Kapitel 12
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„Was kann einen Menschen am meisten zerstören?"
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„Gib' ihm alles was er sich wünscht und nimm' es ihm wieder - ohne zu Fragen."
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In mir ist so viel drin, es gleicht einem Fass ohne Boden. Ich möchte am liebsten ausbrechen, wenn da nur nicht dieser „lästige" Schutzmechanismus wäre. Das Leben hat mich gelehrt introvertiert zu sein, keine Menschenseele an mich ran zu lassen.
Ausgewählten Menschen habe ich mich in der Vergangenheit geöffnet. Menschen, die sich mein Vertrauen erkämpft und die ich tatsächlich gern gehabt hatte. Die Meisten von ihnen entpuppten sich jedoch als Fehltritte, für die ich meine Pforten besser verwehrt und lieber für immer geschlossen halten sollte.
„In sich gekehrt zu sein, bedeutet nicht immer stumm oder schüchtern zu sein. Sondern viel mehr die Angst davor, fremden Menschen wieder eine Chance zu geben."
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Ja, das weiß ich jetzt.
Mich ergreift bereits die Panik, wenn ich nur daran denke, wieder einen Platz in meinem Herzen frei zu machen.
Es versetzt mich in Aufruhr, weil ich glaube, dass es wieder eine neue Lücke geben wird, die ich selbst füllen muss.
Und so etwas fällt mir verdammt schwer...
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Kyle hat mir geholfen, ohne dass ich es wollte.
Oder eher gesagt habe ich es Kyle zu verdanken, dass mir die Stimme von XXXTENTACION durch die Zeit meines persönlichen Horrortrips geholfen hatte.
Oh man, wenn Kyle nicht gewesen wäre...
Echte Liebe sollte nicht kompliziert sein, auch wenn ich dachte, bis an das Ende meines Lebens, den Platz an Liam's Seite gefunden zu haben.
Es ist nicht echt gewesen und dieser Ohrwurm erinnert mich einfach daran. Also dudelt dieses Lied in meinem Kopf, während Liam wild auf mich einredet und mir irgendetwas von „Ich-weiß-was-ich-an-dir-hatte", erzählt. Es lässt mich nicht eine Sekunde schwach werden.
Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, dass Kyle bereits seit Stunden, dort draußen vor der Tür auf mich wartet. Kaum gedacht, stapft er gerade durch die Haustür. Sie war nicht abgeschlossen.
Mein Anhängsel tritt über die Schwelle, als wäre es das Natürlichste der Welt. Und in dieser Sekunde frage ich mich tatsächlich , ob man noch lässiger als er, „Hausfriedensbruch" begehen kann.
»Das Ganze dauert mir ein wenig zu lange,« höhnt er gelangweilt.
»Wer ist das?« Liam wirbelt herum, dabei sieht er aus wie irgendein Möchtegern-Kaiser aus einem Anime. »Gehört der zu dir, Lina?!«
Irgendwie vermute ich schon, dass das Ganze hier so langsam aus dem Ruder läuft und nichts Gutes verheißen mag. »Das ist Kyle. Es ist okay, dass er hier ist.«
Imaginäres Zündfeuer liegt in der Luft. Nein, C4 Sprengstoff. Wie auch immer. Nichts Gutes eben.
Ein spielerisches Lächeln betritt Kyle's Lippen: »Na dann bist du wohl Liam.«
Anstatt ihm die Hand zu schütteln, verschränkt er die Arme ineinander. Warum sollte er auch? Man mag vielleicht meinen dieser Oversize-Hoodie sei nur „Show", um Kyle's Statur massiver und muskulöser wirken zu lassen. Doch ich weiß bereits, wie es unter diesem dicken Stoff aussieht.
Das mag wohl auch Liam gerade durch den Kopf gehen, denn dieser mustert Kyle von oben bis unten, als würde er seine Gewinn-Chancen in einem Zweier-Duell abchecken.
Oh. Das würde ich lieber lassen, Dummchen.
Mein Ex scheint wohl gleicher Meinung zu sein: »Na schön. Und du gehörst zu Lina, oder wie? Ihr kennt euch?«
»Ich bin ihr Freund.«
»Ein Freund,« korrigiere ich schnell. »Er hat mich auf dem Weg hierher begleitet.«
Damit ich bloß keine Dummheiten mache...
Dafür kassiere ich Kyle's tiefdunklen Blick. Aber Liam's Starren ist weitaus unangenehmer. Er sieht mich an, als hätte ich einen Welpen getreten, ihn in tausend Teile zerfetzt. »Ah. Das hat aber nicht lange gedauert.«
»Du musst ja wissen wie das funktioniert,« zische ich giftig.
»Kann ich kurz fünf Minuten mit ihr alleine haben?« Liam's Blick fällt wieder auf meinen „Freund" und da tritt ein Wort aus seinem Mund, das ich bisher viel zu selten gehört habe: »bitte.«
»Fünf Minuten. Falls ihr allerdings überziehen solltet, steige ich durch das Fenster.«
In Liam's Blick kann ich Folgendes lesen: „FÜR-WEN-HÄLTST-DU-DICH-DU-ARSCHLOCH!?" - und dass ihm das so gar nicht passt, wenn sich hier jemand einmischt.
Dann fällt die Tür zurück ins Schloss. Kurz darauf folgt Stille.
»Ich bin gestern in die neue Wohnung gezogen. Unsere eigentliche Wohnung.«
»Cool. Darf ich jetzt gehen?«
»Nein, du verstehst nicht. Ich bin eingezogen und da ist mir aufgefallen, die erste Frau dort in dem Bett, das... das hättest du sein müssen.«
»Ja, ganz genau, Liam. Das hätte ich sein müssen,« sage ich und winke dann ab.
Dafür bin ich nicht her gekommen...
Da klopft es wieder am Hauseingang.
»Die fünf Minuten sind noch nicht um!« schreit Liam durch die geschlossene Tür. In diesem Moment macht er mir unglaubliche Angst.
»Sie hätte zwar bei dir liegen sollen. Aber jetzt liegt sie zwischen uns, du Vollpfosten!« ein Kerl in einem quietschroten Zweiteiler und Basecap, jagt durch den Türrahmen. Er hebt dabei die Faust.
»Was will der Typ vom Baumarkt hier?«
»Ich?« Nate grinst über beide Ohren. »Ach' ich hole nur meinen Schatz zum Essen ab.« Er sagt die Worte mit einer so selbstverständlichen Leichtigkeit, als würde es hier nicht wirklich um mich gehen.
»Hast du deinen letzten Rest in Kartons gepackt, Hase?« und er meint wieder... mich?
Okay, Nate hat es geschafft.
Er crashed den peinlichsten Moment und macht ihn noch peinlicher. Ich muss mich nicht mal im Spiegel ansehen, um zu wissen, dass ich die Personifizierung von „Rot" bin. Selten bin ich so sprachlos wie in diesem Moment, also schüttele ich nur den Kopf.
»Ich erledige den Rest. Lass' mich nur machen,« er nimmt mich tröstend in den Arm. »Kyle, tu' mir einen Gefallen und bring' Lina nach Hause.«
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Kyle hat darauf bestanden meinen Wagen zu fahren. Vor etwa zwei Minuten hat er mir erklärt, dass er Nate's Auftritt bereits schon vorausgeahnt hatte. Nach seiner Schicht im Baumarkt, hatte er sich direkt auf den Weg gemacht, um bei uns nach dem Rechten zu sehen. Im Endeffekt war es auch besser so, denn die Auseinandersetzung mit Liam hatte mich mehr als nur überfordert.
Ich bin also froh auf dem Beifahrersitz zu sitzen, während Nate noch vor Ort ist und den allerletzten Rest meiner Sachen in Kartons packt.
Liam wird mit Nate ganz großen Spaß haben.
Ein Grinsen legt sich mir auf die Lippen, während ich mir vorstelle, wie Kyle's Bruder den kleinlauten Liam verbal auseinandernimmt.
»Ey, was gibts da zu Grinsen?«
Seit der Begegnung mit Liam ist die Atmosphäre zwischen Kyle und mir jetzt irgendwie anders.
»Der Song... das hast du mit Absicht gemacht, oder?« und meine damit den Ohrwurm.
»Bevor du dich beschwerst - du hättest dein Gesicht sehen müssen! Während der ganzen Hinfahrt neben „Schmolli Mc Schmollmund" zu sitzen, ist echt übel.«
Mist. Bin ich wirklich so leicht zu durchschauen?
Jetzt ist es still um uns.
»Danke, Kyle.« Er hatte mir ja schließlich geholfen, auch wenn ich da eigentlich allein hindurch wollte.
Ich vermute jegliche Reaktion. Alles. Nur nicht das: Überraschung betritt Kyle's Gesicht.
Und plötzlich greift er nach meiner Hand. Die Berührung kommt unerwartet. So dass ein imaginärer Eisregen mich übergießt und ich zurückschrecke.
Entweder überspielt er meinen Rückzug oder es macht ihm nichts aus: »Darf ich dich um einen Gefallen bitten, Lina?«
»Der wäre?«
Kyle's Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet. »Zieh' nicht bei uns ein.«
In meinem Magen formt sich ein Stein. Ich weiß nicht warum, aber es versetzt meinem Herzen einen hässlichen Stich.
Vielleicht weil ich dieses Mal dachte, ich würde irgendwo dazu gehören?
Vielleicht weil ich dieses eine Mal einen Funken Hoffnung verspürte?
Vielleicht auch weil ich anfing die beiden Brüder irgendwie zu mögen?
Ich gebe es zu, die Beiden sind eigenwillig und haben mehr Macken wie Special Effects. Aber unter'm Strich sind sie... Sie sind lieb.
Ich denke sofort an unsere Abmachung, an Nate's Bedingungen. »Du kannst mich nicht leiden, ich verstehe. Aber ich und dein Bruder, wir...« Ja, was sind wir?
»Das zwischen dir und Nate ist doch nur Spielerei. Ihr könnt mich nicht verarschen! Ich weiß zwar nicht, was genau er dir versprochen hat. Aber glaub' nicht, dass er irgendetwas aus Nächstenliebe tut. Denn Nate legt im Grunde auf gar nichts wert! Ihm liegt nur etwas daran, weil er denkt, dass er mir damit eins Auszuwischen kann!«
Sie sind Brüder. Sie wohnen zusammen. Was verstecken sie bitte für kranke Intrigen?
»Wieso glaubst du so etwas? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!«
»Es gibt Dinge, die du besser nicht weiter hinterfragen solltest, Lina. Mein Bruder ist nicht ohne und ich wohne garantiert nicht aus inniger Geschwisterliebe mit ihm unter einem Dach!«
»Ich verstehe das Ganze einfach nicht!«
»Ja ganz genau, du verstehst das nicht! Also halte dich verdammt nochmal von uns fern!«
Die Konversation treibt mir Tränen in die Augen, lassen mein Umfeld kurzzeitig verschwimmen und ich verstumme.
»Ich werde dich irgendwo absetzen. Jetzt gleich bei Verwandten oder so. Gib' mir am besten eine Adresse. Den Rest deiner Sachen bringe ich dir dann später.«
Ich blinzele den Ansturm aus verletzten Gefühlen hinfort, bis nur noch Verbitterung übrig ist: »Du bist ein Feigling.«
»Was?«
»Du hast genau richtig gehört, Kyle. Du bist ein Feigling,« meine Stimme baut sich auf. »Wieso erklärst du mir nicht mal zur Abwechslung, wo genau das beschissene Problem liegt!«
Gerade in diesem Moment höre ich mich stärker an als ich bin. Stärker, als ich denke, dass ich es je sein werde. Eine Eigenschaft, die ich mir über die Jahre hinweg angeeignet hatte und gerade auch in diesem Moment mehr als zu Gute kommt.
In mir tobt ein Tornado, eine Gewalt die bereit ist sich zu wehren. Ich bin bereit für die Antwort. Doch Kyle's Mund ist lediglich eine gerade Linie, er sitzt dort wie gemeißelt.
»Unsere Mutter. Sie ist fort und-« sein Ton ist urplötzlich leise, so ungewohnt weich. Ich schweife zu meinem Fahrer und erkenne zwischen starken Zügen, viel zu glasige Augen.
»Unsere Mom ist tot.«
»Scheiße, Kyle. Was ist passiert?«
»Nate hat sie getötet.«
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