Kapitel 8
Mit vor der Brust verschränkten Armen saß ich neben meinem Bruder und beobachtete die vorbeiziehenden Häuser durch das Beifahrerfenster. Jede einzelne Faser meines Körpers weigerte sich gegen das Bevorstehende.
Heiligabend bei meinen Eltern in Hinsdale.
Ich wollte nicht dorthin zurück. Nicht nach der Art und Weise, wie Mom und ich kürzlich auseinandergegangen sind. Seit unserem Streit, der nun fast zwei Wochen zurücklag, hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Nicht ein einziges Wort. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich heute überhaupt dabei haben wollte.
Ich seufzte resigniert und warf einen Blick zu Aiden, der stur geradeaus auf die Straße starrte. Manchmal wünschte ich, ich hätte mehr von meinem Bruder. Seine ruhige und besonnene Art sorgte dafür, dass er es so viel leichter im Leben hatte, als ich. Er war ehrgeizig, motiviert und humorvoll, stets ausgeglichen - das Kind, das sich meine Eltern immer gewünscht hatten.
Ich dagegen war ein absoluter Albtraum und im Vergleich zu Aiden die reinste Enttäuschung. Ich wusste, dass es falsch war, mich ständig mit meinem Bruder zu vergleichen, doch hin und wieder konnte ich nicht anders.
»Was ist?«, als hätte Aiden mein Starren bemerkt, warf er mir einen kurzen Seitenblick zu.
»Nichts«, ich wandte meinen Blick ab. »Mir ist nur aufgefallen, wie ekelhaft perfekt du bist.«
Aiden quittierte meine Aussage lediglich mit einem verständnislosen Blick und einem darauffolgenden Lachen. Den Rest der Fahrt verbrachten wir mit Schweigen.
Schließlich kamen wir in Hinsdale an und Aiden lenkte den Wagen in unsere Einfahrt, dessen Eisentore sich automatisch öffneten.
Wir fuhren den gepflasterten Weg entlang, bis er den Motor unmittelbar vor der Villa abstellte und ausstieg. Ich dagegen blieb sitzen, wenngleich ich meinem Körper auch befahl, auszusteigen. Er gehorchte einfach nicht.
Ein Klopfen an der Fensterscheibe ließ mich erschrocken zusammenfahren.
»Kommst du jetzt oder willst du Heiligabend im Auto verbringen?«, Aiden warf mir einen belustigten Blick zu. Ich rollte lediglich mit den Augen und atmete noch einmal tief ein, ehe ich die Beifahrertür seines BMWs aufstieß.
»Ich hätte sollen zuhause bleiben«, murmelte ich und zog mir die Kapuze meines schwarzen Marvel Hoodies über den Kopf.
»Und dir den ganzen Spaß entgehen lassen?«, Aiden blickte grinsend an mir herab. »Ich kann's kaum erwarten Moms Gesicht zu sehen, wenn sie dich in diesem Aufzug sieht.«
Anstatt einer Antwort warf ich ihm lediglich einen vernichtenden Blick zu. Doch Aiden hatte Recht, Mom würden ausrasten, wenn sie sah, dass ich mich nicht dem Anlass entsprechend gekleidet hatte. Statt eines ihrer teuren Chanel Kleider, die sie mir vor einigen Woche extra für Weihnachten gekauft hatte, trug ich eine graue Straight Fit Jeans, die an den Knien zerrissen war und dazu meinen Hoodie. Das Ganze rundete ich mit meinen heißbeliebten Nike Air Force ab.
»Auch wenn ich mich jedes Mal köstlich darüber amüsiere, wie sehr Mom sich über deinen Kleidungsstil aufregt, verstehe ich nicht, wieso du sie damit immer wieder zu provozieren versuchst«, überlegte Aiden laut, während wir zur Haustür liefen.
Ich blieb mitten auf dem Weg stehen und starrte meinen Bruder fassungslos an.
»Denkst du etwa, ich mache das absichtlich?«
Aiden stoppte ebenfalls und drehte sich zu mir um. Für den Bruchteil einer Sekunde zog er nachdenklich die Brauen zusammen.
»Ja, das denke ich. Ist es etwa nicht so?«, fragte er überrascht.
Ich setzte bereits zur Widerrede an, hielt dann jedoch inne. Na gut, zugegeben ein kleiner Teil in mir hatte eine Vorliebe dafür entwickelt, Mom bis aufs Blut zu reizen. Aber der andere Teil wollte schlicht und ergreifend akzeptiert werden - und zwar genau so, wie ich nun einmal war. Dazu gehörte eben auch mein Kleidungsstil.
Ich war im Begriff, Aiden zu antworten, als plötzlich die Haustür hinter uns geöffnet wurde und das Dienstmädchen meiner Eltern, Marisol, zum Vorschein kam.
Marisol war eine liebevolle Dame mittleren Alters mit spanischen Wurzeln. Zudem war sie die einzige Haushälterin, die es seit mehr als drei Jahren mit dem Hausdrachen namens Nadja Dorothy Carpell aushielt, was meines Erachtens einem Wunder gleichkam.
»Marisol, wie schön dich zu sehen«, begrüßte Aiden sie. »Frohe Weihnachten! Wie geht es deiner Familie?«
Ich rollte genervt mit den Augen. Hier war er wieder, mein perfekter Bruder - stets freundlich und zuvorkommend, der Traum aller Schwiegermütter.
Marisol lächelte breit. »Vielen lieben Dank, Aiden, ich wünsche dir auch frohe Weihnachten. Meiner Familie geht es gut, danke der Nachfrage!«, der spanische Akzent war kaum zu überhören. Als Marisol mich erblickte, wurde ihr Lächeln noch etwas breiter.
Immerhin eine Person, die mich lieber mochte, als Aiden. Marisol hatte schon immer eine Schwäche für mich gehabt, was womöglich daran lag, dass ich sie an ihre eigene Tochter, Carla, erinnerte, die in Spanien bei ihrer Abuela lebte.
»Antonia! Ich hatte gehofft, dass du heute Abend kommst!«, sie stieg eilig die Stufen zu mir herab und zog mich in eine herzliche Umarmung, ehe sie mich wieder eine Armlänge von sich weg schob. »Lass dich mal anschauen, wie geht es dir? Behandelt dich dein Bruder gut? Gibt er die auch genug zu essen?«, sie warf Aiden einen schnellen Blick zu. »Du sorgst doch gut für deine hermanita, richtig?«
»Bis auf die Tatsache, dass er jedes Mal die Milch aufbraucht und ich morgens mein Müsli trocken essen muss, ist alles in Butter«, ich zuckte lässig mit den Schultern.
»Na und? Du bekommst es ja nicht einmal hin, deine Schuhe auszuziehen, bevor du in die Wohnung kommst«, fauchte Aiden zurück.
Ich setzte gerade zum Gegenschlag an, als Marisol unserer Diskussion Einhalt gebot.
»Kinder!«, sie hob beschwichtigend die Hände. »Hört auf zu streiten, wir haben Weihnachten.«
Ich verzog die Lippen zu einem Schmollmund und nuschelte eine Entschuldigung, während Aiden mit einem beleidigten Gesichtsausdruck nach drinnen ging. Bevor er allerdings im Haus verschwand, ließ er es sich nicht nehmen, uns über die Schulter noch etwas zuzurufen, denn wer Aiden kannte, wusste, dass er immer das letzte Worte haben musste.
»Sie hat angefangen!«
Tja eines war klar, wenn ich nicht bald eine Wohnung fand, würde das Zusammenleben mit Aiden und mir in Mord und Totschlag enden und Mom wäre nicht die Einzige, mit der ich zerstritten war.
Ich seufzte resigniert und blickte fragend zu Marisol.
»Wie sieht es denn in unserem Weinkeller aus?«
☆
Das Aufeinandertreffen mit meiner Mom war genauso ausgefallen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nach einer unterkühlten Begrüßung hatte sie mich einer abschätzigen Musterung unterzogen. Seither sprachen wir kein einziges Wort miteinander. Wider aller Erwartungen hatte sie wegen meines Outfits kein einziges Kommentar verlauten lassen, dafür aber meine Grandma Dorothy. Sie sagte etwas in der Richtung, dass ich aussah wie eine Obdachlose. Welche Ironie des Schicksals, dass sie damit sogar Recht haben könnte, wenn ich nicht schleunigst eine eigene Wohnung fand und meine Streitigkeiten mit Aiden niederlegte. Aber das musste ich ihr ja nicht auf die Nase binden.
Instinktiv wünschte ich mir, ich wäre einfach in Aidens Appartement geblieben und hätte Weihnachten ausfallen lassen. Noch nie hatte ich mich so unwohl in meiner Haut gefühlt, wie an diesem Abend.
Was hatte ich auch erwartet? Dass meine Familie mich wie von Zauberhand so akzeptierte, wie ich war? Weit gefehlt. Insbesondere jetzt, da ich mein Architekturstudium abgebrochen hatte, schien ich in ihrer Gunst noch tiefer gefallen zu sein, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Während des Essens herrschte absolute Stille, die mir beinahe den letzten Nerv raubte. Lediglich das Kauen und das Klirren des Bestecks auf den Tellern war zu hören.
Als es endlich Nachtisch gab, begannen mein Dad und Grandpa ein Gespräch, bei dem es sich hauptsächlich um die Geschäfte drehte. Aiden mischte sogleich mit und glänzte selbstverständlich mit seinen Leistungen.
Ich wurde größtenteils ignoriert und wenn ich nicht ignorierte wurde, dann durfte ich mir abwertende oder beleidigende Kommentare anhören. In diesem Augenblick vermisste ich Milo schmerzlichst. Er hätte es geschafft, mich wieder aufzumuntern und zum Lachen zu bringen.
Ich zückte mein Smartphone und schickte ihm ein Dory Meme. Dann schrieb ich ihm noch eine Textnachricht.
Hey du,
Ich vermisse dich.
Dory macht mir das Leben zur Hölle.
Ich hasse Weihnachten!
Es dauerte nicht lange, ehe das Vibrieren meines iPhones eine Antwort ankündigte.
Du Arme!
Mein Beileid, ich fühlte mit dir!
Aber bei mir ist es auch nicht besser.
Meine Großeltern zwingen mich schon dazu,
das fünfte Weihnachtslied in Folge zu singen.
Ich bekomme gleich einen Tinnitus von
meinem eigenen Gesang. Schrecklich.
Als ich Milos Nachricht las, schlich sich zum ersten Mal an diesem Abend ein Grinsen auf mein Gesicht. Doch selbst dieses Grinsen sollte mir sogleich wieder vergehen, als meine Mom ankündigte, dass wir nun zur Bescherung kamen. Für gewöhnlich gab es erst am Tag nach Heiligabend Geschenke. Da Aiden und ich jedoch beschlossen hatten, morgen zuhause zu bleiben und nicht nochmal nach Hinsdale zu fahren, fand die Bescherung heute schon statt. Weihnachten war schon lange nicht mehr das, was es als Kind für mich gewesen war und bei unseren derzeitigen Familienverhältnissen war ich mehr als froh darüber, wenn ich mich morgen nicht noch einmal hierher quälen musste.
Aiden und ich überreichten Mom und Dad ihr Weihnachtsgeschenk, das aus einem Spa-Wochenende und einem völlig überteuerten Wein bestand, der ein halbes Vermögen gekostet hatte. Wer gab bitte tausende von Dollar für einen Wein aus? Zum Glück hatte Aiden darauf bestanden, den Großteil zu bezahlen, wahrscheinlich mit dem Hintergedanken, dass ich mein eigenes Geld für die Wohnung aufsparte. Mom und Dad freuten sich sehr und wiesen Marisol an, den Wein in die Küche zu bringen und Aidens und mein Geschenk zu holen.
Es dauerte nicht lange, ehe Marisol mit einem kleinen Umschlag zurückkam. Mom nahm ihn mit einem aufgeregten Lächeln auf den Lippen entgegen und reichte ihn an Aiden weiter.
»Wir haben lange überlegt, was wir dir schenken könnten. Wir hoffen es gefällt dir.«
»Wir hoffen, es gefällt euch beiden«, verbesserte Dad und warf Mom einen belehrenden Blick zu. Mom räusperte sich und ihre Augen wanderten von Aiden zu mir.
»Natürlich, es ist auch für Tony«, Moms Blick Lächeln verlor an Ausdruck, als sie zu mir sah. Und wieder war da einer dieser Momente. Ein Moment, in dem mir ohne Worte zu verstehen gegeben wurde, welche Enttäuschung ich doch war, dass ich nicht einmal ansatzweise so sehr geliebt wurde, wie mein Bruder.
Diese Erkenntnis traf mich zutiefst und ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter.
Aiden hielt mir den Umschlag hin und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte lediglich verneinend mit dem Kopf. Ich hatte kein Interesse daran, das Geschenk zu öffnen, es war ohnehin wieder etwas, mit dem ich nichts anfangen konnte.
Aiden zuckte mit den Achseln und machte sich daran, en Umschlag zu öffnen. Er studierte die Karte bis ins kleinste Detail - typisch Aiden.
»Und?«, drängte Mom aufgeregt.
»Ein Städtetrip nach Madrid?«, fragte Aiden schließlich, während er noch immer die Karte las.
»Ja, ist das nicht toll? Du wolltest doch schon immer mal nach Madrid«, Mom lächelte Aiden liebevoll an. »Zudem ist die Architektur dort wirklich außerordentlich schön. Du wirst im...«, Mom hielt kurz inne und sah wieder zu mir rüber. »Ihr werdet dort im Four Seasons Hotel übernachten, ist das nicht toll?«
»Wow«, wandte ich mich nun zu Wort, wobei sich meine Begeisterung in Grenzen hielt. »Ist das nicht toll, Aiden?«, wiederholte ich Moms Worte und warf Aiden ein aufgesetztes Lächeln zu. Meine Stimme triefte förmlich vor Ironie.
Ich wusste, dass Aiden nicht verantwortlich für das Verhalten unserer Eltern war. Doch aus unerfindlichem Grund war ich in diesem Augenblick wütend auf ihn. Vielleicht war es auch schlicht und ergreifend nur der Neid, der aus mir sprach - was noch schlimmer war. Denn Neid machte Menschen hässlich.
»Ähm ja, echt cool!«, antwortete Aiden und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Auch ihm war klar, dass dieses Geschenk lediglich für ihn gedacht war. Doch diese Rechnung hatten meine Eltern - oder besser gesagt Mom - ohne mich gemacht. Denn ich hatte schon eine ganz genaue Vorstellung, wie ich es ihr heimzahlen konnte.
»Hey, Marisol sollte mein Flugticket bekommen! Ihre Familie wohnt doch in Madrid, richtig? Sie hat es sich verdient, ihre Familie mal wieder zu sehen, nicht wahr, Mom?«, ich blickte zu Mom.
Der Ausdruck in ihren grünen Augen war eiskalt und ich konnte regelrecht dabei zusehen, wie ihr Lächeln bei jedem einzelnen meiner Worte allmählich zu bröckeln begann. Ihr gesamter Körper war im Bruchteil einer Sekunde angespannt.
»Oh Antonia, das ist sehr großzügig, aber das kann ich nicht annehmen!«, Marisol legte sich beide Hände auf die Brust und schnappte erschrocken nach Luft.
»Ach Marisol, ich bin sicher meine Mutter ist damit einverstanden, sie ist eine sehr großzügige Frau, nicht wahr, Mom?«, ich sprach die Worte aus, ohne dabei meinen Blick von Mom zu nehmen. »Außerdem haben wir doch Weihnachten, das Fest der Liebe.«
Ich konnte nicht einmal sagen, wessen Blick hasserfüllter war, aber hätten Blicke töten können, wäre ich wohl tot umgefallen und meine Mom gleich mit.
»Nun«, wendete sich plötzlich Dad zu Wort und legte meiner Mom beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich denke das ist eine tolle Idee. Nadja ist sicherlich damit einverstanden, nicht wahr, Schatz?«
Ein paar Sekunden noch starrte meine Mom mich mit wutentbrannter Miene an. Dann straffte sie ihre Schultern, nahm einen tiefen Atemzug und gab ihr übliches, aufgesetztes Lächeln zum Besten.
»Aber natürlich, ein ganz wundervoller Gedanke, Antonia.«
Okay, Mom hasste die Idee. Wie sollte es auch anders sein? Immerhin hätte sie dann eine ganze Woche lang niemanden, der ihr den Haushalt schmiss, ihre Wäsche wusch und sie bekochte.
Wie überaus tragisch.
Aiden war der Einzige, der in dieser angespannten Situation noch einen kühlen Kopf bewahrte. Er schaffte es, die gekippte Stimmung etwas anzuheben, indem er unseren Großeltern ihr Weihnachtsgeschenk überreichte. Da ich auf die Bescherung mit den beiden ebenfalls getrost verzichten konnte, entschuldigte ich mich kurz. Sie würden mir ohnehin wieder einmal nur irgendein Sachbuch über architektonische Meisterwerke schenken, mit dem ich nichts anfangen konnte, insbesondere jetzt, da ich mein Studium abgebrochen hatte. Also verdrückte ich mich in die Küche, auf der Suche nach einem Getränk mit Umdrehungen, das den heutigen Abend etwas erträglicher machen würde.
Auf dem Küchentresen standen mehrere Weinflaschen, die wohl für den heutigen Anlass von Marisol aus dem Weinkeller geholt worden waren. Ohne groß darüber nachzudenken, griff ich nach der nächstbesten Flasche und machte mich an dem Korken zu schaffen. Hätte ich mich doch nur besser ausgekannt oder einen genaueren Blick auf die Flasche geworfen, wäre mir womöglich aufgefallen, dass es sich dabei um den Tausend-Dollar-Wein handelte, den Aiden und ich unseren Eltern geschenkt hatten. Leider war ich wieder zu sehr in meiner Gedankenwelt versunken, um das zu bemerken. Erst als Marisol zwanzig Minuten später in Küche geschlendert kam und ihr Blick auf die fast leere Flasche vor mir fiel, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen.
»Ay, Antonia, qué has hecho?«, mit einem Mal wurde sie kreidebleich im Gesicht und eilte zu mir. Sie nahm mir die Weinflasche aus der Hand, die ich gerade eben wieder an meine Lippen setzen wollte und studierte das Etikett.
»Mierda!«, rief sie aufgebracht und sah mir ins Gesicht. Ich konnte über ihr Fluchen nur kichern. Der Alkohol verfehlte seine Wirkung keinesfalls. Ich nahm alles um mich herum nur noch gedämpft wahr.
»Dein Spanisch hört sich fast so schön an, wie bei Jona«, ich seufzte. »Aber nur fast.«
»Antonia«, versuchte Marisol es erneut und sah mir dabei fest in die Augen. »Du hast den Wein deiner Eltern getrunken.«
»Marisol«, begann ich und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ich hatte alle Mühe, deutlich zu sprechen, so sehr spürte ich den Alkohol. »Meine Eltern haben viel Wein im Keller, es wird ihnen nicht auffallen.«
Ich war im Begriff, wieder nach der Weinflasche zu greifen, doch Marisol kam mir zuvor und platzierte sie außerhalb meiner Reichweite. »Dieser Wein habt ihr euren Eltern vorhin zu Weihnachten geschenkt, Antonia, verstehst du?«
Durch den Schleier des Alkohols dauerte es eine Weile, bis Marisols Worte meinen Verstand erreichten. In dem Moment, als ich zu begreifen begann, schwang die Küchentür auf und Aiden erschien.
»Tony, was treibst du denn die ganze Zeit, du bist schon seit einer gefühlten Ewigkeit...«, doch weiter kam er nicht, denn Aiden brauchte nicht lange, um die Situation einzuschätzen. Sein Blick wanderte erst zwischen Marisol und mir hin und her, ehe er auf der Flasche auf dem Küchentresen landete. Der Ausdruck auf Aidens Gesicht sprach Bände.
Es war stocksauer.
»Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist«, sprach er und trat näher heran.
Meine Lippen verzogen sich zu einem schuldbewussten Lächeln und ich verzog zerknirscht das Gesicht.
»Das ist nicht wahr?«, wiederholte ich seine Worte vorsichtig, während ich darauf wartete, dass Aiden ein Donnerwetter einfahren ließ. Es dauerte nicht einmal eine Sekunde.
»Verdammt Tony! Kannst du nicht ein einziges Mal aufhören damit, Ärger zu machen? Wir haben Weihnachten, verdammt nochmal! Und du hast nichts Besseres zu tun, als den Tausend-Dollar-Wein zu saufen, den wir Mom und Dad geschenkt haben?«
Bei seinen Worten zuckte ich leicht zusammen. Irgendwie war es lustig, Aiden derart aufgebracht zu sehen, andererseits aber verärgerten mich seine Worte auch. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte und so kam ein Geräusch über meine Lippen, das wohl eine Mischung aus beidem war und eher einem Grunzen gleichkam.
»Findest du das jetzt auch noch lustig?«, Aiden sah mich entgeistert aus seinen blauen Augen aus an.
Mein Gott, mein Bruder verstand aber ehrlich keinen Spaß. Ich räusperte mich und zog lediglich die Brauen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Entschuldige, dass ich nicht so perfekt wie du bin«, giftete ich stattdessen zurück.
»Tony«, Aiden schloss für einen kurzen Moment die Augen und nahm einen angestrengten Atemzug. »Es dreht sich nicht immer alles um dich, ja?«, er wandte sich zum Gehen, zückte sein Smartphone und lief zurück zur Tür.
»Es sei denn man ist betrunken«, rief ich ihm hinterher und streckte meine Hand nach der Weinflasche aus. Marisol schlug mir auf die Finger, woraufhin ich ihr einen boshaften Blick zuwarf.
Sie erwiderte ihn.
Stattdessen sah ich wieder zu meinem Bruder rüber, der sich sein Telefon ans Ohr hielt und Anstalten machte, den Raum zu verlassen.
»Wo gehst du hin?«, verlangte ich von Aiden zu wissen, bevor er verschwunden war.
»Ich sorge dafür, dass du keinen Ärger mehr machst«, hörte ich ihn noch sagen, ehe die Tür ins Schloss fiel.
Ich drehte mich zu Marisol um und warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Was bedeutet das?«
Sie hob eine Braue.
»Ich schätze, dass der Abend für dich nun zu Ende ist.«
Ich seufzte.
»Schade, der Wein hat gerade angefangen, gut zu schmecken.«
Während Marisol damit begann, für Ordnung in der Küche zu sorgen, saß ich gelangweilt am Küchentresen und wartete auf Aiden. Obwohl mich der Alkohol etwas schläfrig machte, so sorgte er dafür, dass sich alles ein bisschen leichter anfühlte. Auch wenn mir durchaus bewusst war, dass ich ziemlichen Mist gebaut hatte. Eine Bewegung im Augenwinkel ließ mich aufblicken. Doch es war nicht Aiden. Leider. Nein, es war...
»Mom, ich sagte doch, geh lieber nicht in die Küche. Es geht ihr wirklich nicht gut, sie...«, hörte ich noch Aidens vergeblicher Versuch, Mom davon abzuhalten, die Küche zu betreten.
Aber es war schon zu spät.
Mom trat ein und wie bei Aiden zuvor, schweifte auch ihr Blick über den Küchentresen und über die Weinflasche hinweg zu mir.
Ich begegnete den Augen, die meinen so sehr ähnelten und blitzartig wurde mir bewusst, dass ich mich meiner eigenen Mutter noch nie so entfernt gefühlt hatte, wie in diesem Moment.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht änderte sich schlagartig und sollte ich gedacht haben, dass Moms Blick nicht noch mehr Abscheu für mich hätte ausdrücken können, so hatte ich mich gewaltig geirrt. Tja, und so schmiss meine eigene Mom mich innerhalb kürzester Zeit zum zweiten Mal aus dem Haus.
»Ich möchte, dass sie verschwindet. Sofort«, ihre Stimme war eiskalt und schneidend.
Trotz des Alkohols, der meinen Kummer eigentlich hätte lindern sollen, spürte ich einen tiefen Stich im Herzen. Nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten.
Und ausgerechnet dann, als ich glaubte es konnte nicht noch schlimmer kommen, setzte Aiden dem Ganzen die Krone auf.
»Schon gut, Mom, Jona fährt sie nach Hause.«
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