastete mit meinem Blick die Wand ab, auf der Suche nach irgendeiner Verunreinigung oder sonst etwas das mir negativ auffiel, doch da war nichts. Trotzdem unterdrückte ich das Aufkeimen des zarten Pflänzchen der Hoffnung rasch wieder und straffte die Schultern. Das alles musste trotzdem nichts bedeuten. Ich hatte mich schonmal davon täuschen lassen und hatte mich mit der Pflegemutter sogar ein wenig angefreundet. Doch dann war nach monatelanger Abwesenheit der Mann des Hauses aufgetaucht und hatte mich eine harte Lektion in Sachen Vertrauen gelehrt.
„Kommst du jetzt oder willst du Wurzeln schlagen?“, riss mich die ungeduldige Stimme von Mrs. Jensen aus meiner Betrachtung. Sie hatte bereits das kleine Gartentörchen geöffnet und war bis zur Haustür gegangen. Hastig zerrte ich den Koffer aus dem Kofferraum des Kombis und beeilte mich ebenfalls zum Haus zu gelangen. Mrs. Jensen streckte die Hand aus und drückte den Klingelknopf. Ich reckte den Kopf um einen Blick auf das Klingelschild zu erhaschen. Ameziane. Der Name klang wunderschön und ich beschloss sobald ich etwas Ruhe hatte zu googlen, was er bedeutete. Denn ich hatte einen kleinen Tick mit Namen und ihren Bedeutungen. Mein eigener Name bedeutete die Strahlende oder die Morgenröte. Dabei war an mir rein gar nichts Strahlendes. Aber letztendlich waren es ja auch nur Namen, egal ob sie in eine andere Sprache übersetzt jetzt Weisheit oder bitter hießen. Meine Gedankengänge wurden durch eine sich öffnende Tür unterbrochen. Eine Frau die nicht viel älter als 24 aussah streckte ihren Kopf heraus und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus als sie mich erblickte. Sie war eine zierliche Persönlichkeit und war kaum größer als ich. Ihre Augen waren von einem warmen Braun, das einem sofort das Gefühl gab, sich wohlfühlen zu können. Dagegen zeugten ihre wild abstehenden schwarzen Locken, die sie kaum mit einem Zopfgummi gebändigt bekam, von einer Lebendigkeit, die ihr innezuwohnen schien. „Kommt herein. Wir haben euch schon erwartet“. Mit einer einladenden Geste öffnete sie die Tür nun ganz und wartete darauf, dass wir an ihr vorbeikamen.
Mit einem kleinen Ächzen wuchtete ich den Koffer die Stufen hinauf, während meine Gedanken sich an dem kleinen Wörtchen wir aufgehängt hatte. Es handelte sich also um mehrere Leute. Von der Frau schien im Moment keinerlei Gefahr auszugehen – ihre Farben waren hell und freundlich und befanden sich hauptsächlich in Brusthöhe. Das bedeutete, dass es sich um Emotionen und auch Grundeinstellungen handelte. Viel mehr musste ich darauf achten, wenn sich Farben auf Kopfhöhe befanden. Oftmals zeugten Farben die von dort kamen von Materialismus oder Berechnung und sowas bedeutete meistens nichts Gutes für mich. Aber die Frau vor mir war vollkommen aufgeschlossen. Sowohl in ihren Farben, als auch in ihrer Wesensart und wie sie sich uns gegenüber benahm. Nachdem ich all diese Beobachtungen in Sekundenschnelle analysiert und gespeichert hatte, wandte ich deswegen meine volle Aufmerksamkeit der Tür zu, hinter der ich spüren konnte, dass dort jemand war. Dass sich jemand dort befand konnte ich an dem leichten Ziehen ausmachen, welches meine Aufmerksamkeit dorthinlenkte. Wenn mich jemand gefragt hätte, wo ich das Ziehen spürte hätte ich es nicht benennen können. Es war wie ein ausgelagertes Körperteil, welches seine Fühler in alle Richtungen ausstreckte und mir alle möglichen Informationen zukommen ließ. Als ich noch ein Kind gewesen war, hatte mich das alles sehr überfordert. Informationen, Farben, Formen, Gerüche, Empfindungen, Emotionen und alle damit verbundenen Eindrücke hatten mich ungefiltert überrollt. Und nicht selten hatte ich scheinbar grundlos angefangen zu weinen, weil mich dieser schiere Überfluss an Eindrücken schlicht und ergreifend überfordert hatte. Mittlerweile hatte ich gelernt zumindest Teile dieses zusätzlichen Bewusstseins auszuschalten und für mich stummzuschalten, damit ich in der Lage war mich in meiner Umgebung zurechtzufinden.
„Den Koffer kannst du erst einmal im Flur stehen lassen“, informierte mich die mir noch immer unbekannte Frau freundlich und ich realisierte, dass ich im Begriff gewesen war einfach mit dem Koffer durch die Tür zu spazieren. Schnell ließ ich den Griff des Koffers einfahren und stellte ihn an der nächstbesten Stelle an die weiße Wand. „Oh und ich würde euch beide bitten euch die Schuhe auszuziehen bevor ihr das Wohnzimmer betretet. Mir persönlich macht das ja nichts aus, aber Sarah ist da ein wenig pingeliger als ich“. Sie lachte kurz auf und präsentierte dabei ihre strahlend weißen Zähne. Doch dann schien ihr etwas einzufallen und sie schlug sich die Hand vor den Mund. „Ich habe mich dir ja noch gar nicht vorgestellt. Ich gehe mal davon aus, dass Sie“, dabei wandte sie sich kurz zu Mrs. Jensen bevor sie sich wieder zu mir umdrehte, „wissen wer ich bin, aber da das alles jetzt doch so plötzlich kam, hatten wir noch keine Zeit uns kennenzulernen. Ich heiße Najuma“. Ich hatte bereits vermutet, dass der Name der an der Tür hing ihr Geburtsname war, aber nach der Nennung ihres Vornamens war ich mir da fast sicher. Doch trotz ihres einladenden Lächelns, konnte ich mich nicht dazu hinreißen ihr Lächeln zu erwidern, sondern entgegnete nur scharf: „Ich gehe mal davon aus, dass Ihnen mein Name bekannt sein dürfte“, wobei ich eine besondere Betonung auf das kleine Wörtchen Ihnen legte, um im Vorneherein klarzumachen, dass ich nicht vorhatte unsere Beziehung auf eine persönliche Ebene zu heben. Kurz sah ich wie ihr Lächeln bröckelte und Unsicherheit in ihren Augen aufblitzte, bevor sie auch schon wieder ihr Strahlen aufgesetzt hatte. „Ja, klar. Kommt rein“ . Endlich öffnete sie die Tür und ich konnte den Raum betreten.
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So, jetzt kennt ihr auch Roxanne. Na, was haltet ihr von ihr?
Einen ersten Einblick in ihre Fähigkeiten habt ihr ja auch schon bekommen. Deshalb mal an dieser Stelle - wenn ihr euch irgendeine Fähigkeit aussuchen könntet, welche würdet ihr wählen?
Und zu guter Letzt, was haltet ihr denn bisher von Roxannes neuem Zuhause?
Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen und wir sehen uns übernächsten Samstag 😊❤️
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