26 - Alte Dämonen
Noelies POV
Kingston Valley ist ganz anders als das idyllische Ravenvale. Die Straßen sind gesäumt von Fabriken und Industrieanlagen, die oft einen leichten Geruch nach Maschinenöl und frischem Beton verströmen. Hochhäuser ragen bis in die Wolkenspitzen hinauf und erzeugen ein Gefühl der Enge.
Im Gegensatz zu den sanften Klängen der Natur in Ravenvale, wo Vögel zwitschern und der Wind durch die Bäume weht, wird man hier von einer Symphonie aus Hektik und hupenden Autos umgeben.
An den Ecken der Straßen stehen Cafés und Imbissbuden. Die Menschen scheinen viel gehetzter zu sein und die wenigen Grünflächen sind meistens total überfüllt.
„Hast du eigentlich einen Lieblingsort in Kingston Valley?", erkundige ich mich neugierig bei Brendon.
„Es gibt eine alte Lagerhalle am Stadtrand, die schon seit einigen Jahren leer steht", verrät er mir mit einem verschwörerischen Unterton in der Stimme. „Das Gebäude ist ziemlich heruntergekommen, aber ich bin trotzdem gerne dort gewesen, um Fotos zu machen. Am liebsten beim Sonnenuntergang. Dann war die Atmosphäre so mystisch und geheimnisvoll." Ein minimales Lächeln macht sich auf seinen Lippen breit.
„Zeigst du mir die Halle?"
Brendon legt seinen Kopf in den Nacken und schaut zum Himmel empor, wo graue Wolken die letzten, goldenen Herbstsonnenstrahlen verschlucken.
„Solange es nicht anfängt zu regnen, können wir gerne dorthin gehen. Der Weg dauert aber über eine Stunde."
„Kein Problem."
Wir verlassen die Hauptstraße, auf der uns ständig Menschen mit ernsten Mienen und Kopfhörern entgegenkommen, und biegen auf einen Seitenweg ab, der von mehreren Bäumen eingefasst wird. Bunte Blätter wirbeln durch die Luft und führen einen Tanz aus kräftigen Farben auf.
Am Ende der Allee erreichen wir einen kleinen Park. Neben dem Schotterweg erstreckt sich ein Bach, der leise plätschert. Anders als in Ravenvale sieht das Wasser ziemlich verdreckt und unrein aus. Plastiktüten, Zigarettenschachteln und Essensreste werden in regelmäßigen Abständen ans Ufer gespült.
Bei diesem Anblick rümpfe ich die Nase. Es ist wirklich traurig, dass der Mensch so dämlich ist, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören.
„Ist das-", setze ich an, werde allerdings von einer lauten Jungenstimme, die mir eine eisige Gänsehaut verpasst, unterbrochen.
„Ey Leute, schaut mal! Da vorne ist Big B!"
Brendon, der neben mir läuft und bis gerade noch einen Vogel beobachtet hat, erstarrt abrupt in seiner Bewegung. Er bleibt mitten auf dem Weg stehen und atmet mit jeder Sekunde hektischer. Angst spiegelt sich in seinen dunklen Augen wider, während sein gesamter Körper von einem Erdbeben erfasst wird.
„Hey ...", murmele ich möglichst einfühlsam. Ich verwebe unsere Finger miteinander und male kleine Kreise auf seine Haut. „Lass uns einfach weitergehen, okay?"
Ich muss keine Hellseherin sein, um zu wissen, wer der Typ hinter uns ist. Dass er Brendons Vergangenheit angehört und ihn regelmäßig gedemütigt hat, liegt auf der Hand.
Und ja, zu gerne würde ich umdrehen und diesem Idioten in die Kronjuwelen treten, aber gerade ist es mir wichtiger, Brendon zu helfen.
„Komm schon." Ich ziehe vorsichtig an seiner Hand, aber Brendon rührt sich nicht vom Fleck.
Oh nein. Das ist kein gutes Zeichen.
Zu allem Überfluss hallt eine weitere, höhnische Jungenstimme durch die Luft. „Hey, Big B! Lange nicht gesehen! Wo hast du dich denn vor uns versteckt?"
Es fällt mir verdammt schwer, ruhig zu bleiben und nicht wie Sprengstoff hochzugehen.
„Bitte Brendon!", flehe ich. „Lass uns einfach gehen. Diese Typen sind es nicht wert!"
Wie auch schon vor zwei Wochen auf dem Spielplatz ist Brendon nicht mehr aufnahmefähig. Sein glasiger Blick klebt auf dem Boden, seine Finger nesteln an dem Saum seiner Jacke herum und sein Brustkorb hebt sich viel zu schnell und ungleichmäßig.
Dass er vor lauter Angst erstarrt ist, ist nicht zu übersehen.
Verdammt! Was mache ich denn jetzt?
Die Entscheidung wird mir abgenommen, als das Gegröle der fremden Jungs immer lauter wird und ihre Schritte im Sekundentakt näherkommen. Ihre Blicke brennen wie ätzende Säure in meinem Rücken und lassen mich erschaudern.
„Big B, wir reden mit dir!"
„Es ist voll unhöflich, seine alten Freunde nicht zu begrüßen! Wir hätten etwas mehr Anstand von dir erwartet."
Ganz langsam drehe ich mich um. Natürlich, ohne Brendons Hand loszulassen.
Mein Blick landet auf drei Typen in unserem Alter. Der erste Junge hat auffällige Karamelllocken, die wirr in alle Richtungen abstehen, als ob er gerade aus einem Windtunnel gekommen wäre. Der Zweite trägt eine riesige Brille, die fast sein ganzes Gesicht einnimmt. Der letzte Junge hat mehrere Goldketten um dem Hals baumeln und zieht genüsslich an einer Zigarette. Ihre Körper sind muskulös und definiert und sie sind beinahe zwei Meter groß.
Unwohl schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter und klammere mich fester an Brendons Hand.
„Na, wer bist du denn?" Der Junge mit den karamellfarbenen Haaren macht einen großen Schritt auf mich zu. Mit einem ekeligen Grinsen auf den Lippen mustert er mich von oben bis unten, wobei sein Blick ein bisschen zu lange auf meiner Oberweite verweilt. „Oh, du bist Fan der Crushers? Gratuliere, Süße. Du hast einen guten Geschmack." Seine beiden Freunde kichern dämlich.
Ich hingegen beiße wütend meine Zähne aufeinander. Elektrische Blitze peitschen durch meinen Körper und entzünden ein loderndes Feuer in meinem Magen.
Süße? Ernsthaft?! Zu gerne würde ich diesem schmierigen Typen vor die Füße spucken, aber Brendon zuliebe halte ich mich zurück. In der Hoffnung, dass diese Idioten einfach wieder verschwinden, wenn wir nicht auf ihre Provokationen anspringen.
„Na ja ...", spricht Karamelllocke nun weiter. Seine Augen wandern dabei zu meiner Hand, die mit der von Brendon verschlungen ist. „Vielleicht ist dein Geschmack doch nicht so gut."
Ich zwinge mich, tief ein- und auszuatmen. Schön ruhig. Und langsam.
„Ich meine: Big B? Komm schon! Wer gibt sich freiwillig mit diesem Freak ab?" Der Junge lacht. „Du bist viel zu sexy für den!"
Jetzt scheint auch der Goldketten-Kerl genug Mut gefasst zu haben, denn er stellt sich neben seinen Kumpel und schnippt seine Zigarette auf den Boden. Seine Augen sind so schwarz wie die Nacht und erinnern mich automatisch an das Böse. „Bestimmt hat Big B ihr Geld angeboten, damit sie mit ihm durch die Stadt läuft."
Wieder lachen die Typen.
Ich versuche erneut, an Brendons Hand zu ziehen, um von hier zu verschwinden, doch er rührt sich keinen einzigen Millimeter. Stattdessen wird seine Atmung unruhiger und sein Körper zittert stärker.
Scheiße!
„Big B!" Karamelllocke möchte sich an mir vorbeischieben und zu Brendon gehen, doch ich stelle mich ihm in den Weg. Direkt wandern seine Augenbrauen überrascht in die Höhe.
„Wow", lacht er spöttisch, nachdem die Verwunderung aus seinem Gesicht verschwunden ist. „Wie viel hat er dir gezahlt, Kleine? Muss ja ein halbes Vermögen sein, wenn du sogar versuchst, ihn zu beschützen. Echt niedlich."
Kaum merklich zuckt Brendon neben mir zusammen. Es bricht mir das Herz, ihn leiden zu sehen. Am liebsten würde ich seinen Schmerz sofort auf mich nehmen, nur damit es ihm bessergeht.
Ich weiß, dass es eine dumme Idee ist, mich auf die Sticheleien dieser Idioten einzulassen, doch ich erwidere mit bissiger Stimme: „Wer sagt, dass Brendon mich bezahlt hat? Vielleicht habe ich ihm ja sogar Geld geboten, damit er Zeit mit mir verbringt."
Kurz sind die Jungs so perplex, dass ihnen die Gesichtszüge entgleisen.
Das wäre der perfekte Moment, um endlich abzuhauen, aber leider macht Brendon keine Anstalten, aus seiner Eisstarre zu erwachen.
„Respekt! Fast hätte ich dir geglaubt", lobt mich der Goldketten-Fanatiker mit einem spöttischen Schnauben. „Aber ganz ehrlich? Niemand gibt sich freiwillig mit Big B ab. Hast du mal dieses hässliche Fleckengesicht gesehen? Der Kerl ist total ekelig und fett und-"
Ich lasse Brendons Hand los.
Das Blut rauscht in meinen Ohren und mein Herz schlägt im Takt des Zorns.
Das geht zu weit. Viel zu weit!
Begleitet von der Wut, die unter meiner Haut pulsiert, gehe ich auf den Goldketten-Idioten zu, hole mit der rechten Hand aus und verpasse ihm eine saftige Ohrfeige. Das Klatschen hallt als Echo von den Bäumen wider und erzeugt eine eisige Gänsehaut auf meiner Wirbelsäule.
Normalerweise verabscheue ich jede Form von Gewalt, aber jetzt gerade ging es nicht anders. Damit mich die Typen ernstnehmen, muss ich eine Sprache sprechen, die selbst hirnlose Arschlöcher verstehen.
„Die einzigen ekeligen Menschen, die ich hier sehe, seid ihr!", fauche ich die Jungs wütend an. „Was für Minderheitskomplexe müsst ihr haben, um einen Unschuldigen zu demütigen, hm? Ihr seid einfach nur erbärmlich!" Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, sodass mir schwindelig wird.
„Hey!" Während der Goldketten-Kerl zwei Schritte zurücktaumelt und sich über seine rote Wange reibt, baut sich Karamelllocke bedrohlich vor mir auf. Er möchte nach meinem Handgelenk greifen, doch ich weiche ihm rechtzeitig aus. „Du hast keine Ahnung, mit wem du dich hier gerade anlegst, Kleine."
Auch wenn mir mein Herz in die Hose rutscht, erwidere ich: „Oh, doch. Ihr seid beschissene Mobber!"
„Falsch!", behauptet Karamelllocke selbstbewusst. „Ich bin der Sohn vom besten Anwalt der Stadt."
Ein humorloses Lachen entflieht meinen Lippen. „Super", grinse ich ihn sarkastisch an. „Dann kann er dir bestimmt auch erklären, dass du wegen Mobbings angezeigt und sogar ins Gefängnis gesteckt werden kannst."
Seine selbstbewusste Maske bröckelt. Das erkenne ich an dem panischen Flackern in seinen Pupillen.
Der Goldketten-Junge und der Typ mit der riesigen Brille, der eher wie ein Mitläufer wirkt, entfernen sich immer weiter von uns. „Ey, Rick, komm! Lass uns abhauen!"
Karamelllocke – oder eher gesagt Rick – funkelt mich hasserfüllt an. „Die Kleine will uns doch nur Angst machen!"
Mein falsches Grinsen wird breiter. In derselben Sekunde ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, entsperre das Display und wähle die Nummer der Polizei.
„Die Kleine hetzt euch gleich die Cops auf den Hals, wenn ihr nicht endlich verschwindet!"
Ich bemühe mich um eine starke, selbstbewusste Stimme, dabei schlottere ich innerlich vor lauter Angst. Diese drei Typen sind mir echt nicht geheuer. Vor allem Rick nicht, der mich anschaut, als würde er mir am liebsten ein Messer in die Brust rammen.
„Ich gebe euch drei Sekunden", füge ich hinzu. „Entscheidet euch weise."
Rick ist natürlich der Einzige, der stehenbleibt. Er strafft seine Schultern und schaut arrogant von oben auf mich herab.
„Eins!", zähle ich extra laut. Gleichzeitig bewege ich meinen Finger näher zum Handydisplay.
„Man, Rick. Jetzt komm endlich!"
Er macht keine Anstalten, nachzugeben.
„Zwei!"
Rick sieht aus, als würde er jeden Moment explodieren. Dann macht er allerdings zwei Schritte rückwärts. Nicht, ohne vorher nochmal vor meine Füße zu spucken.
„Du solltest beten, dass wir uns kein zweites Mal begegnen, Kleine!", droht er mir.
„Bestell deinem Vater liebe Grüße!", erwidere ich bloß mit erhobenem Mittelfinger, als er sich endlich umdreht und zu seinen Freunden verschwindet. Ich schaue den drei Arschlöchern noch so lange hinterher, bis sie endgültig aus meinem Sichtfeld verschwunden sind.
Scheiße, das war knapp!
Schwer atmend schiebe ich mein Handy zurück in meine Hosentasche und stütze mich kurz auf meinen Oberschenkeln ab. Ich habe das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können und als würde sich alles um mich herum drehen.
Obwohl die Jungs weg sind, schlängelt sich die Angst wie Gift durch meinen ganzen Körper. Ein paar Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und kullern stumm und verloren über meine Wangen.
„Sie sind weg", wispere ich leise, um mich selbst zu beruhigen. Dann etwas lauter: „Sie sind weg!"
Trotz des Schwindels und der Übelkeit, die in mir aufsteigen, taumele ich die wenigen Meter zu Brendon zurück. Er hockt mittlerweile wie ein Häufchen Elend auf dem Boden und schluchzt leise.
Autsch!
Mein Herz zerbricht in tausend Splitter und blutet.
„B-Brendon", stammele ich leise seinen Namen. Ich setze mich neben ihn und lege schützend meine Arme um seinen bebenden Oberkörper. „Sie sind weg!", wiederhole ich mich. „Sie können dir nichts mehr antun."
Verzweifelte Schluchzer entfliehen seinen Lippen. Er schaut mich gequält aus seinen dunkelbraunen Augen an, ehe er wieder in Tränen zerfließt und wie ein verletzter Wolf jault. Wahrscheinlich vor Schmerz.
„Sh." Ich fange seine Glasperlen auf. Mit der anderen Hand streichele ich über seinen Rücken. „Du bist jetzt in Sicherheit, okay? Ich bin bei dir. Immer!"
Kaum merklich nickt Brendon. Seine Stimme ist nicht lauter als ein Hauchen, als er erschöpft wispert: „Danke, Noelie. Danke, dass es dich gibt!"
Dann bricht er endgültig in sich zusammen.
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