10 - Mitten im Blättersturm
Noelies POV
Es macht Spaß, sich mit Brendon zu unterhalten, denn wir schwimmen auf derselben Wellenlänge. Je mehr Zeit wir im Sip Happens verbringen, umso lockerer und entspannter wird er. Endlich redet er einfach mal drauf los, ohne seine Sätze davor zweimal zu überdenken.
Tatsächlich verstehen wir uns so gut, dass es nicht nur bei einer Tasse Kakao bleibt. Während Brendon auch bei den nächsten beiden Bestellungen auf seinen Dreamy Cocoa Sip setzt, entscheide ich mich für den Caramel Drizzle Sip und den Honey Vanilla Sip.
Mit jedem Schluck wird es draußen dunkler. Die ersten Sterne kämpfen sich an den Horizont und auch der Mond präsentiert sich in seinem schönsten Silbergewand am Himmelszelt.
„Wollen wir uns so langsam auf den Rückweg machen?", frage ich Brendon, nachdem meine Tasse leer ist.
Das zufriedene Lächeln, das bis gerade noch seine Lippen umspielt hat, stirbt. Stattdessen nagen Unsicherheit und Zweifel an seinen Mundwinkeln.
Damit er keine falschen Schlüsse zieht, schiebe ich hinterher: „Ich habe meiner Schwester versprochen, heute eine Runde Gassi mit ihrer Hündin zu gehen, und allzu spät möchte ich nicht mehr allein durch Ravenvale laufen."
Sofort kehrt das Funkeln zurück in Brendons Augen. Wundern sollte mich das nicht, immerhin hat er mir vor einigen Stunden verraten, dass Hunde seine absoluten Lieblingstiere sind.
„Wie heißt eure Hündin denn?", möchte Brendon nun ganz aufgeregt von mir wissen.
„Balou."
„Balou?" Er zieht überrascht seine Augenbrauen hoch. „Ist das nicht ..."
„... ein Jungenname?", vervollständige ich seine Frage. „Ja. Aber meine Schwester liebt den Namen. Und weil sie die Hündin nicht gegen einen Rüden tauschen wollte, heißt sie nun mal jetzt Balou."
Kurz lässt Brendon meine Worte sacken, ehe er breit grinst. „Cool!"
„Finde ich auch!" Menschen, die ihr eigenes Ding durchziehen und nicht darüber nachdenken, was andere sagen könnten, bewundere ich aus tiefstem Herzen. Hoffentlich bin ich selbst auch mal so.
„Zu welcher Rasse gehört Balou? Und wie alt ist sie? Wohnt sie schon bei euch, seit sie ein Welpe ist? Und was-"
Auch wenn es süß ist, wie aufgeregt Brendon gerade ist, unterbreche ich ihn. „Hast du Lust, Balou und mich auf der Gassirunde zu begleiten?", frage ich ihn lächelnd. „Dann kannst du sie kennenlernen und ich habe mehr Zeit, deine Fragen zu beantworten."
Brendons Augen nehmen die Größe von Untertassen an. „Echt?", hakt er ungläubig nach. „Ich darf mitkommen?"
„Natürlich nur, wenn du möchtest."
„Ja, super gerne!", freut er sich. „Warte kurz. Ich bezahle eben." Mit etwas zu viel Elan steht er von seinem Stuhl auf, sodass dieser beinahe in die Fensterscheibe kracht. In letzter Sekunde bekommt Brendon die Lehne noch zu fassen. „Upps." Wie immer, wenn ihm etwas unangenehm ist, legt sich ein roter Schleier über seine Wangen.
Automatisch muss ich kichern, weil ich seine unbeholfene Art total niedlich finde.
Ich beobachte Brendon dabei, wie er das mittlerweile leere Café durchquert und an der Kasse unsere Getränke bezahlt. In der Zwischenzeit lasse ich einen Zehn-Dollar-Schein in seiner Jackentasche verschwinden, schließlich war abgemacht, dass er mich auf einen Kakao einlädt, nicht aber auf drei.
Warum ich ihm das Geld nicht einfach in die Hand drücke? Weil er es dann vermutlich nicht annehmen würde.
Sobald Brendon wieder vor mir steht, ziehe ich mir meinen Herbstmantel an und säusele: „Danke für die leckeren Getränke. Du bist ein ausgezeichneter Kakao-Macher."
Bei meinen Worten muss er lachen. Dabei bilden sich winzige Fältchen an seinen Augenwinkeln. „Für dich immer wieder gerne, Noelie."
„Uh, ich fühle mich geehrt."
Gemeinsam verlassen wir das Sip Happens und werden draußen von kaltem Wind und Regentropfen empfangen. Zum Glück hat sich Brendon meinen Rat zu Herzen genommen und sich für eine Jacke mit Kapuze entschieden. Zusätzlich hat er sogar einen Schirm dabei, aber ich fürchte, dass der bei den kräftigen Böen keine fünf Minuten überleben würde.
„Sollen wir noch kurz bei den Alpakas vorbeischauen?", frage ich Brendon.
Trotz der Dunkelheit erkenne ich, wie sich mehrere Furchen in seine Stirn graben. Er scheint irgendeinen Kampf in seinem Inneren auszufechten, bis er verschwörerisch raunt: „Nicht heute. Beim nächsten Mal, okay?"
Auch wenn mir sein neues Selbstbewusstsein gefällt, kann ich es nicht sein lassen, ihn zu necken. „Wer sagt denn, dass es ein nächstes Mal geben wird?"
Blöderweise geht meine Frage voll nach hinten los, denn Brendon wird kreideweiß im Gesicht und verkrampft sich am ganzen Körper. Wenn mich nicht alles täuscht, legt sich sogar ein dünner Tränenfilm über seine Augen.
Oh man. Er braucht dringend einen Crashkurs in Sarkasmus à la Noelie.
„Entspann dich, Brendon", erlöse ich ihn schnell wieder von seinem Kopfkino, indem ich ihm spielerisch gegen den Oberarm boxe. „Das war nur ein Scherz. Natürlich wird es ein nächstes Mal geben." Sobald sich seine Mundwinkel heben, füge ich noch lachend hinzu: „Aber nur, wenn du wieder zahlst."
„Kein Problem!", behauptet er. Dann setzen wir uns in Bewegung und stellen uns dem Blättersturm.
Es dauert ungefähr eine Dreiviertelstunde, bis wir mein zuhause erreicht haben. Der Wind zerrt unangenehm an unseren Körpern und es prasseln noch immer dicke Regentropfen aus den dunklen Wolken auf uns hinab. Trotz der vielen Bewegung ist mir kalt. Eiskalt.
„Wollen wir uns erst ein bisschen vor dem Kamin aufwärmen?", frage ich Brendon hoffnungsvoll, während ich den Haustürschlüssel aus meinem Rucksack krame.
Er versucht, das Klappern seiner Zähne vor mir zu verstecken, allerdings ohne Erfolg. „Ist deine Schwester da?"
„Ja."
„Und deine Eltern?"
„Auch." Ich runzele die Stirn. Nicht sicher, was Brendon mit seinen Fragen bezwecken möchte.
Kurz zögert er, bevor er behauptet: „Ich habe leider nicht mehr ganz so viel Zeit. Am besten holst du Balou direkt raus, damit wir eine Runde mit ihr gehen können." Seine Stimme zittert und hallt viel zu schrill in meinen Ohren wider. Eindeutig ein Indiz dafür, dass er lügt.
Am liebsten würde ich ihn fragen, ob und warum er Angst vor meiner Familie hat, aber ich schlucke die Worte wie einen Kloß im Hals hinunter. Nur weil er mir gegenüber offener und selbstbewusster geworden ist, bedeutet das noch lange nicht, dass er auch mit anderen Menschen entspannter umgeht.
Brendon braucht Zeit. Und die werde ich ihm geben.
„Na gut. Dann hole ich mal Balou." Ich lächele. „Möchtest du so lange drinnen im Flur warten?"
Brendon schüttelt den Kopf, sodass ein paar Regentropfen durch die Luft wirbeln. Obwohl es dunkel ist und nur der Schein einer Laterne die Finsternis erhellt, bilde ich mir ein, einen leicht bläulichen Schimmer auf seinen Lippen zu erkennen.
Oh je. Ob es eine kluge Idee ist, Gassi inmitten des Blättersturms zu gehen?
Aus Angst, dass Brendon krank wird, hake ich sicherheitshalber nach: „Wollen wir wirklich jetzt noch eine Runde mit Balou drehen? Es ist arschkalt. Wir können das auch gerne wann anders machen."
Die Enttäuschung, die sich wie ein Bienenschwarm in Brendons Augen einnistet, bricht mir das Herz. Ich mag es nicht, wenn er traurig ist. Also rudere ich schnell zurück: „Na ja, ein bisschen Kälte hat noch niemandem geschadet, oder?"
„Genau!", pflichtet er mir sofort bei.
Für ein paar Sekunden erwidere ich noch Brendons Blick, ehe ich die wenigen Stufen, die zum Eingang führen, erklimme und die Haustür aufschließe. Damit Brendon nicht allzu lange auf mich warten muss, eile ich direkt ins Wohnzimmer, wo mich Balou schwanzwedelnd begrüßt. Sie springt nicht nur an mir hoch, sondern versucht auch, mir durchs Gesicht zu lecken.
„Ich bin nicht Evren!", tadele ich die Hündin. „Du weißt doch, dass ich keine Küsschen haben möchte, Balou." Im Einklang mit meinen Worten ziehe ich ihr das rote Geschirr und das blinkende Leuchtband an und packe einen Kotbeutel in meine Manteltasche.
Auch wenn Balou schon ganz aufgeregt ist – immerhin liebt sie Spaziergänge über alles – muss sie sich noch kurz gedulden, denn ich fülle eine Thermoskanne mit warmem Zitronentee auf.
Sobald ich die Flasche zugeschraubt habe, befestige ich die Leine an Balous Geschirr und führe die Hündin in den Flur. „Ich gehe Gassi!", brülle ich quer durch das Haus. Eine Antwort bekomme ich allerdings nicht.
Langsam öffne ich die Haustür und stelle fest, dass Brendon unverändert im Vorgarten steht. Er hat seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und pustet kleine Rauchwölkchen in Richtung Abendhimmel. Als er das leise Knarren der Tür hört, hebt er seinen Kopf und strahlt mich aus funkelnden Augen an. Oder wahrscheinlich Balou.
Da die Hündin Brendon noch nie zuvor gesehen hat, bellt sie und stellt sich schützend vor meinen Körper.
„Alles gut, Balou", beruhige ich sie. „Brendon ist ein Freund. Er tut dir nichts." Langsam führe ich die Hündin zu Brendon, damit sie ihn beschnuppern kann. „Hier. Etwas zum Einschleimen."
Lächelnd nimmt mir Brendon das Leckerchen aus der Hand. „Kann Balou irgendwelche Tricks?"
„Frag lieber, welche Tricks sie nicht kann. Da ist die Liste kürzer", erwidere ich schmunzelnd. „Meine Schwester übt jeden Tag mindestens fünf Stunden mit ihr."
Während ich meine Augen verdrehe, weil es Evren manchmal mit Balous Trainingsstunden übertreibt, zuckt Brendon bloß mit den Schultern. „Ich habe mal gelesen, dass Huskys nicht nur körperlich, sondern auch mental gefordert werden müssen", erklärt er mir. „Deine Schwester macht also alles richtig."
Brendon wendet seinen Blick von mir ab und konzentriert sich nun voll und ganz auf Balou. „Sitz!", fordert er sie auf und sofort gehorcht die Hündin. „Platz!" Balou legt sich ins nasse Gras. „Kannst du auch Pfote geben?" Nur eine Sekunde später hebt sie ihr rechtes Pfötchen und legt es in Brendons ausgestreckte Hand. „Und High Five?" Auch das kann Balou im Schlaf.
Mit jedem Kommando, das die Hündin korrekt ausführt, glänzen Brendons Augen intensiver. Es ist schön, zu sehen, wie liebevoll er im Umgang mit Tieren ist.
Da Brendon keine neuen Kommandos mehr einzufallen scheinen, gibt er Balou schließlich das Leckerchen. Vorsichtig nimmt sie es aus seiner Hand und kaut genüsslich darauf herum.
„Wollen wir dann los?"
Aufgeregt nickt Brendon. Bevor er sich jedoch in Bewegung setzt, möchte er schüchtern von mir wissen: „Darf ich sie vielleicht halten?"
„Klar." Ich drücke ihm die Leine in die Hand. „Balou ist eigentlich sehr pflegeleicht. Wenn sie will, kann sie perfekt Gassi gehen. Nur wenn sie Hasen sieht, musst du aufpassen, denn dann wird ihr Jagdtrieb aktiviert."
Kaum merklich weiten sich Brendons Augen. Als hätte er Respekt. „Tja, ich mag Hasen zwar, aber hoffentlich begegnen wir heute keinen."
„Zur Not bin ich ja auch noch da und helfe dir."
Gemeinsam verlassen wir unser Grundstück und tauchen in den Sturm aus tanzenden Blättern ein. Der Wind heult gefährlich und die Bäume werfen gruselige Schatten auf den Asphalt. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber es ist immer noch eiskalt.
Balou geht brav neben Brendon her. Zwischendurch bleibt sie stehen, um entweder ihre Blase zu leeren oder ihre Schnauze in einem Busch zu versenken.
„Wie schafft ihr es eigentlich, einem Husky gerecht zu werden?", erkundigt sich Brendon irgendwann bei mir. „Die brauchen doch total viel Auslauf und mentales Training, oder?"
„Meine Schwester kümmert sich hauptsächlich um Balou", erkläre ich. „Sie kann von zuhause aus arbeiten und hat deshalb viel Zeit."
„Ah, okay." Brendon nickt. „Und wie lange habt ihr sie schon?"
Bei seiner Frage entwischt mir ein amüsiertes Schnauben, denn wie es scheint, setzt er jetzt seine Fragerunde aus dem Sip Happens fort.
Das kann eine lange Gassirunde für mich werden.
Aber hey! Wenn es Brendon glücklich macht, dann beantworte ich seine Fragen sehr gerne. Hauptsache, er strahlt mit den Sternen am Himmelszelt um die Wette.
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