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Kapitel 30

Drei Monate später

I think I'm okay von Machine Gun Kelly, YUNGBLUD und Travis Barker dröhnten wieder einmal durch meine Air Pods, während ich zeichnete.

Als ich den letzten Pinselstrich setzte und mein Werk betrachtete, fühlte ich mich wie Michelangelo höchstpersönlich. Auch wenn meine Arbeit nicht annähernd so gut war, wie die des toskanischen Künstlers.

Bei meinem Werk handelte es sich um ein Portrait. Genauer gesagt um ein Aktportrait von einer meiner Kommilitoninnen, die sich breit erklärt hatte, Modell zu stehen.

Eine Aktportrait-Zeichnung war etwas ganz Besonderes. Denn sie stellte den gesamten, nackten menschlichen Körper dar. Eine besondere Rolle kam hierbei der Ästhetik zu. Diese Art von Zeichnung war in der heutigen Zeit eine äußerst gefragte und angesehene Form der Kunst. Es verfügte über eine sehr starke Ausdrucksweise. Für das Modell bedeutete es meistens, dass man den eigenen Körper akzeptierte. Ihn annahm. Ihn liebte, wie er von Gott geschaffen worden war. Und je nach Art und Weise, wie man den Körper einfing, ihm Leben einhauchte und ihn darstellte, spürte man auch die Emotionen und die Wirkung des Modells auf den Künstler.

Man spürte aber auch, was der Künstler fühlte.

Die Perfektion dieser Kunstart war nicht zu finden in einem makellosen Körper oder einem hübschen Gesicht. Nein, die Perfektion lag in jedem einzelnen Körperpart, in jeder noch so ungleichmäßigen Umformung oder ungenauen Symmetrie des Körpers. Es konnte ein Schönheitsfleck sein. Eine Narbe. Eine ungleiche Brust. Dies war es, was die Schönheit ausmachte und dies galt es einzufangen. Die Suche nach dem Vollkommenen in der Unvollkommenheit. Dies ließ die Harmonie und die ästhetische Wirkung mit dem Goldenen Schnitt im Auge des Betrachters verschwinden.

Unsere Kunstlehrerin Mrs Goldberg hatte uns den Auftrag gegeben, drei Aktzeichnungen anzufertigen. Die Beste wurde benotet.

Mir blieb noch reichlich Zeit und obwohl ich allmählich ins Schwitzen geriet, hatte ich noch nie etwas getan, das mir größere Freude bereitete, als die School of the Art Institute Chicagos zu besuchen. Endlich hatte ich mir meinen lang ersehnten Traum erfüllt.

Seit ganzen zwei Wochen nun besuchte ich schon die Kunstschule und ich war froh, dass ich diesen Schritt gewagt hatte. Dass ich das Architekturstudium an den Nagel gehängt hatte und meine Wünsche und Hoffnungen verfolgte.

Es war die richtige Entscheidung gewesen.

Auch wenn Mrs Goldberg uns schon direkt zu Beginn des ersten Semesters ins eiskalte Wasser warf und eine Aktzeichnung anfertigen ließ. Etwas, das ich noch nie zuvor gemalt hatte. Es war keine einfache Aufgabe. Doch es war eine Aufgabe, an der ich wuchs. Mich weiterentwickelte. Meine Fähigkeiten verbesserte. Ich liebte es. Und das obwohl mir Lindsay Camerons Brüste meine ersten grauen Haare bescherte, weil ich sie einfach nicht richtig eingefangen bekam.

Ich legte den Pinsel beiseite. Besser würde es nicht werden. Immerhin hatte ich ihre anderen Proportionen und ihr Gesicht nahezu perfekt festgehalten. Ich schaute nach vorne zu Lindsay, die noch immer in ihrer Pose verharrte, weil einige meiner Kommilitonen noch am Zeichnen waren. Ich erhob mich von meinem Stuhl und bedeutete ihr mit einem leisen Lächeln, dass ich fertig war. Sie zwinkerte mir kaum merklich zu und auf leisen Sohlen, um die anderen nicht zu stören, schlich ich aus dem Raum.

Da das Wetter für Mai bereits herrlich warm war, beschloss ich, mir draußen ein schönes Plätzchen zu suchen. Ich durchquerte die Flure und stieg die Galerietreppen herab. Es war nicht zu übersehen, dass es sich bei der School of the Art Institute um eine sehr noble Kunstschule handelte. Nur die Besten der Besten wurden hier unterrichtet und ich konnte noch immer nicht so ganz fassen, dass ich es wirklich geschafft hatte, aufgenommen zu werden.

Der Gedanke, all das selbst erreicht zu haben, erfüllte mich mit Stolz.

Ich verließ das Gebäude und ließ mich an einem sonnigen Plätzchen, am Rande der ausladenden, breiten Steintreppe nieder, die auf den Haupteingang zulief.

Obwohl es im hauseigenen Garten sehr viel schöner war, fand ich es irgendwie beruhigend, die Menschen auf der Straße zu beobachten. Die Hektik und der Verkehr, der hier herrschte und die Straßen Chicagos mit Leben erfüllten, versprühten einfach einen besonderen Flair. Es inspirierte mich auf gewisse Weise zum Zeichnen. Brachte mich dazu, mir neue Motive zu suchen, statt der üblichen Universen und Sternen.

Wenn ich eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann dass ich über meinen Tellerrand hinausblicken musste. Meinen Horizont erweitern musste. Ich konnte keine erfolgreiche Künstlerin werden, wenn ich immer nur dieselben Bilder zeichnete. Und so kramte ich meinen Zeichenblock heraus und begann mit meinem Bleistift das Leben auf der Straße einzufangen.

Wenn man mich so sah - versunken in meinen Zeichenblock und alleine sitzend auf den Treppen der Kunstschule - könnte man annehmen, dass ich einsam sei.

Doch das war ich nicht.
Nicht mehr.
Ich hatte mich weiterentwickelt.
Ich war zu einem neuen Menschen geworden.
Zu einer ganz neuen Tony.
Einer Tony, die ich sehr viel lieber mochte, als die alte.

Nach dem Vorfall in den Hamptons vor drei Monaten, hatte ich mir Milos Worte zu Herzen genommen. Ich hatte versucht herauszufinden, wer ich wirklich war. Wer ich ohne... ohne Jona war. Tatsächlich tat es immer noch weh, an ihn zu denken. Doch der Schmerz war auszuhalten. Wie eine Narbe, die zwar verwachsen, aber immer noch da war. Ich wusste nicht, ob diese Wunde jemals wirklich vollends verheilen würde. Aber immerhin wusste ich, dass ich auch ohne Jona leben konnte. Dass ich glücklich sein konnte.

Ich hatte das Zeichnen und ich hatte wundervolle Freundinnen. Noch immer wohnte ich bei Roxy, Luna und Nova und selbst Amber hing jeden Tag mit uns ab, sodass sie sozusagen unsere fünfte Mitbewohnerin war. Milo machte gerade ein Auslandssemester in Deutschland und Aiden befand sich in Madrid, wo er das Weihnachtsgeschenk von Mom und Dad einlöste. Lustigerweise war unsere Haushälterin Marisol tatsächlich mitgeflogen. Ich hatte ihr damals aus einer Laune heraus und um Mom zu ärgern mein Flugticket überlassen. Mom nahm es mir noch immer übel, aber das war mir gleich. Ich hatte Marisol damit eine Freude bereitet, denn sie konnte endlich ihre Tochter besuchen, die sie seit langer langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Auch Aiden und ich hatten uns wieder zusammengerauft.

Wir waren beide unglaublich wütend auf den jeweils anderen gewesen. Aber nach stundenlangen Gesprächen und unzähligen Tränen hatten wir uns wieder vertragen. Wenngleich ich mir ziemlich sicher war, dass er es mir insgeheim noch immer übel nahm, dass ich mein Versprechen gebrochen und etwas mit seinem besten Freund angefangen hatte. Hin und wieder erwischte ich ihn dabei, wie er spitze Bemerkungen darüber machte. Ich wies ihn dann jedes Mal darauf hin, dass er schließlich auch mit Roxy rumgeknutscht hatte. Das ließ ihn sofort verstummen.

Ich grinste beim Gedanke daran.

Roxy und Aiden waren mittlerweile ziemlich gut befreundet. Doch mehr war da leider nicht. Roxy hatte Aiden in den Hamptons einmal geküsst, weil sie ausprobieren wollte, ob sie nicht auch Männer mochte. Sie hatte jedoch ziemlich schnell begriffen, dass sie Frauen bevorzugte. Und Aiden? Aiden hatte wohl seine Freiheit noch ein letztes Mal ausnutzen wollen, bevor er sich an eine Frau band. Eine Frau, die er nicht einmal ausstehen konnte.

Ja, die Hochzeit zwischen Aiden und Olivia war bereits in der Planung und egal wie oft ich Aiden versuchte umzustimmen, er ließ nicht mit sich reden. Obwohl ich mich mittlerweile wieder etwas besser mit Mom und Dad verstand, nahm ich es den beiden manchmal ziemlich übel, dass sie Aiden so etwas antaten. Andererseits aber ging es mich nichts an. Aiden war alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Genauso wenig verstand ich, wie Aiden und Jona sich wieder hatten vertragen können.

Ja, richtig gehört.

Aiden und Jona hatten sich ausgesprochen und kamen wieder einigermaßen miteinander aus. Oder zumindest versuchten sie es. Ich bezweifelte, dass es so war, wie früher. So, wie vor den Geschehnissen in den Hamptons. Aiden hatte mir ein paar Wochen nach dem Vorfall erzählt, dass er sich mit Jona traf. Dass die beiden sich aussprechen wollten. Doch Aidens Erzählungen nach hatte er seinem besten Freund noch nicht gänzlich verziehen. Vertrauen war ein zerbrechliches Konstrukt, das sich nicht mehr so leicht aufbauen ließ, wenn es erst einmal zerstört war. Ich kam nicht umhin mich zu fragen, wie Jona es dennoch geschafft hatte, meinen Bruder zum Zuhören bewegt zu haben.

Nun gut, im Grunde verstand ich Aiden ein kleines bisschen. Er und Jona besaßen eine gemeinsame Wohnung. Eine gemeinsame Vergangenheit. Sie kannten sich von klein auf. Waren schon immer die besten Freunde gewesen... Nur natürlich, dass Aiden sich zumindest hatte anhören wollen, was Jona zu sagen hatte. Auch wenn mein Bruder ihn noch kurz zuvor mal eben krankenhausreif geprügelt hatte. Keine Ahnung, ob das ihre Art und Weise war, mit einem Streit umzugehen, aber es hatten beide Fehler gemacht. Beide hatten sich falsch verhalten und den jeweils anderen verletzt. Ganz gleich, was Jona mir angetan hatte, so hoffte ich, dass die beiden das irgendwann wieder hinbekamen. Um ihrer Freundschaft Willen. Obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es nicht mehr so war, wie früher.

Die Krönung jedoch war, dass Aiden mich sogar dazu überreden wollte, ebenfalls mit Jona zu sprechen. Der Vertrauensbruch zwischen den beiden war eine Sache. Aber zwischen Jona und mir? Das war etwas ganz anderes! Nicht zu fassen, dass Aiden das wirklich von mir verlangte. Ich hatte das Thema sofort abgeschmettert, ohne zu hinterfragen, was Aiden sich dabei wohl dachte... Natürlich war ich seiner Bitte auch nicht nachgekommen. Ebenso wenig wie ich einen von Jonas unzähligen Anrufen oder Nachrichten beantwortet hatte. Mittlerweile kamen keine mehr, was jedoch nur der Tatsache geschuldet war, dass ich ihn auf sämtlichen Social Media Kanälen und diversen Apps blockiert hatte.

Ich brauchte diesen Abstand für meine Genesung.

Ich hatte nicht über ihn hinwegkommen können, wenn er mich ständig belästigte.

Es wunderte mich ohnehin, dass er nicht einfach vor meiner Wohnung aufkreuzte und um ein Gespräch bat. Wenngleich ich nicht so wirklich wusste, worüber er sprechen wollte. Schließlich war alles gesagt zwischen uns.

Das wäre ja, als würde ich meine eigene Schwester ficken.
Tony bedeutet mir viel, aber so viel nun auch wieder nicht.
Die Einzige, die ich jemals geliebt habe, war Amelia.

Ich hatte Jonas Worte nicht vergessen.

Sie spukten mir noch immer im Kopf herum und ich wiederholte sie wie ein Mantra, wenn mich die Sehnsucht nach ihm wieder einmal übermannte. Meistens verfolgten mich die Erinnerungen an ihn nachts in meinen Träumen. Und aus diesem Grund war eine Aussprache auch sinnlos. Ich brauchte mir keine unaufrichtigen Entschuldigungen und Ausflüchte anzuhören.

Jona hatte mir das Herz gebrochen und damit musste er nun leben.

Mit dieser Gewissheit konzentrierte ich mich wieder auf meine Zeichnung, wenngleich ich den Stift ein bisschen zu fest ins Papier drückte, bis das Blatt Risse erhielt.

»Verdammt«, fluchte ich, riss das Papier vom Block und zerknüllte es wütend. Dann begann ich von Neuem und als die Gedanken an Jona endlich in weite Ferne rückten, schaffte ich es auch wieder, mich bedingungslos meinem Hobby zu widmen.

»Hallo«, eine tiefe Stimme erklang über mir. Eine mir unbekannte, melodische Stimme. Ich war so in meine Zeichnungen vertieft gewesen, dass ich zunächst gar nicht bemerkte, dass jemand vor mich trat.

Ich hob das Gesicht, legte die Hand über meine Augen und blinzelte gegen die Sonne an. Dann erstarrte ich und das Herz blieb mir stehen.
Wortwörtlich.

Vor mir stand Jona.
Und wiederum nicht.

Der Mann, der mich mit einem schüchternen Lächeln bedachte, sah Jona zum Verwechseln ähnlich. Aber ein paar Details schienen nicht ganz zu stimmen.

Er besaß dieselben blonden Locken, die ein markantes Gesicht mit gerade Züge umrahmten. Dieselben bernsteinfarbenen Augen. Ja, ich erkannte sogar goldene Sprenkel darin, die mir sehr vertraut waren. Aber etwas in seinem Gesicht war anders. Ein ernsterer Ausdruck lag darin. Keine Spur von dem lockeren, amüsierten Jona, wie man ihn kannte.

Nein, der Ausdruck, mit dem er mich ansah, war ein anderer. Er war gebrochen. Selbst seine Augen wirkten, als hätte er schon das ganze Elend dieser Welt erblickt und sich niemals davon erholt.

Meine Augen glitten über einen sehr athletischen und sportlichen Körper. Doch etwas fehlte. Es war das Tattoo an seinem Arm von den Umrissen Jonas zweiter Heimat - Spanien.

In diesem Moment begriff ich, dass nicht Jona vor mir stand.

»Ich bin Ric«, eine freundliches, aber distanziertes Lächeln erschien auf seinen perfekt geschwungenen Lippen. Doch er bot mir keine Hand dar, um sich vorzustellen. Er stand einfach nur vor mir und schaute mich an. »Du musst Tony sein, richtig?«

Meine Stimme versagte.

Das Atmen fiel mir schwer und ich hatte das Gefühl, jeden Moment eine Panikattacke zu erleiden.

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden raubte mir den Atem und im Bruchteil einer Sekunde spürte ich einen schmerzhaften Stich im Magen. Meine Brust zog sich schwer zusammen und eine unerträgliche Sehnsucht überfiel mich.

Jona. Jona. Jona.

Alles woran ich denken konnte, war Jona.

Nicht zu fassen, dass der Anblick von Jonas Zwillingsbruder die Macht besaß, solche Gefühle in mir hervorzurufen.

»I-Ich weiß wer du bist«, hörte ich mich plötzlich sagen. Meine Stimme klang ganz fremd in meinen eigenen Ohren. Dumpf.

Hastig wandte ich den Blick ab und senkte ihn auf meinen Zeichenblock.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er plötzlich nach kurzem Zögern.

Wenn es sein muss. Dachte ich mir, sprach die Worte allerdings nicht aus. Ricardo konnte schließlich nichts dafür, dass er aussah wie sein Bruder.

»Bitte«, ich deutete widerwillig auf den freien Platz neben mir auf der Stufe. Ricardo setzte sich. Jedoch nicht neben mich. Auch nicht vor mich. Er ließ sich zwei Stufen über mir nieder und behielt somit einen ziemlich großen Sicherheitsabstand bei.

Ich hob zweifelnd die Brauen.

»Ich beiße nicht, weißt du?«, scherzte ich und versuchte einen belustigten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Ricardo jedoch verzog keine Miene.

»Ich sitze sehr gut hier.«

Mir fiel auf, dass er peinlichst genau darauf bedacht war, weder mich noch andere Leute, die vorbeigingen, zu berühren. Ich fragte mich, weshalb er wohl so distanziert war und plötzlich fiel mir ein, dass Jona mir einmal erzählt hatte, dass Ricardo keine schöne Kindheit gehabt hatte. Vielleicht mochte er keine menschliche Nähe...

»Kommst du, um mir zu zu sagen, wie toll Jona ist und dass ich ihn anhören soll? Wenn ja, dann kannst du gerne wieder gehen«, erwiderte ich mürrisch und drehte ihm den Rücken zu. Stattdessen beobachtete ich die Menschen auf der Straße.

Ja, ich war ein Feigling.

Ich brachte es nicht übers Herz, Ricardo allzu lange anzusehen, weil er mich verdammt nochmal an Jona erinnerte. Weil es mir das Herz zerriss, ihn anzuschauen.

»Nein«, erwiderte er hinter mir. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu irgendetwas zu überreden. Jona hat sich benommen wie ein Arschloch und er hat Mist gebaut.«

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Dann drehte ich mich schließlich doch zu ihm um.

Der Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen traf mich mitten ins Herz.

»Ach ja?«, fragte ich überrascht und hob argwöhnisch eine Braue. »Warum bis du dann hier? Doch sicher nicht, um mir Aktmodell zu stehen, oder?«

Ricardo blinzelte ein paar Mal und schaute mich irritiert an.

»Wie bitte?«

Hastig winkte ich ab und wandte ihm wieder den Rücken zu. Er würde meinen Scherz ohnehin nicht verstehen.

»Warum bist du hier?«

Ein kurzer Moment der Stille entstand. Dann seufzte Ricardo, ehe er zu sprechen begann.

»Ich bin hier, weil ich es Jona schulde«, sagte er schlicht.

»Du schuldest es ihm, mich zu besuchen?«, nun war ich es, die verwundert war.

Ricardo nickte vorsichtig.

»Ich bin hier, weil es Jona schlecht geht. Du musst wissen, dass er noch immer hofft, dass du zurückkommst. Ich möchte dich einfach nur darum beten, ihm zu sagen, woran er ist.«

»Woran er ist?«, spuckte ich die Worte aus und fuhr entgeistert zu Ricardo herum. »Entschuldige mal, aber ich denke Jona weiß ziemlich gut, woran er ist. Zwischen ihm und mir gibt es nichts mehr. Es ist vorbei. Ich wüsste nicht, was wir noch bereden sollten.«

Doch statt sich von meinem Wutausbruch einschüchtern zu lassen, fuhr Ricardo unbeirrt fort. »Für Jona war es damals sehr schwierig, als er erfuhr, dass er noch einen Bruder hat. Seither macht er sich immer Vorwürfe. Er fragt sich, warum er derjenige war, der so viel Glück hatte, während ich...«, Ricardos Stimme stockte. »Weniger Glück hatte.«

Ich seufzte.

»Nichts für Ungut, ja? Ich kenne eure Familiengeschichte und was euch widerfahren ist, tut mir wirklich aufrichtig leid«, ich sah Ricardo tief in die Augen und ein Schauer lief mir über den Rücken. »Aber was soll das mit Jona und mir zu tun haben?«

Ricardo fuhr sich in einer frustrierten Geste durchs Haar.

»Jona hat Dinge gesagt und getan, die dich verletzt haben, Tony, aber er hat es nur getan aus Angst. Angst um seinen Bruder. Um seinen anderen Bruder. Angst um Aiden. Jona hat erst mit sechzehn rausgefunden, dass ich existiere. Und selbst zu diesem Zeitpunkt hat es lange gedauert, bis wir zu so etwas wie Brüder wurden. Jona hat lange um mich gekämpft, obwohl ich ihn oft von mir gestoßen habe. Du kannst dir nicht vorstellen wie es ist, einen Bruder zu finden, nur um festzustellen, dass er so gut wie verloren ist.«

Unwillkürlich spürte ich einen Kloß im Hals bei Ricardos Worten. Was hatte Ricardo nur erlebt, um so gezeichnet zu sein?

Es mochte sein, dass Jona all die schrecklichen Dinge nur gesagt hatte, um Aiden nicht zu verlieren. Dafür hatte er aber riskiert, mich zu verlieren.

Er hatte mich zutiefst verletzt.
Verschmäht.
Verstoßen.

Und für mich gab es nichts Schlimmeres, als das. Ich war damals schon jahrelang von meinen Eltern abgewiesen worden und nun auch noch von Jona. Wiederholt sogar.

»Also was ist es, das du willst?«, fragte ich schließlich. »Dass ich Jona ein für alle Mal sage, dass es keine Hoffnung gibt? Dass er mit mir abschließen soll?«

Ricardo sah mir fest in die Augen.

»Wenn es das ist, was du willst, Tony, dann ja. Aber rede mit ihm.«

»Wenn es das ist, was ich will?«, wiederholte ich ironisch und ließ meinen Blick wieder über die Straße wandern.

Statt einer Antwort erhob Ricardo sich plötzlich hinter mir und trat ein paar Stufen zu mir herab, behielt jedoch einen gewissen Sicherheitsabstand bei.

»Bevor ich gehe, soll ich dir den hier noch geben«, er hielt mir einen blauen Briefumschlag hin.

»Was denn? Ein Brief soll meine Meinung plötzlich ändern?«, misstrauisch beäugte ich den Umschlag. »Was steht da drin?«

Eigentlich wollte ich ihn erst gar nicht entgegen nehmen, aber dann geriet ich ins Zögern.

»Keine Ahnung. Ich habe ihn nicht gelesen. Ich bin nur der Bote.«

Langsam griff ich nach dem Umschlag.

Ricardo ließ das Papier sofort los, peinlichst darauf bedacht, dass unsere Hände sich nicht berührten.

Mann, der ist ja schlimmer, als ein scheues Reh.

»Ich gehe dann«, erklärte er und machte bereits Anstalten, sich von mir abzuwenden. In letzter Sekunde hielt er jedoch inne und sah mich noch einmal an.

»Weißt du, Tony, manchmal brauchen wir eine zweite Chance, weil die erste zu früh kam.«

Mit diesen Worten drehte er mir den Rücken zu und stieg die Stufen hinab.

Ricardos Worte hallten in meinem Ohr wider, breiteten sich in meinem Kopf aus und benebelten meinen Verstand, während ich mich gleichzeitig an Jonas wüstes Geständnis erinnerte.

Das wäre ja, als würde ich meine eigene Schwester ficken
Tony bedeutet mir viel, aber so viel nun auch wieder nicht.
Die Einzige, die ich jemals geliebt habe, war Amelia.

Sie kollidierten mit Ricardos Zitat.

Weißt du, Tony, manchmal brauchen wir eine zweite Chance, weil die erste zu früh kam.

»Hey!«, rief ich Ricardo hinterher und erhob mich. Er war fast am Fuße der Treppe angekommen, als er meinen Ruf hörte und sich noch einmal umdrehte. Seine Augen waren klar. Wachsam. Alles an ihm strahlte eine tiefe Ernsthaftigkeit aus. So ganz anders, als bei Jona.

»Du sprichst von zweiten Chancen. Würdest du denn den Romeros, deinen Eltern, eine zweite Chance geben?«, fragte ich neugierig und beobachtete jede seiner Gefühlsregungen.

Ein trauriger Ausdruck breitete sich auf seinem schönen Gesicht aus, das mir so schmerzlichst vertraut war und wieder nicht.

»Das tue ich jeden Tag aufs Neue.«

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