11 - Kein echter Bruder
Brendons POV
Der Abend mit Noelie war wunderschön. Sie ist ein tolles Mädchen, mit dem ich mich super unterhalten kann und viel Spaß habe.
Manchmal fällt es mir schwer, zu realisieren, dass wir uns vor nicht mal einer Woche zum allerersten Mal begegnet sind. Eigentlich glaube ich nicht an das Schicksal – nur an Karma – aber dass wir einander unter dem Eichenkuss gefunden haben, ist definitiv ein Schachzug des Schicksals gewesen.
Auch wenn der Kakao im Sip Happens lecker war und ich viel mit Noelie gelacht habe, war der Spaziergang mit Balou mein absolutes Highlight. Ich liebe Hunde über alles und möchte später unbedingt selbst einen haben, wenn es die Zeit zulässt. Dass Balou so viele Tricks kann und so gut erzogen ist, hat mich echt beeindruckt. Da hat Lova ganze Arbeit geleistet. Kaum zu glauben, dass sie neben ihrem Sprinttraining überhaupt noch Zeit für eine Husky-Dame hat.
Ein zufriedenes Lächeln umspielt meine Lippen, denn dass Ravenvale mir so guttun würde, habe ich nicht erwartet.
Ich folge noch ein paar Meter der dunklen Straße, die lediglich von gedimmten Laternenkegeln erhellt wird, bis ich rechts abbiege und mein neues zuhause bereits sehen kann. Je näher ich dem Vorgarten komme, in dem Mom gestern bunte Blumen eingepflanzt hat, umso kräftiger schlägt mein Herz.
Warum? Ich habe keine Ahnung.
Die Antwort auf mein Herzklopfen erhalte ich, sobald ich unsere Einfahrt erreicht habe. Statt Moms quietschgelbes Auto zu sehen, landet mein Blick auf einem dunkelgrauen Toyota Highlander.
„Logan und Dad", entflieht es mir leise.
Oh Gott, wie konnte ich bloß vergessen, dass uns die beiden heute besuchen kommen?
Begleitet von einem fiesen Magengrummeln schließe ich die Haustür auf. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, hänge meine Jacke an der Garderobe auf und stelle meinen Rucksack auf die erste Treppenstufe.
Obwohl sich Noelie und ich auf der Gassirunde warmen Zitronentee geteilt haben, ist mir eiskalt. Nicht zuletzt, weil meine Schuhe leider nicht so wasserabweisend sind, wie es mir im Geschäft versprochen wurde.
Auf die Gefahr hin, dass mich Mom einen Kopf kürzer macht, weil ich feuchte Tapser auf den Fliesen hinterlasse, schleiche ich in Richtung Wohnzimmer. Unter dem Türspalt flackert Licht und ich höre leises Stimmengewirr.
Vorsichtig öffne ich die Tür und entdecke sogleich meine Eltern auf dem Sofa. Ihr Gespräch verstummt und ihre Köpfe drehen sich zu mir.
„Ben!", freut sich Dad, mich zu sehen. „Komm her, Großer!" Er schält sich aus der flauschigen Decke, steht vom Sofa auf und breitet seine Arme aus. Sofort überbrücke ich den Abstand zwischen uns und kralle mich an seinem Pullover fest.
Ein warmes, vertrautes Gefühl durchströmt meinen Körper und der Geruch von Moschus besänftigt meinen rasenden Herzschlag.
Ich habe Dad vermisst! Umso schöner ist es, dass er das Wochenende hier in Ravenvale verbringen wird. Mit Mom und mir.
„Hey Dad", grinse ich ihn fröhlich an.
„Du siehst gut aus", lobt er mich und wuschelt mir dabei durch die nassen Haare. „Wo hast du dich so lange rumgetrieben?" Er schielt zu der bunten Kuckucksuhr, die an der Wand hängt und 9:46 PM anzeigt.
Oh wow. So lange war ich mit Noelie und Balou unterwegs? Die Zeit muss verflogen sein, denn eigentlich hat sich unser Treffen höchstens wie zwei Stunden angefühlt.
„Ich, na ja, ich habe mich mit ..." Ich halte inne, weil ich nicht weiß, wie ich Noelie bezeichnen soll. Als eine Freundin? „... einem Mädchen aus der Schule getroffen."
Dad hebt überrascht seine Augenbrauen – obwohl ihm Mom bestimmt schon jedes einzelne Detail unter die Nase gerieben hat.
„Wir waren in einem Café und sind danach noch mit ihrer Hündin spazieren gegangen."
Während Dad seine ohnehin schon faltige Stirn runzelt, kann ich aus dem Augenwinkel erkennen, dass Mom zufrieden lächelt. Als wäre sie glücklich, dass ich so schnell Anschluss in Ravenvale gefunden habe.
Dad hingegen bleibt skeptisch. „Behandelt dich dieses Mädchen denn auch gut?", möchte er von mir wissen. „Lass dich bloß nicht ausnutzen!"
„Keine Sorge, ich passe auf!", erwidere ich ernst. „Aber Noelie ist wirklich toll. Sie akzeptiert mich und bringt mich zum Lachen. Ihr würdet sie bestimmt mögen."
„Gut." Die Furchen auf Dads Stirn verschwinden. Stattdessen breitet sich nun auch auf seinen Lippen ein sanftes Lächeln aus. „Es freut mich, dass du eine Freundin gefunden hast, Ben. Genieße es, endlich ein normaler Teenager zu sein."
Auch wenn ich mich wegen meines Aussehens alles andere als normal fühle, nicke ich. Dann erkundige ich mich bei meinen Eltern: „Wo ist Logan?"
Mom und Dad werfen sich einen Blick zu, den ich nicht richtig deuten kann. Letztendlich ist Mom diejenige, die seufzt und auf die freie Sofastelle neben sich klopft. Direkt hocke ich mich neben sie und schaue sie aus großen Augen an.
Je länger sie schweigt, umso kräftiger schlägt mein Herz. Panik wallt in mir auf und ich habe das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
„Geht ... Geht es ihm gut?"
Mom nickt. „Logan ist oben", verrät sie mir. „Er, na ja, er ist nicht so gut drauf."
„Meinetwegen?", hake ich alarmiert nach.
Betretene Stille erfüllt das Wohnzimmer, doch das ist mir Antwort genug.
„Hör zu, Ben", reißt Dad das Wort an sich, als er bemerkt, dass ich aufspringen und zu Logan eilen möchte, „dein Bruder kennt es nicht, von dir versetzt zu werden. Er ist es gewohnt, dass du immer zuhause bist und praktisch nur darauf wartest, Zeit mit ihm zu verbringen. Dass du dich plötzlich mit Freunden triffst, verunsichert Logan. Er denkt jetzt, dass er nur noch deine zweite Wahl sei."
„Das stimmt doch gar nicht!", behaupte ich energisch. „Er ist auch weiterhin meine Nummer Eins!" Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell.
„Ich weiß." Dad greift nach meiner Hand und drückt sie kurz. „Logan ist eifersüchtig und fühlt sich vernachlässigt. Er hat sich so sehr gefreut, dich wiederzusehen, dass eine halbe Welt für ihn zusammengebrochen ist, als du bei unserer Ankunft nicht hier warst."
Auch wenn es nicht Dads Absicht ist, machen sich fiese Gewissensbisse in meinem Kopf bemerkbar. Während ich Spaß mit Noelie hatte, hat mich mein Bruder vermutlich bis in die Hölle verflucht. Und zwar zurecht! Ich hätte hier sein müssen!
„Warum hast du mich nicht angerufen?", frage ich Mom vorwurfsvoll, obwohl sie keinerlei Schuld an diesem Drama trifft. „Dann wäre ich sofort nach Hause gekommen!"
Mom schüttelt den Kopf. „Nein, Ben. Du warst jahrelang allein und hast dich in deinem Schneckenhaus verkrochen. Jetzt, wo du endlich aus dir herauskommst und dich mit anderen Teenagern triffst, werde ich ganz bestimmt nicht diejenige sein, die dir Steine in den Weg legt. Es ist Zeit, an dich selbst zu denken!" Mit jedem Wort wird Moms Stimme lauter und intensiver, sodass sich eine schauernde Gänsehaut auf meiner Wirbelsäule ausbreitet. „Lass deinen Bruder ruhig schmollen. Morgen sieht die Welt sowieso schon wieder ganz anders aus."
Es kommt nicht allzu häufig vor, doch jetzt gerade teile ich Moms Meinung nicht. Logan ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Dass er enttäuscht von mir ist, bricht mir das Herz.
Ohne noch etwas auf Moms Worte zu erwidern, stehe ich vom Sofa auf und stürme aus dem Wohnzimmer. Mit lauten Elefantenschritten poltere ich die Treppe hinauf und bleibe erst vor meiner Zimmertür stehen.
„Logan?!" Meine Hand umfasst die eisige Klinke. Ich möchte den Griff runterdrücken, um die Tür zu öffnen, doch es geht nicht.
Er hat sich eingeschlossen?
Oh, verdammt! Dann scheint er wirklich wütend auf mich zu sein.
„Logan!", rufe ich erneut seinen Namen. Gleichzeitig hämmere ich mit meiner Handfläche gegen die Tür. „Komm schon. Mach bitte auf!", flehe ich ihn an.
„Ich rede nicht mit Verrätern!"
Autsch! Seine verletzte, gebrochene Stimme gräbt sich unangenehm unter meine Haut und entfacht ein Feuer aus Schuldgefühlen in meinem Inneren.
„Es tut mir leid, Logan!" Eine einzelne Träne, gefüllt mit Schuld, löst sich aus meinem rechten Augenwinkel und kullert einsam und verloren über meine Wange. „Ich hätte hier sein müssen, als du gekommen bist", gebe ich leise zu.
„Warst du aber nicht!", entgegnet Logan fauchend. „Du bist kein echter Bruder!"
Seine Worte verwandeln sich in giftige Klingen und rotten mein Inneres aus. Ich spüre, wie sich Ketten aus Stahl um meine Lungenflügel legen und mir das Atmen zunehmend erschweren.
„Bitte sag so etwas nicht!", schluchze ich leidend. „Ich habe dich doch so unfassbar doll lieb, Logan."
„Hau ab, Ben! Du lügst!"
Voller Verzweiflung lasse ich mich an der Tür hinabgleiten und raufe mir die Haare. Immer mehr Tränen strömen über mein Gesicht und stoßen meinen Verstand in einen Strudel aus Kummer, Schmerz und Wut.
Innerlich habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass Logan nochmal mit mir spricht, da fragt er plötzlich vorsichtig: „Brendon? Bist du noch da?"
Direkt springe ich auf. „Ja!" Mein Herz schlägt schneller.
Ich höre, wie Logan barfuß zur Zimmertür tapst. Als er sie erreicht hat, murmelt er leise: „Du hast noch eine letzte Chance, es wiedergutzumachen."
„Was muss ich tun?"
„Mir mein neues Stofftier schenken!"
Was?! Bei seinen Worten gefriert mir das Blut in den Adern.
Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Eigentlich wollte ich nach dem Treffen mit Noelie in einem Spielwarengeschäft vorbeischauen, um Logan ein neues Kuscheltier zu kaufen. Weil wir allerdings länger unterwegs waren als gedacht, ist daraus nichts mehr geworden. Dementsprechend gibt es auch kein Stofftier, mit dem ich mir Logans Vergebung erbetteln könnte.
„Ich ... Ich ...", stammele ich überfordert.
„Du hast es vergessen, oder?" Logan klingt weder vorwurfsvoll noch enttäuscht. Seine Stimme hört sich einfach nur gleichgültig an.
„Es tut mir so leid! Bitte glaube mir!"
Ein trauriges Seufzen ertönt von der anderen Seite. Dann entfernt sich mein Bruder von der Tür und verkriecht sich raschelnd unter meiner Bettdecke.
Zurück bleiben mein blutendes Herz und ich.
Wie ich es schaffen soll, dass mir Logan verzeiht? Keine Ahnung!
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