Chapter 9
Die nächsten Tage liefen wie ein Stummfilm an meinen Augen vorbei.
Mein Körper, der nur noch eine zerstörte Hülle darstellte, durchlebte immer und immer wieder denselben Tagesablauf. Eine stetige Routine, die von nichts und niemanden durchbrochen werden konnte.
Von Tag zu Tag, mit jeder vergangenen Stunde, schien die Kälte einen weiteren Teil meiner Seele zu zerfressen und so langsam fühlte ich mich bereits fremd in meinem eigenen Körper. Nein, es war nicht mehr mein Körper. Es war nur noch ein Gefängnis, welches mich auf Lebenszeit in sich gefangen hielt. Die Kälte und Dunkelheit stellte nur einen zusätzlichen Wächter dar, der es mir unmöglich machte, auch nur jemals die Hoffnung zu bekommen, aus diesem Gefängnis ausbrechen zu können.
Vor meinen trüben Augen sah ich die Umrisse einer Person, die ich nicht mehr ausmachen konnte, die Dunkelheit hatte sie bereits verschluckt. Meine nur noch aus Haut und Knochen bestehenden Beine traten automatisch auf ein kleines eisernes Gerät, woraufhin mir wenige Sekunden später wild auf dem Rücken geklopft wurde.
Weiter in der ewigen Zeitschleife gefangen, schleppten mich meine Beine zurück in mein Zimmer, in dem ich mich sofort auf mein Bett schmiss. Erschöpft aufgrund fehlenden Nährstoffen und vermutlich auch einer nicht vorhandenen Lebenslust, schlossen sich meine Augenlider und versperrten meine Sicht.
So ging es mehrere Tage, wenn nicht sogar Wochen. Mein Zeitgefühl war mit all meinen anderen Gefühlen in kürzester Zeit nicht mehr aufzufinden gewesen, nachdem mich die Kälte übermannt hatte. Das einzige was mir noch blieb, waren meine Gedanken, in denen ich immer seltener versank.
Gerade war wieder einer dieser Tage, an dem eine bestimmte Person meinen Kopf belagerte. Während ich also auf meinem ungemütlichen Bett lag und mein gesamtes Umfeld ausblendete, dachte ich nur an ihn.
Daran, wie er mit strahlenden Augen gelächelt hatte, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Daran, wie er mich mit aufmunternden Worten wieder auf die Beine gebracht hatte, nachdem ich kraftlos mitten in einem unbekannten Laden zusammengebrochen war. Daran, wie er mir immer und immer wieder versichert hatte, dass er für mich da war und mich vor all dem Bösen beschützen würde. Daran, als er mir versprochen hatte, mich niemals zu hassen und immer da sein würde, wenn es mir mal schlecht ginge.
Daran, wie sehr er mich doch belogen hatte.
Denn keines seiner Worte entsprach der Wahrheit. Er war nicht für mich da, jetzt, wo ich ihn doch am nötigsten brauchte. Er hatte mich nicht vor der Kälte und der Dunkelheit beschützt, die mich mehr denn je zerstörten. Er war nicht zur Stelle, um mir all die schlechten Gedanken auszutreiben, die meinen Verstand heimsuchten.
Plötzlich erschien ein kleiner Notizzettel vor meinem inneren Auge, auf welchem in schlampiger Schrift aufrichtige und liebevolle Sätze formuliert wurden. Der Zettel, den mir Patrick bei unserem letzten gemeinsamen Augenblick in die Hand gedrückt hatte. Der Zettel, auf dem kritzelig geschrieben wurde, dass er immer da sein würde, wenn ich bereit wäre, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen.
Doch war ich dazu bereit? Werde ich jemals dazu bereit sein?
Ja, verdammt. Wie sehr ich doch dafür bereit wäre. Wie sehr ich mich jetzt einfach von allem losreißen wollte, was mich noch zurückhielt. Wie sehr ich in die kräftigen Arme von Pat springen und mich nie wieder von ihm lösen wollte.
Aber ich konnte nicht. Denn ich hatte schon längst nicht mehr die Kontrolle über meinen Körper. Die hatte ich in der Nacht verloren, in der ich auch alles andere, was mir etwas bedeutet hatte, verloren hatte.
Vielleicht hatte Patrick Recht. Vielleicht musste ich einfach nur mit meiner Vergangenheit abschließen. Vielleicht musste ich erst einmal alles akzeptieren, was mir das Schicksal gewaltsam reingedrückt hatte.
Erst dann konnte ich sicher auf die Zukunft blicken. Denn danach würden mir keine schrecklichen Erinnerungen mehr im Weg stehen.
Mit dem festen Willen, es noch ein letztes Mal auf mich einregnen zu lassen, löste ich mich von der Gegenwart und schwebte in meinen Gedanken zurück in meine Vergangenheit. Zurück zu dem Zeitpunkt, ab dem alles nur noch falsch lief.
,,Hey, wertloser Streber!", fauchte eine angeekelt klingende Stimme hinter mir, mein 10-Jähriges Ich zuckte panisch zusammen und bewegte sich ein wenig schneller auf die großen Türen zu, die der Ausgang aus der Hölle waren.
Mit zitternden Händen griff ich nach der Türklinke, die ich kraftvoll hinunterdrückte und mit Schwung die hölzerne Tür aufstieß, damit ich so schnell wie möglich verschwinden konnte. Ich war nicht bereit für die ganzen Beleidigungen, immerhin war heute mein Geburtstag und den wollte ich ohne Tränen verbringen.
Hässliches Stück Scheiße, wo rennst du hin? Du bist doch eh so schlau, da müsstest du doch wissen, dass du uns nicht entkommen kannst!"
Schon lag eine große Hand auf meiner Schulter, dessen Fingernägel sich in meine Haut bohrten, und ein Tritt in meine Kniekehle trieb mir Tränen in die Augen, als ich wimmernd auf den Boden fiel.
,,Jetzt bekommst du, was rechtmäßig dir gehört", spottete der Größere über mir, woraufhin er mit einem Fuß meinen Kopf gegen den Asphalt drückte und seine Freunde dazu anspornte, mir gewaltvoll reinzudrücken, wie widerlich und wertlos ich doch war.
Zum ersten Mal seit Tagen empfand ich wieder Gefühle, als die Erinnerungen durch meinen Kopf strichen. Leider machten sich nur Schmerz und Angst bemerkbar, indem ein Stich mein Herz verlangsamte und sich eine Gänsehaut über meine Haut legte.
,,Mama, Papa, ich muss euch was sagen", nuschelte ich, sechs Jahre später, hinter mir spürte ich die angenehme Präsenz meines festen Freundes, der mich ohne große Taten schnell beruhigte.
Mit fragenden Blicken forderten meine Eltern, die Claus bereits als ein Familienmitglied sahen, uns beide auf, am Esstisch Platz zu nehmen, da auf diesem bereits dampfende Nudeln platziert waren.
,,Na dann erzähl mal, Sportsfreund", ermutigte mich mein Vater, ein breites Grinsen formte seine schmalen Lippen, bevor er seiner Ehefrau einen Kuss auf die Wange drückte und sich somit bei ihr für das wunderbar duftende Essen bedankte.
,,I-Ich... Ähm also.. I-Ich hab i-in den letzten W-Wochen etwas b-bemerkt. Und zwar.. I-Ich hab mich v-verliebt", stotterte ich nervös, spürte nach kurzer Zeit bereits die warme Hand von Claus auf meinem Oberschenkel, der mir mit einem versichernden Lächeln zunickte.
,,Ich.. bin schwul."
Danach ging alles sehr schnell. Meine Mutter durchbrach mit einem spitzen Schrei die bedrückende Stille, woraufhin mein Vater erbost seine Hand gegen meine Wange schlug. Tränen blitzten in meinen Augen auf, als mein Kopf zur Seite flog und meine Hand zitternd über die nun schmerzende Haut rieb.
,,Bitte, Mama!", schluchzte ich, die Tränen flossen in Strömen über meine Wangen. Ich stand neben Claus vor unserer Haustür, meine Mutter stand im Türrahmen und versperrte mir den Weg zurück hinein. Sobald mein Vater erschien, trat sie zur Seite und schaute angeekelt dabei zu, wie er einen kleinen Rucksack auf mich warf und ich schluchzend zu Boden fiel, meine Hände in meinem Pullover vergraben.
„Nenn mich nie wieder so. Du bist nicht mein Kind. Ich habe keine Mistgeburt auf diese Welt gebracht. Du bist ein Krüppel, eine Schande für diese Welt und nicht mein Sohn. Sieh zu, dass du dich hier nie wieder blicken lässt, ich will dich nie wieder sehen. Und jetzt verschwinde endlich, bevor du uns noch mit deiner Krankheit ansteckst, du Schwuchtel!"
Mittlerweile war ich nur noch ein heulendes Wrack, zusammengekugelt auf der harten Matratze meines kleinen Bettes. Die Erinnerungen überfluteten mich und ließen mir keine Luft zum Atmen.
Mit meinem Kopf noch in der Vergangenheit versunken, schlich sich mein Bewusstsein heimlich davon, darauf bedacht, erst dann wieder zurückzukommen, wenn ich endlich damit abgeschlossen hatte.
Und um die Vergangenheit endgültig ruhen lassen zu können, musste ich sie akzeptieren.
Ich musste meine vergangenen Fehler und Probleme akzeptieren, den Weg, den ich eingeschlagen hatte, um unbeschwert in die Zukunft blicken zu können.
Eine Zukunft, bei der ein grinsender Patrick nur darauf wartete, mich in diese zu führen.
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Ein bisschen weird, aber ja. Ein Kapitel, nur Manus Gedanken. Ich hoffe, es war nicht zu langweilig. Beim nächsten Kapitel kommt dann wieder bisschen Action rein.
Feedback in die Kommentare, würde mir sehr helfen.
[1335 Wörter]
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