12 - Rabe Zottel
Noelies POV
Pünktlich zum Wochenende ziehen die dunklen Regenwolken vorüber und auch der Wind lässt nach. Stattdessen kämpft sich die Sonne zurück an den Horizont und bringt die Welt mit ihren warmen Strahlen zum Leuchten.
Es ist erstaunlich, dass die Menschen direkt besser gelaunt sind, wenn die Sonne scheint.
Auf meinem Weg zur Raven High begegne ich mehreren Spaziergängern, Fahrradfahrern und spielenden Kindern, die sich mit Kreidehäusern, Seilchen und Bällen den Vormittag vertreiben.
Als ich an dem kleinen Fluss - dem Silverstream - vorbeilaufe und das plätschernde Wasser höre, bleibe ich lächelnd stehen. Neben mir jagen sich zwei Schmetterlinge durch die Luft, am Flussufer entdecke ich einen Frosch und in der Entfernung höre ich das aufgeregte Gezwitscher einer Vogelschar.
Wie ich diese sonnigen Herbsttage liebe, an denen Ravenvale nochmal zum Leben erwacht!
Für ein paar Sekunden lasse ich mich noch von meinen Umweltreizen berieseln, ehe ich meinen Weg zur Raven High fortsetze. Da Taya vor zwei Tagen einen Arzttermin hatte und nicht am Cheerleadertraining teilnehmen konnte, habe ich ihr angeboten, die Choreo heute nochmal mit ihr durchzugehen. Natürlich hat sie meinen Vorschlag sofort dankend angenommen.
Um ehrlich zu sein freue ich mich darauf, endlich mal wieder Zeit allein mit Taya zu verbringen, denn sonst ist sie immer nur im Doppelpack mit Emmett anzutreffen. Obwohl die beiden schon seit zweieinhalb Jahren ein Paar sind, turteln sie noch genauso verliebt wie am Anfang herum. Und ja, das ist extrem anstrengend!
Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuche ich sowohl Taya als auch Emmett aus meinem Oberstübchen. Dabei fällt mein Blick auf den Spielplatz, der sich zu meiner Rechten befindet.
Abgesehen von einer Schaukel, einer Rutsche und einer Seilbahn gibt es noch ein altes Karussell und eine Wippe, die nicht mehr richtig funktionstüchtig ist.
In den letzten Jahren habe ich nie irgendwelche Kinder auf dem Spielplatz gesehen. Umso überraschter bin ich nun, als ich einen kleinen Jungen auf der Rutsche entdecke. Er hat dunkle Wuschellocken, die wirr in alle Richtungen abstehen, und trägt ein Spiderman-Shirt.
Mit ausgestreckten Armen rutscht er die Rampe hinunter und jauchzt dabei. Kaum ist er am Boden angekommen, erscheint eine weitere Person auf der Rutsche.
Kastanienbraune Haare ... Kaffeebraune Augen ... Helle Haut ... Eine kräftige Statur ... Unauffällige Kleidung ...
„Brendon?", murmele ich leise.
Im Einklang mit seinem Namen saust er die Rutsche hinunter und wird unten mit einem High Five empfangen.
Erst jetzt fällt mir auf, wie ähnlich sich Brendon und der kleine Junge sehen. Sie haben nicht nur dieselben, dunklen Locken, sondern auch weiche Gesichtszüge und eine ausgeprägte Kieferpartie.
Bestimmt sind die beiden miteinander verwandt. Wenn nicht sogar Brüder.
Ohne großartig darüber nachzudenken, was ich tue, betrete ich den Spielplatz und stelle meine Sporttasche im Sand ab. Dann mache ich mit einem lauten „Hey!" auf mich aufmerksam.
Synchron drehen sich die beiden Jungs zu mir um. Während mich Mini-Spiderman neugierig mustert, wirkt Brendon irgendwie verunsichert und angespannt. Von seiner lockeren Art, die ich gestern das erste Mal im Sip Happens kennenlernen durfte, fehlt jede Spur.
Komisch!
Auch wenn mich sein Verhalten misstrauisch stimmt, stapfe ich durch den Sand und bleibe mit einem fröhlichen Lächeln vor Brendon und seinem Eventuell-Bruder stehen.
„Na?"
Brendon starrt mich aus großen Augen an. Wenn er nicht aufpasst, fallen sie ihm gleich aus.
Da er keine Anstalten macht, mich zu begrüßen, konzentriere ich mich erstmal auf den kleinen Jungen und strecke ihm meine Hand entgegen. „Hey, ich bin Noelie. Eine Freundin von Brendon", stelle ich mich vor. „Und wer bist du?"
Erst möchte der Junge nach meiner Hand greifen, um sie zu schütteln, doch bei dem Klang meines Namens zuckt er zurück und verschränkt abwehrend die Arme vor der Brust. Zusätzlich zieht er seine Brauen zusammen, presst seine Lippen zu einer schmalen Linie und funkelt mich feindlich aus seinen dunklen Augen an.
Äh, okay?! Warum zum Teufel wirkt er so abweisend? Er kennt mich doch gar nicht.
„Hau ab!", fordert mich der Junge energisch auf.
Wie bitte? Ich spüre, wie mein Lächeln bröckelt und mir die Gesichtszüge entgleisen.
„Logan!", schimpft Brendon mit ihm, doch Mini-Spiderman lässt sich natürlich nicht den Mund verbieten.
„Sie soll verschwinden!", wiederholt er sich. Im nächsten Atemzug richten sich seine stechenden Augen wie giftige Pfeilspitzen auf mich. Voller Abscheu raunt er mir zu: „Ich mag dich nicht, Noelie!"
Um ehrlich zu sein bin ich gerade so überfordert, dass ich nicht weiß, was ich sagen oder machen soll. Ich sehe Logan zum allerersten Mal in meinem Leben. Warum also hat er so ein großes Problem mit mir?
Wie von selbst wandert mein Blick zu Brendon. Er nestelt nervös an dem Saum seiner Jacke herum und schafft es nicht, mir in die Augen zu schauen.
Ob er wohl irgendwelche Lügen über mich verbreitet hat? Eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen.
„Man!", ärgert sich Logan, indem er auf den Boden stampft. „Wir haben uns eben erst vertragen. Geh jetzt endlich weg!"
Ich sehe, dass Brendon ihn erneut ermahnen möchte, doch ich komme ihm zuvor. Verständnislos möchte ich von dem kleinen Jungen wissen: „Warum magst du mich nicht, Logan? Wir kennen uns doch überhaupt nicht."
Sein Gesichtsausdruck wird noch grimmiger. Fast schon finster und bedrohlich.
„Du nimmst mir meinen Bruder weg! Deshalb bist du blöd!"
Was?!
Völlig überrascht von dieser Aussage schaue ich zu Brendon hinüber, doch er steht bloß wie versteinert neben mir und schafft es nicht, diese bizarre Situation aufzuklären.
„Wie ... Wie meinst du das?" Ich hocke mich langsam in den Sand, um auf Augenhöhe mit Logan zu sein. Vielleicht wirke ich so etwas weniger bedrohlich.
„Ben hat mich gestern vergessen, weil du bei ihm warst!", behauptet Logan eingeschnappt.
Noch immer weiß ich nicht, was genau eigentlich das Problem ist. Trotzdem versuche ich, den kleinen Jungen irgendwie zu besänftigen, indem ich ihm erkläre: „Es ist aber ganz normal, auch mal Zeit mit seinen Freunden zu verbringen. Das gehört zum Leben dazu."
„Nein!", widerspricht mir Logan sofort. „In Kingston Valley hatte Brendon keine Freunde. Das war viel besser! Da hatte er immer nur Zeit für mich!"
Boom!
Seine Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein und zerfetzen es in Millionen kleine Glasscherben. Tränen brennen hinter meinen Lidern und ein riesiger Kloß formt sich in meinem Hals.
Mir bleibt keine Zeit, Logans Behauptungen zu verarbeiten oder zu hinterfragen, da wütet er auch schon wie ein Orkan weiter. „Ich will nicht, dass du ihn mir wegnimmst!" Wieder stampft er auf den Boden. „Kannst du ihn nicht auch ärgern? So, wie die Kinder aus seiner alten Schule?"
Mit jedem Wort, das Logans Lippen verlässt, fällt es mir schwerer, zu atmen.
Wahrscheinlich ist er noch zu jung, um zu verstehen, was für einen Schaden er gerade anrichtet, doch meine Welt liegt in Trümmern.
Ich habe nicht erwartet, dass Brendon in seiner Heimat keine Freunde hatte und sogar gemobbt wurde.
Bei dem Gedanken daran, wie er täglich von verbalen und körperlichen Angriffen heimgesucht wurde, balle ich meine Hände zu Fäusten und beiße meine Zähne fest aufeinander.
Es tut weh. Sehr sogar!
Plötzlich verstehe ich auch, warum Brendon immer so verunsichert und ängstlich ist und überhaupt kein Selbstbewusstsein hat. Die Vergangenheit hat ihre Spuren hinterlassen und zwar keine schönen.
Ich blinzele die Tränen aus meinen Augen, bevor ich zu Brendon schaue. Er steht stocksteif neben mir und visiert irgendeinen imaginären Punkt in der Ferne an. Dass er unter Schock steht, ist nicht zu übersehen.
„Eigentlich wollte mir Ben ein cooles Kuscheltier schenken, aber er hat es vergessen!", fährt Logan unbeirrt mit seiner Schimpftirade fort. Vermutlich ist ihm gar nicht bewusst, was er seinem Bruder gerade antut. Trotzdem lasse ich ihn ausreden. Lieber soll er mich als Sündenbock benutzen, statt Brendon Unrecht zuzufügen. „Das alles ist deine schuld!"
Schneller als ich reagieren kann, hockt sich Logan hin und schaufelt Sand in seine Hände. Kurz straft er mich noch mit einem giftigen Blick, ehe er den Sand zu einem Ball formt und gegen meinen Oberkörper wirft. Die kleinen Körner explodieren und rieseln anschließend langsam zu Boden.
Schockiert ziehe ich die Luft ein. Ich kann verstehen, dass er wütend ist, aber das geht zu weit.
„Logan!", zische ich warnend seinen Namen. „Was soll das?!"
Statt mir zu antworten, verschränkt der Junge bockig die Arme vor der Brust.
Hilfesuchend schaue ich zu Brendon hinüber, doch er ist noch immer in seinem tranceartigen Zustand gefangen.
Na super ...
In der Hoffnung, noch irgendetwas retten zu können, lüge ich: „Brendon hat mir gestern erzählt, dass er zusammen mit dir ins Raven Plush Haven gehen möchte. Dort gibt es die allercoolsten Kuscheltierraben der Welt."
Wie erhofft lösen sich die düsteren Gewitterwolken in Logans Gesicht auf. „Echt?", hakt er ungläubig nach. „Das hat er mir gar nicht erzählt."
„Er wollte dich damit überraschen", behaupte ich. Damit meine Lüge nicht auffliegt, ramme ich Brendon möglichst unauffällig meinen Ellenbogen in die Rippen. „Ist doch so, Ben, oder?"
Benommen - als hätte er zu viel Alkohol getrunken - nickt er. Mit krächzender Stimme fügt er ein gestammeltes „Ge-Genau" hinzu.
Das letzte Fünkchen Zorn verpufft nun in Logans Augen und macht Platz für ein vorfreudiges Strahlen. Seine gute Laune ist auch der Grund, weshalb ich ihn frage: „Sollen wir sofort losgehen? Ich kann euch zum Raven Plush Haven begleiten."
„Ja!" Mini-Spiderman scheint vergessen zu haben, dass er mich eigentlich nicht mag, denn er schnappt sich übermütig meine Hand und zieht mich aufgeregt in Richtung Spielplatzausgang. Überfordert stolpere ich ihm hinterher.
„Gibt es da wirklich nur Raben?", möchte Logan nervös von mir wissen.
„Jap."
„Mit Sonnenbrillen? Oder Sombreros?"
„Nein", muss ich ihn enttäuschen, „aber mit wilden Zottelfrisuren."
„Cool!", freut er sich. „Dann kann ich mein neues Kuscheltier ja Rabe Zottel nennen."
„Das ist eine tolle Idee!"
Am Spielplatzausgang warten wir auf Brendon, der mit langsamen, wackeligen Schritten durch den Sand stapft. Ich nutze die Zeit, um mein Handy aus der Hosentasche zu kramen und Taya eine Nachricht zu schreiben.
Ich komme etwas später. Muss noch ein Rabenkuscheltier kaufen🤪 Erklärung folgt. Bis gleich🤸♀️🫶
Ich schicke die wenigen Zeilen ab und verstaue mein Smartphone wieder in meiner Hose. Danach konzentriere ich mich voll und ganz auf Logan, der plötzlich wie ein Wasserfall plappert und sich schon wilde Abenteuergeschichten mit seinem neuen Raben ausmalt.
Das Bedürfnis, mit Brendon über seine Vergangenheit zu sprechen und ihn ganz doll in den Arm zu nehmen, unterdrücke ich vorerst. Leider! Aber ich bin mir sicher, dass der richtige Zeitpunkt dafür noch kommen wird.
🍂🍂🍂
„Schau mal, Noelie! Wie findest du diesen Raben?", fragt mich Logan ganz aufgeregt, als wir durch die Regale im Raven Plush Haven stöbern. Er bleibt vor jedem einzelnen Stofftier stehen und findet einen Raben besser als den anderen.
Brendon wartet am Eingang des Ladens auf uns. Seit dem Vorfall auf dem Spielplatz hat er kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt und meidet meine Blicke wie die Pest.
„Wow. Der sieht echt cool aus!", behaupte ich grinsend.
Logan scheint anderer Meinung zu sein, denn er legt das Plüschtier zurück ins Regal und setzt dann seine Suche fort.
Erst als wir ganz hinten im Geschäft angekommen sind, sprühen seine dunklen Augen plötzlich Funken.
„Oh mein Gott!", jauchzt er hibbelig. „Der ist perfekt!" Seine kleinen Kinderhände greifen nach einem Raben, dessen Körper mit schwarzem Fell bedeckt ist, das im Lichteinfall glänzt und zum Kuscheln einlädt. Besonders auffällig sind die bunten, gekringelten Socken und die wuscheligen, roten Haare, die wie eine Krone auf seinem Kopf thronen. „Du bist mein perfekter Rabe Zottel!"
Logan drückt das Kuscheltier gegen seine Brust. Mit einem stolzen Lächeln folgt er mir zurück zum Eingang, wo Brendon unverändert an der Wand lehnt und auf uns wartet.
„Schau mal, Ben!" Logan hüpft aufgeregt von seinem rechten Fuß auf den linken. „Das ist Rabe Zottel!"
„Toll." Brendon versucht sich zwar an einem Lächeln, doch es sieht eher wie eine gruselige Fratze aus. Er nimmt seinem Bruder den Raben aus der Hand und verschwindet dann in Richtung Kasse.
Oh man. So emotionslos und distanziert habe ich ihn noch nie erlebt. Es bricht mir das Herz, Brendon leiden zu sehen. Blöderweise habe ich aber keine Ahnung, was ich gerade tun könnte, damit er sich besser fühlt.
Logans Timing war einfach absolut beschissen.
Na ja, zumindest weiß ich jetzt, dass Brendon keine einfache Vergangenheit hatte und wahrscheinlich noch immer mit seinen Dämonen kämpft.
Nachdem Brendon das Stofftier bezahlt hat, verlassen wir das Raven Plush Haven. Draußen angekommen, möchte Logan sofort von mir wissen: „Kommst du mit, ein Eis essen, Noelie?" Ein hoffnungsvolles Glitzern säumt seinen Blick.
Es ist echt erstaunlich, wie schnell dieses kleine Wesen seine Meinung über mich ändern konnte. Erst wollte er mich auf den Mond schießen und jetzt möchte er noch mehr Zeit mit mir verbringen?! Wie gut, dass er keine Periode bekommt, denn seine Stimmungsschwankungen sind auch so schon sehr extrem.
„Ein anderes Mal, okay?", vertröste ich Mini-Spiderman. „Ich bin mit meiner Freundin zum Cheerleading verabredet."
„Wie cool! Können Ben und ich mitkommen?"
Bei Logans Frage wird Brendon kreideweiß im Gesicht. Seine Finger finden mal wieder den Weg zum Saum seiner Jacke und nesteln dort nervös herum.
Auch wenn ich kein Problem mit Zuschauern hätte, möchte ich Brendon heute seinen Freiraum geben. „Ihr macht einen Jungstag und ich mache einen Mädelstag, okay?"
„Schade." Logan verzieht seine Lippen zu einem Schmollmund, nickt aber. „Sehen wir uns denn bald wieder, Noelie?"
„Bestimmt."
Ich schultere meine Sporttasche und verabschiede mich mit einem High Five von Logan. Brendon werfe ich ein aufmunterndes Lächeln zu, doch er nimmt es gar nicht wahr, weil sein Blick auf dem dreckigen Asphalt festgetackert ist.
„Tschüss, ihr zwei!"
Schweren Herzens kehre ich den Brüdern den Rücken zu und trete den Weg in Richtung Raven High an.
Wie es jetzt mit Brendon und mir weitergehen soll? Ganz einfach: Wir müssen reden und alle Karten offen auf den Tisch legen!
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