Kapitel 10
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„Es waren wundervolle Lügen.
Lügen die ich liebte."
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„Schon mal das Gefühl gehabt in einem Albraum zu stecken, in dem das Aufwachen unmöglich ist, weil es einfach bittere Realität ist?"
Damals.
Es fühlte sich an, als würde ich jeden Moment zerspringen. Kollabieren. In tausend Teile zerfallen. Es fühlte sich nach Sterben an. Beklemmung, die so hart in der Brust steckte, dass man beinahe glauben konnte, ein Eisblock würde darin wachsen. Unnachgiebig. Wie klitzekleine, spitze Eiskristalle. Eine wachsende Substanz, die immer härter wurde, bis die Kälte mir gnadenlos das Herz zerquetschte. Ein Schmerz, mit dem man erst einmal klar kommen musste, wenn es plötzlich zu viele Stunden, zwischen dem heutigen Tag und dem Morgen gab. Stunden, in denen ich mich kläglich fragte: ob ich gerade schlief oder wach war.
Im Nachhinein fällt mir Vieles auf. Vieles, dass ich vorher wohl nicht wahrgenommen - vielleicht sogar verdrängt hatte.
Sei es der Geruch nach Bier, bevor er zu mir ins Bett stieg oder dieser plötzliche Sinneswandel in dem er die Wohnung nicht mehr als „unser", sondern „sein" bezeichnete.
Hätte ich mich doch bloß vorher schon gefragt, woher diese plötzliche Idee kam, abzunehmen. Noch dazu häuften sich die Überstunden. Ich hatte nie den Geburtstag eines Arbeitskollegen oder sein Training in Frage gestellt. Niemals hätte ich mir im Traum vorgestellt, er würde seine Arbeitskollegin nach dem Firmenfußball flachlegen. Ich wusste es damals nicht besser. Doch für mich waren es jetzt ganz offensichtliche Ausreden. Verflucht hatte ich zuvor meine innere Uhr, die mir plötzlich weiß machen wollte, dass es endlich an der Zeit war, alle Klarna-Schulden zu bezahlen. Mein inneres Ich war sich wohl damals schon unsicher gewesen.
Ich hatte es nicht besser gewusst.
Ich war naiv gewesen.
Aber jetzt weiß ich es definitiv besser.
In meinem Unterbewusstsein habe ich es vielleicht vermutet. Das stelle ich jetzt dummerweise viel zu spät fest. Aber in jener Sekunde, in der mein Albtraum zur Realität wurde, da fühlte ich mich, als hätte man mir das Herz wortwörtlich aus der Brust gerissen.
Dagegen ist der heutige Tag nur ein Witz.
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Als ich die Tür hinter mir schließe, fühle ich mich plötzlich, als hätte ich zehn Zentner Blei verschluckt.
Hier einziehen? Ob das so eine gute Idee ist?
»Hey, Kleines,« Kyle hat sich nicht einen Millimeter vom Fleck bewegt. Im Gegenteil, er hat sich auf dem Sessel noch viel breiter gemacht. »Wie gefällt dir unser Badezimmer?«
»Du hast gewusst, dass er da drin ist,« knurre ich und meine damit natürlich Nate.
Sofort denke ich an das viel zu nackte... Teil zwischen seinen Beinen und mein Kopf wird glühend heiß.
»Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern, Schmolli.«
»Ach' ist das so?«
»Naja, ich hab' nicht mal einen Schrei gehört. Das war echt langweilig,« Kyle wirft sich irgendetwas ins Gesicht. Dann bemerke ich, dass es Popkorn ist.
Ich kann es nicht leugnen: er sieht dabei unverschämt gut aus. Meine Wangen wollen nicht mehr abkühlen. Stattdessen fühlen sie sich jetzt an, wie von der Glut geküsst.
Ich hasse mich.
»Hätte es dir besser gefallen, wenn ich es gewesen wäre?« er lächelt, als er mich beim Starren ertappt.
Und ich verdränge, dass es ihn aussehen lässt wie ein gottverdammter Schauspieler: »Mir hätte es besser gefallen, wenn-«
DU DEIN SCHEISS MAUL HALTEN WÜRDEST!!!?? will ich sagen.
Doch Lippen stoppen mich.
Hände packen, nehmen mich bei der Hüfte.
Und plötzlich ist er überall.
Plötzlich ist da überall: Nate.
Nate küsst mich.
Zunächst drückt er seinen Mund sanft auf meinen, doch dann wird es verspielter. Heißer. In der nächsten Sekunde möchte ich ihn von mir schieben, denn es fühlt sich nach purer Bloßstellung an. Aber dann denke ich an unsere Abmachung: Es geht darum Kyle genau das hier vorzumachen. Also ergebe ich mich, als sich seine Zunge den Weg zu meiner kämpft. Währenddessen packt er meinen Hintern. Sein Griff ist fest und dann vergesse ich mich fast, als mir ein leichtes Stöhnen entfährt.
Doch ich darf nicht vergessen: Das hier ist nur ein Spiel.
Also packe ich Nate am Kragen. Ein Schritt, der mehr als nur schwierig ist, denn seine Arme sind eisern. Dann gibt er augenblicklich nach und ich zerzause ihm das Haar mit den Fingern.
Ein Schnauben ertönt. »Nehmt euch bitte ein Zimmer.« Es ist Kyle. Ups. Den habe ich ja fast vergessen.
Im nächsten Augenblick lässt Nate mich so schnell los, ich könnte auch glühend heiße Kohle sein. Während Kyle so aussieht, als hätte man ihn zehnmal geohrfeigt.
Vielleicht ist meine Wahrnehmung auch verkorkst, denn mir ist gerade einfach nur schwindlig. Ich habe das Gefühl diese ganze Aktion hat über zehn Minuten gedauert.
»Mach' dich locker, Kyle. Unsere neue Mitbewohnerin und ich - wir gehen heute Abend zusammen aus,« Nate zieht mich wieder an sich und ich hoffe man kann mir mein Unbehagen nicht von den Lippen lesen. »Du hast also die ganze Bude für dich... und... Mara? - F*ck, wie heißt sie doch noch gleich?«
»Mona,« sage ich und bin selbst verwundert, dass ich mich für sie einsetze.
Im nächsten Moment kreisen wieder meine Gedanken, um unsere Körper. Es sind die Stellen, an denen sie sich berühren und von alleine ganz heiß werden.
Doch Nate scheint diese Intimität so gut wie nichts auszumachen. »Wie auch immer. Lina und ich werden uns heute den Raum nehmen, den wir brauchen.«
Das hört sich ganz falsch an...
»Und was ist mit ihren Sachen? Wenn sie hier einziehen soll, solltest du ihr Zeug besser hier her holen. Wie wäre es vielleicht erstmal damit? Ein Umzug, eine echt unglaubwürdige Idee. Du verarscht mich doch, Nate!«
Ich verpasse irgendwie die Sekunde, an dem die ganze Sache urplötzlich ernst wurde. Kyle's Schultern berühren nämlich fast die seines Bruders. Er ist nur in etwa einen halben Kopf größer, aber dafür auch umso breiter. Es ist die Fast-Eskalation die wohl von Nate gewollt war, warum auch immer. Und jetzt stecke ich zwischendrin, fühle mich wie der schuldige Eindringling. Nate hält noch immer den Arm um mich gelegt, doch die Luft ist jetzt dick und unangenehm. Hier zwischen fühle ich mich nur so klein und schwach wie ein Wurm.
Kyle's Drohung juckt ihn nicht sonderlich, denn er leckt sich nur über die Lippen. »Hast du etwa ein Problem damit?«
Erst jetzt registriere ich: »Halt. Es ist Sonntag und bereits spät. Ich mache heute gar nichts mehr. Morgen früh muss ich auf der Arbeit sein.«
Ein doppeltes Augenpaar erdolcht mich, zeigt mir eindeutig, wo ich auf dieser Rangordnung Platz finde.
»Ja was? Müsst ihr euch nicht so etwas wie eure Brötchen verdienen?«
»Nope,« Kyle's Antwort kommt viel zu schnell.
»Ich bin hier der Alleinversorger,« Nate's Miene ist gleichgültig. »Aber wir zwei werden trotzdem ein Date haben. Dann eben Morgen.«
Was soll das? Ich meine Nate müsste ja wissen, dass das Geld eben nicht auf Bäumen wächst, er arbeitet doch selbst im Baumarkt!
»Dienstag arbeite ich auch. Deswegen nennt man es auch „Werktag".«
»Aber am Abend nicht?« jetzt hört er sich fast an wie ein nörgelndes Kind.
»Ich kann nicht.«
Jetzt sieht Nate wütend aus, während auch Kyle's Schultern auf- und ab beben. Allerdings glaube ich, dass das hier leider nur der Anfang vom Ende ist.
Da bemerke ich eine Vibration in meiner Hosentasche. Das Handy. Ich denke an die Diskussion mit Nate und die vielen Nachrichten, die er gelesen haben musste. Ich schiebe das Gerät aus der Tasche und erkenne den Namen des Anrufers auf dem Display: Liam.
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