23 - Zwischen Geistern und Vampiren
Brendons POV
Um ehrlich zu sein wusste ich gar nicht, dass es ein Kostümgeschäft in der Innenstadt von Ravenvale gibt.
Das Getup Galore ist riesig. Es erstreckt sich über mehrere hundert Meter, die mit endlosen Reihen von Regalen und Kleiderständern gefüllt sind. Die Regale sind mit allen erdenklichen Kostümen vollgestopft: Von gruseligen Monstern bis hin zu märchenhaften Prinzessinnen. In den Gängen finden sich Umhänge, Masken, Hüte und sogar komplette Outfits wieder, die sich thematisch an Halloween, Weihnachten und Fasching orientieren. Natürlich gibt es auch unzählige Accessoires, wie zum Beispiel gefälschte Waffen, Kronen, Schmetterlingsflügel, Vampirzähne oder sogar leuchtende Zauberstäbe.
Passend zur Halloween-Saison ist der Laden mit Spinnenweben, Kürbissen und Fledermaus-Kuscheltieren dekoriert. In den Ecken stehen lebensgroße Skelette und Hexenfiguren, die beim Vorbeigehen mit Licht- und Soundeffekten für einen kurzen Herzaussetzer sorgen.
So ein cooles Kostümgeschäft habe ich noch nie zuvor gesehen!
„Wonach suchen wir eigentlich?", frage ich Noelie neugierig, während sie sich einen Einkaufswagen schnappt.
„Nach einem Halloweenkostüm."
Ich grinse. „Das ist mir schon klar", behaupte ich, „aber was für ein Kostüm hast du dir ungefähr vorgestellt?"
Noelie bleibt so abrupt stehen, dass ich beinahe mit ihr kollidiere. Gerade noch rechtzeitig kann ich einen Schritt zur Seite machen.
„Letztes Jahr bin ich als der verrückte Hutmacher von Alice im Wunderland gegangen", erzählt sie mir. „Lass uns einfach schauen, was es hier so gibt, okay?"
„Okay", stimme ich ihr zu.
Voller Elan lotst mich Noelie durch die vielen Regalreihen. Wir passieren Schränke mit Kunstblut und Glitzerpartikeln und Kleiderstangen, an denen gruselige Zombie-Masken neben Marienkäferflügeln hängen. Es ist wirklich beeindruckend, wie vielfältig das Getup Galore aufgestellt ist.
Als wir im hinteren Teil des Ladens ankommen – dort, wo die Skelette und Hexenfiguren an jeder Ecke lauern – fällt mein Blick sofort auf ein schwarz-rotes Kleid, das an den Seiten von einem verspielten Flammenmuster gesäumt wird. Dazu gehören rote Teufelshörner, die auf einem schmalen Haarreif sitzen, und ein langer, spitz zulaufender Teufelsschwanz, der an der Rückseite des Kleides befestigt werden kann.
„Wie findest du das hier?" Ich nehme das Kostüm vorsichtig von der Stange und zeige es Noelie.
Sie legt den Kopf schief und mustert das Kleid mit gefurchter Stirn. „Ich soll als Teufel gehen?", fragt sie mich unzufrieden. „Ist das nicht total einfallslos? Fast alle Mädels verkleiden sich so, wenn ihnen nichts Besseres einfällt."
Obwohl ich mir Noelie sehr gut in dem Teufelkostüm vorstellen könnte, hänge ich das Kleid zurück an die Stange.
„Weißt du, ich möchte gerne etwas Spezielleres. Etwas Individuelles. Etwas, das nicht jeder trägt", versucht mich Noelie an ihren Vorstellungen teilhaben zu lassen. „Tut mir leid, dass ich diesbezüglich so kompliziert bin."
„Ach, alles gut", beschwichtige ich sie mit einem Lächeln. „Wir haben ja Zeit." Im Einklang mit meinen Worten setzen sich die Zahnräder unter meiner Schädeldecke in Bewegung. Meine Augen wandern über all die Kostüme in der Halloween-Abteilung hinweg, doch leider entdecke ich nur die typischen Monster und Zombies, die Noelie zu 08/15-mäßig wären.
Hm ... Wie könnte sie sich wohl am besten von den anderen abheben?
Ohne es kontrollieren zu können, landet mein Blick auf einem kleinen Mädchen, das gemeinsam mit ihrer Mutter vor dem Regal mit den Halloween-Accessoires steht. „Warum kann ich mich nicht einfach als Biene Maja verkleiden?", fragt das Mädchen beleidigt, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkt. „Ich mag keine gruseligen Monster!"
Bei ihren Worten muss ich schmunzeln. Gleichzeitig wird ein Feuer der Erkenntnis in meinem Hirn entfacht.
„Oh mein Gott!", murmele ich aufgeregt. Ich löse meine Augen von dem kleinen Mädchen und eile stattdessen zu Noelie hinüber, die misstrauisch ein Vampirkostüm begutachtet. „Noelie? Ich glaube, ich habe eine Idee!"
„Echt? Lass hören!" Sie schaut mich aufmerksam aus ihren blauen Augen an. Noch in derselben Sekunde hängt sie das Vampirkostüm zurück an die Kleiderstange.
„Was hältst du davon, wenn du dir eine typische Kinderfigur aussuchst? Zum Beispiel Winnie Pooh oder Mickey Mouse ..."
Noelies Augenbrauen wandern verwirrt in die Höhe. „Und dann?"
„Wir, na ja, wir könnten das Kostüm so verändern, dass es schaurig und gruselig aussieht. Kunstblut gibt es hier ja genug."
Ganz langsam glätten sich die Falten auf ihrer Stirn. Stattdessen zupft nun ein zufriedenes Grinsen an ihren Mundwinkeln. „Brendon?", fragt sie mich.
„Hm?"
„Du bist ein Genie!" Noelie klatscht begeistert in die Hände. Nur einen Atemzugspäter schnappt sie sich den Einkaufswagen und marschiert schnurstracks in den vorderen Teil des Getup Galores. Ich habe Mühe, ihr zu folgen, aber irgendwie gelingt es mir, Schritt zu halten – sogar ohne Stolperer!
Noelie wühlt sich sofort durch das dichte Sortiment. Um sie herum hängen Kostüme von typischen Kinderfiguren wie Spongebob Schwammkopf, Bugs Bunny und anderen Cartoon-Charakteren, die mit ihren großen, lächelnden Gesichtern aus den Kleiderstangen hervorlugen.
Nach etwa fünf Minuten zieht Noelie ein Kostüm hervor, das aus einem kurzen Kleid besteht. Während das Oberteil in einem hellen Weiß strahlt, ist der Rock fließend und knallpink. Ungefähr auf Brusthöhe ist das Gesicht einer Katze in den Stoff eingearbeitet. Sie hat schwarze Knopfaugen, eine gelbe Nase und auf ihrem Kopf prangt eine rosa Schleife.
Zu dem Kostüm gehören außerdem eine weiße Kapuze mit aufgenähten Katzenohren, eine überdimensionale, pinke Schleife, weiße Handschuhe und rosafarbene Kniestrümpfe mit kleinen, aufgedruckten Schleifchen.
„Was für eine Kinderfigur soll das sein?", frage ich Noelie verwirrt.
„Hello Kitty", antwortet sie mir. „Oder wie ich sagen würde: Bloody Kitty." Sie legt das Kostüm in den Einkaufswagen, ehe sie sich übermütig meine Hand schnappt und mich quer durch das Getup Galore schleift. Geradewegs zu der Abteilung mit den Accessoires. „Komm mit, Brendon! Jetzt wird's blutig!"
🍂🍂🍂
Eine Dreiviertelstunde später kommen Noelie und ich außer Atem vor ihrem Haus zum Stehen. Mit zwei vollbeladenen Tüten kämpfen wir uns die Treppenstufen zur Eingangstür hinauf und betreten dann den Flur.
Natürlich habe ich nur zugestimmt, sie zu ihrem Haus zu begleiten, weil mir Noelie mehrfach versichert hat, dass der Rest ihrer Familie noch unterwegs sei und nicht vor 8 PM hier aufkreuzen würde.
Hoffentlich hält sie ihr Wort, denn ich fühle mich nicht bereit dazu, die Menschen kennenzulernen, die ihr am allerwichtigsten sind.
Nachdem wir unsere Jacken aufgehangen und unsere Schuhe ausgezogen haben, führt mich Noelie ins Wohnzimmer. Direkt kommt die Huskydame Balou zu uns gestürmt und springt schwanzwedelnd an Noelies Beinen hoch, um ihr aufgeregt durchs Gesicht zu lecken.
„Balou!", schimpft Noelie mit ihr. „Wann verstehst du endlich, dass ich keine Küsschen von dir bekommen möchte, hm?"
Fast schon beleidigt lässt die Hündin von ihr ab. Stattdessen kommt sie nun zu mir getapst und beschnuppert mich vorsichtig. „Hey Balou", begrüße ich sie strahlend. „Na? Hast du mich schon vermisst?" Ich vergrabe meine Finger in ihrem weichen Fell und kraule sie hinter den Ohren. Sofort schließt Balou ihre Augen und schmatzt genüsslich.
„Oh man", seufzt Noelie amüsiert neben mir. „Ich dachte, du bist mitgekommen, um mir bei meinem Kostüm zu helfen?!" Sie versucht zwar vorwurfsvoll zu klingen, doch ich erkenne den Schalk in ihren Augen glitzern. „Oder bist du jetzt Balous persönlicher Streichel-Diener?"
Bei der erfundenen Jobbezeichnung muss ich lachen. „Keine Sorge", erwidere ich, „du bleibst natürlich meine Nummer Eins."
Kaum sind die Worte aus meinem Mund gepurzelt, erstarre ich mitten in meiner Bewegung. Siedend heiße Blitze schießen mir in die Wangen und ein Feuer der Verlegenheit peitscht durch meine Venen.
Scheiße! Habe ich das gerade wirklich laut gesagt?
Oh Gott, ich bin so dumm!
Ich wage es nicht, Noelie anzuschauen. Zu groß ist meine Angst, Abneigung oder andere, negative Emotionen in ihrem Blick zu finden. Am liebsten würde ich mich vor lauter Scham vom Erdboden verschlucken lassen.
„Ha!", ruft Noelie nur wenige Sekunden später triumphierend. Sie streckt der Hündin ihre Zunge entgegen und wirft jubelnd die Arme in die Luft. „Hast du das gehört, Balou? Stell dich gefälligst hinten an."
Ganz langsam, wie in Zeitlupe, hebe ich nun doch meinen Kopf. Noelies blaue Augen funkeln und das niedlichste Lächeln, das ich jemals gesehen habe, umspielt ihre Lippen.
Sie ist nicht von meiner Aussage verschreckt? Puh, Glück gehabt.
„Jetzt, wo das geklärt wäre ..." Noelie scheucht Balou zurück in ihr Körbchen. „Lass uns endlich loslegen, Bloody Kitty zum Leben zu erwecken!"
Und das tun wir dann auch.
Die nächsten zwei Stunden sind wir damit beschäftigt, ein schauriges Horror-Kostüm zu entwerfen. Zuerst spritzen wir mit Kunstblut rote Flecken auf das weiße Oberteil des Kleides, sodass es aussieht, als wäre Bloody Kitty in eine blutrünstige Schlacht geraten. Auch die Handschuhe und Kniestrümpfe verschmieren wir mit Blut.
Danach reißen wir kleine Löcher in das Kleid, damit es abgenutzt und zerfetzt wirkt. Die rosa Schleife, die auf einem Haarreif befestigt ist, malen wir schwarz an und dekorieren sie zusätzlich mit Spinnenweben.
Abgerundet wird das Outfit von einem Plastikmesser, das an einem Gürtel befestigt und mit Kunstblut bedeckt ist.
Wie immer macht es total viel Spaß, Zeit mit Noelie zu verbringen. Wir albern miteinander herum und erzählen uns gegenseitig schaurige Halloweengeschichten. Balou wirft uns währenddessen neugierige Blicke zu und holt sich zwischendurch die ein oder andere Streicheleinheit ab.
Irgendwann, als nur noch die Katzenohren mit Blut verschmiert werden müssen, erkundigt sich Noelie bei mir: „Was machst du eigentlich am Wochenende, Brendon?"
Kaum merklich spanne ich mich an. „Ich, na ja ...", stottere ich, „ich fahre morgen früh nach Kingston Valley. Zu meinem Dad und Logan."
Eigentlich habe ich mir geschworen, nicht mehr in meine Heimatstadt zurückzukehren, aber als Logan so bitterlich am Telefon geweint hat, weil ich lange nicht mehr bei seinem Baseballspiel zugeschaut habe, bin ich eingeknickt.
Für ihn ist die derzeitige Situation auch nicht leicht. Für niemanden von uns!
„Logan hat am Sonntag ein Baseballspiel", füge ich hinzu, um mich von den fiesen Stichen in meinem Bauch abzulenken. „Er hat sich gewünscht, dass ich ihn mal wieder anfeuere."
Ein sanftes Lächeln umspielt Noelies Lippen. „Das hört sich schön an. Ich würde auch mal gerne ein Baseballspiel sehen."
„Wirklich?", hake ich überrascht nach.
„Ja. Baseball ist doch eine spannende Sportart!"
Ich habe keine Ahnung, welche Sicherung in diesem Moment bei mir durchbrennt, doch ich schlage Noelie hoffnungsvoll vor: „Komm doch mit nach Kingston Valley!"
Erstaunt legt sie das Kunstblut und die Katzenohren beiseite. Ein undefinierbarer Ausdruck verschleiert ihren Blick. „Meinst du das ernst? Ich möchte dir und deiner Familie keine Umstände bereiten!"
„Machst du nicht!", beteuere ich. „Wir haben sogar ein Schlafsofa. Extra für Gäste."
Noelie zögert. „Wäre es denn überhaupt für deinen Vater und Logan in Ordnung, wenn ich mitkommen würde?" Verunsicherung dominiert nun ihren Blick. „Sie haben sich doch bestimmt auf ein Männerwochenende mit dir gefreut, oder?"
„Ach Quatsch!" Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. „Logan mag dich total gerne und mein Dad möchte dich auch kennenlernen."
Bis vor ein paar Minuten hat mir die Vorstellung, nach Kingston Valley zurückzukehren, Angst gemacht. Ich weiß nicht, warum, aber Noelies Anwesenheit würde mir helfen – das spüre ich.
„O-Okay." Die Verunsicherung verschwindet langsam aus ihren Augen. Endlich funkeln sie wieder so hell wie Saphire. „Dann ist das ja jetzt der perfekte Zeitpunkt, um dich nach deiner Handynummer zu fragen, oder?" Noelie zwinkert mir verschwörerisch zu. „Natürlich nur, damit du mir später schreiben kannst, ob alles klappt und wann es morgen losgeht."
„Oh ... Äh ... Klar!" Mir wird heiß, denn es ist das erste Mal, dass mich ein Mädchen um meine Nummer bittet.
Aber ganz ehrlich? Ich bin überglücklich, dass ausgerechnet Noelie dieses Mädchen ist.
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