Kapitel 29
Songempfehlung: Conan Grey - Yours
Eine Stunde später kam ich am Logan International Airport in Boston an und wartete darauf, dass der Flieger eintraf, der mich nach Hause bringen würde.
Nochmal zwei Stunden später saß ich schließlich in den bequemen, braunen Ledersitzen von Moms und Dads Privatjet und starrte aus dem kleinen, ovalen Fenster. Ich beobachtete, wie der Flughafen von Boston immer kleiner wurde, bis er nur noch der Hauch einer Erinnerung war. Häuser, Bäume, ja ganze Dörfer und Städte wurden so winzig wie Ameisen, bis sie schließlich von einem Kleid aus Wolken verschluckt wurden. Ich wünschte, das gleiche würde auch mit meinen Problemen passieren. Mit meiner Trauer. Meinem Liebeskummer. Ich wünschte, die vielen glücklichen Momente, die ich mit diesem kurzweiligen, aber dennoch sehr intensiven Urlaubstrip verband, könnten genauso verschwinden. Jener Urlaubstrip, der Hals über Kopf in einem absoluten Desaster geendet hatte.
Für ein paar Tage hatte ich wirklich geglaubt, dass das Glück auf meiner Seite war. Dass sich das Schicksal endlich fügte. Dass sich alles zum Guten wandte.
Doch das genaue Gegenteil war passiert. Niemals hätte ich geglaubt, mich einer solch bösen Überraschung gegenüberzusehen. Dass sich mein Leben innerhalb weniger Minuten so drastisch ändern würde.
Erneut brannten meine Augen und wütend wischte ich mir die Tränen weg, die beim Gedanke an Jona immer wieder aufkamen.
Der Flug dauerte knappe drei Stunden. Ich hatte also drei Stunden Zeit, mich in meinem Elend und meinem Selbstmitleid zu suhlen.
Drei Stunden, um mir zu überlegen, was ich meiner Mom erzählen sollte.
Und immer wieder fragte ich mich, was eigentlich in mich gefahren war. Wie zum Teufel ich bloß auf diese bescheuerte Idee gekommen war, Zuflucht in Hinsdale zu suchen! Ich befand mich auf dem Weg zu meiner Mom. Meiner Mom. Meiner Mom, die mich noch nie hatte ausstehen können. Die mich beleidigt hatte und verhöhnte. Die mich noch nie akzeptiert hatte. Die versuchte, eine Person aus mir zu machen, die ich nicht war.
Doch leider saß ich nun in einem Flugzeug. Tausende von Fuß über dem Boden. Es gab keinen Ausweg mehr. Ein Rückzieher war unmöglich. Und so landete ich drei Stunden später am Flughafen von Chicago, wo mich auch schon Charles - Moms Fahrer - in Empfang nahm.
»Miss Carpell«, er tippte sich einmal an seinen Hut und nickte mir freundlich zu. Ich bewunderte Charles für seine Souveränität. Ich hatte vorhin auf der Flughafentoilette schon bemerkt, dass mein Gesicht gerötet war vom Weinen. Meine Augen geschwollen. Ich musste ein furchtbares Bild abgeben. Doch Charles ließ sich absolut nichts anmerken und hielt mir sogar die Tür des SUVs auf, als wäre ich die Queen höchstpersönlich.
Die Fahrt nach Hinsdale dauerte nur zwanzig Minuten und so stand ich schon kurze Zeit später mit meinem Koffer und einem gebrochenen Herzen vor meinem Elternhaus. Vor dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Das Haus, mit dem ich so viele schöne, aber auch traurige Erinnerungen verband. Das Haus, in das ich mir geschworen hatte, nie mehr zurückzukehren. Tja, wer hätte gedacht, dass Mom doch Recht behielt? Ich jedenfalls nicht. Um ehrlich zu sein wusste ich nicht, was ich hier eigentlich tat. Ich war einfach einem inneren Instinkt gefolgt. Und dieser Instinkt hatte mir geraten, nach Hause zu kommen. Nach Hause, wo ich aufgewachsen war. In eine gewohnte Umgebung. Nach Hause zu der Familie, die mir eigentlich nie eine war, aber trotzdem auf gewisse Weise tröstlich erschien.
Ich erwartete bereits, dass Mom mich in der Eingangshalle empfangen würde. Doch es fehlte jede Spur von ihr. Also schleppte ich mühsam meinen Koffer nach oben in den ersten Stock, wo sich mein früheres Zimmer befand.
Ich öffnete die Tür, trat ein paar Schritte ein und blieb wie angewurzelt stehen.
Es hatte sich nichts verändert.
Absolut nichts.
Dieselben grünen Wände, der hölzerne Dielenboden. Das große King Size Bett in der Mitte. Selbst an der Tür zu meinem Schrank waren noch immer die Kugelschreiberstriche, mit denen Aiden im Kindesalter meine Größe gemessen hatte. Jedes Mal einen Zentimeter mehr. Mom war außer sich gewesen vor Wut, als sie sah, dass wir die Wand anmalten. Unwillkürlich musste ich lächeln bei der Erinnerung.
Wow. Ein Fortschritt. Es war das erste Lächeln, seit dem Vorfall letzte Nacht.
»Hallo Antonia«, eine bekannte Stimme ließ mich innehalten.
Meine Schultern verspannten sich und ich nahm einen tiefen Atemzug, ehe ich mich umdrehte und in Moms Augen schaute.
Sie trug einen blauen Hosenanzug mit hochhackigen Pumps, was ihrem schlanken Körper äußerst schmeichelte. Das rote Haar war wie immer zu einem strengen Knoten frisiert und ließ ihr Gesicht noch ernster wirken, als es so schon der Fall war. Mom war schön. Sie war wirklich schön. Doch sie hätte noch schöner sein können, wenn ihr Charakter nicht so schrecklich vergiftet gewesen wäre. Vergiftet von all dem Erfolg, der Macht und dem Geld, das für sie immer an erster Stelle gestanden hatten. Aber aus einem mir unerfindlichen Grund überkam mich unwillkürlich ein Hauch von Sehnsucht. Eine Wehmut, auf die ich keineswegs vorbereitet war.
Zum ersten Mal seit langer langer Zeit wünschte ich mir nichts mehr, als dass Mom für mich da war. Dass sie mich in den Arm nahm und mich tröstete. Dass sie mir sagte, dass alles gut würde. Ich wusste nicht, woher dieser absurde Wunsch in mir kam. Vielleicht lag es schlicht und ergreifend an der Tatsache, dass sie nun einmal meine Mom war. Ganz gleich, ob sie in ihrer Aufgabe als Mutter versagt hatte.
Zwischen ihren perfekt gezupften Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte, als ihr wachsamer Blick über mich hinwegglitt. Ermittelnd. Kritisch.
»Du hast geweint«, stellte sie fest und trat ein paar Schritte in den Raum hinein. Anmutig wie eine Raubkatze.
»Das fällt dir tatsächlich auf?«, stichelte ich. »Für gewöhnlich interessiert dich so etwas nicht.«
Mom schnaubte abfällig, während ihre Augen das Zimmer in Augenschein nahmen. Ich folgte ihrem Blick.
»Du hast das Zimmer gar nicht verändert«, stellte ich erneut fest.
»Nein, das habe ich nicht«, entgegnete Mom und ließ ihre Hände über einige meiner alten Portraits wandern, die an der Wand gelehnt standen. Es waren Bilder vom Sternenhimmel.
»Warum nicht?«, wollte ich wissen. Ich war wirklich neugierig. Eigentlich hatte ich angenommen, dass Mom das Zimmer sicherlich zu irgendetwas Nützlichem umfingiert hätte. Einem Salon oder einem Musikzimmer oder sowas.
»Vielleicht hatte ich die Hoffnung, dass meine Tochter nochmal zurückkommt«, gestand sie leise, ohne den Blick von meinen Bildern zu nehmen.
Tochter.
Mom nannte mich wieder ihre Tochter.
An dem Abend bei den Romeros, als ein schrecklicher Streit zwischen uns ausgebrochen war, hatte sie mir klipp und klar gesagt, dass ich nicht mehr ihre Tochter sei.
Unwillkürlich fragte ich mich, was sich seither wohl geändert hatte, dass sie mich nun doch wieder als ihre Tochter bezeichnete? Schließlich hatte sie mir nicht einmal richtig gratuliert gehabt an meinem Geburtstag gestern. Zwar hatte Dad angerufen und mir im Namen der beiden seine Glückwünsche ausgesprochen, aber mit Mom persönlich hatte ich nicht gesprochen...
Krampfhaft überlegte ich, was ich ihr antworten sollte. Immerhin war ich ja zurückgekommen. Jedoch nicht aus dem Grund, den sie womöglich annahm. Den Grund, auf den sie hoffte.
»Ich bin nicht zurückgekommen, um das Studium fortzusetzen oder um mich euren Zukunftsvorstellungen zu beugen«, stellte ich sofort klar, um jegliche Missverständnisse zu unterbinden.
Kurz herrschte Schweigen zwischen uns.
Dann stieß Mom ein Seufzen aus.
»Das ist mir klar, Antonia.«
»Ach ja?«, überrascht hielt ich inne und starrte auf ihren Hinterkopf. Langsam drehte sie sich zu mir um. Aus ihren grünen Augen schaute sie mich eindringlich an.
»Du bist der dickköpfigste Mensch den ich kenne, Antonia. Aber...«, sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Das hast du wohl von mir.« Der Anflug eines Lächelns huschte über Moms Lippen und verlieh ihrem Gesicht eine Sanftheit, die ich noch nie an ihr gesehen hatte.
Kurz dachte ich über ihre Worte nach. Sehr zu meinem Unmut musste ich ihr jedoch Recht geben, auch wenn ich von dem Gedanken, dass ich meiner Mom in irgendeiner Weise ähnelte, nicht besonders angetan war.
Mom schritt langsam zu dem Bett, das in der Mitte des Zimmers stand und setzte sich. Anmutig überschlug sie die Beine und schlang ihre Hände um ihr Knie.
Sie wirkte völlig fehl am Platz in diesem verträumten, unordentlichen Zimmer. Wie eine Adlige, die sich in der Unterschicht bewegte. Wie eine Königin unter ihren Untertanen.
»Setz dich und erzähl mir, was passiert ist«, mit einem leichten Nicken deutete sie auf den Platz neben sich.
Um ein Haar hätte ich laut aufgelacht.
Dieses Aufeinandertreffen war so ganz anders, als ich es mir während des Fluges ausgemalt hatte. Irgendwie verhielt Mom sich anders. War es weil man mir ansah, dass es mir nicht besonders gut ging? Hatte Aiden sie womöglich schon darüber informiert, was sich in den Hamptons zugetragen hatte? Oder lag es an unserem letzten Zusammentreffen bei den Romeros, weshalb Mom plötzlich so weich und zutraulich wirkte?
Mein Misstrauen war jedenfalls geweckt.
Nichtsdestotrotz lief ich langsam auf sie zu und ließ mich neben ihr auf dem Bett nieder. Es fühlte sich seltsam an mit meiner Mom so nebeneinander zu sitzen.
Eine ganze Weile lang saßen wir da und starrten Löcher in die Luft. Betrachteten mein Zimmer, als sei es das Interessanteste, das wir jemals zu Gesicht bekommen hatten.
»Ich habe Mist gebaut«, flüsterte ich irgendwann leise und spürte, wie mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Und plötzlich, als hätte sich einfach ein Schalter in mir umgelegt, begann ich zu erzählen. Ich erzählte Mom davon, wie lange ich schon in Jona verliebt war. Ich erzählte ihr von meinem Wunsch auf eigenen Beinen stehen und meinen Traum verfolgen zu wollen. Ich erzählte ihr, wie Jona und ich uns plötzlich nähergekommen waren. Dass Aiden nichts davon gewusst hatte. Ich erzählte ihr von meinen neuen Freundinnen, davon, wie toll die Mädels waren. Ich erzählte ihr aber auch von dem Urlaub in den Hamptons. Erzählte ihr, wie glücklich ich für ein paar kurze Tage gewesen war, bis ich ihr schließlich von dem großen Schrecken letzte Nacht erzählte.
Es dauerte auch nicht lange, bis ich in Tränen ausbrach. Bis bitterliche Schluchzer meiner Kehle entwichen. Es fühlte sich an, als würde eine riesengroße Last von mir abfallen. Eine Last, die ich seit heute Nacht mit mir herumgetragen hatte. Und seltsamerweise war meine Mom die Einzige, der ich mich öffnen konnte. Die Einzige, der ich mich öffnen wollte. Und das, obwohl sie so schrecklich zu mir gewesen war. Vielleicht war das irgendeine verkorkste Angewohnheit von mir. Wie bei Jona. Ich wollte immer die Menschen an meiner Seite, die ich nicht haben konnte. Die Menschen, die mich nicht haben wollten.
Wie ich sagte - verkorkst eben.
Mom sprach die ganze Zeit über keinen Ton.
Gar nichts.
Sie hörte mir einfach nur zu.
Und dann, als ich mit meinem Monolog endete und bereits glaubte, dass sie jeden Moment ausholen würde, um mir den Todesstoß zu verpassen, um mir den Dolch mitten ins Herz zu stechen, überraschte sie mich.
Denn sie tat nichts dergleichen.
Stattdessen legte sie mir eine Hand um die Schultern und zog mich an sich.
Ja, richtig gehört.
Meine Mom zog mich an sich.
Diese kleine Geste sorgte dafür, dass ich nur noch mehr heulen musste.
»Es tut mir so leid, Tony«, hörte ich sie flüstern und als wäre all das nicht schon absurd genug, begann sie auch noch beruhigende Kreise auf meinen Rücken zu malen.
Während ich noch von heftigen Schluchzern gepackt wurde, lehnte ich mich ein Stück zurück und sah ihr in die grünen Augen, die meinen so sehr glichen.
»W-warum b-bist du s-so nett?«, fragte ich aufgelöst und war ehrlich gespannt darauf, was sie wohl antworten würde.
Wieder stieß Mom ein Seufzen aus, dann formten ihre kirschroten Lippen sich zu einem traurigen Lächeln.
»Ich mag vieles sein. Eine erbarmungslose Geschäftsfrau. Eine Egoistin. Eine schlechte Mutter.«, führte sie leise auf. »Aber ich bin kein Unmensch.«
Ihre Worte berührten etwas tief in meinem Innern. Auch wenn sie all das, was sie mir angetan hatte, nicht wiedergutzumachen konnten.
»Heißt das, dass du meine Kunst und mein Leben jetzt akzeptierst?«
Mom hob eine Augenbraue und sah von oben auf mich herab.
»Das habe ich nicht gesagt.«
Ich runzelte abfällig die Stirn.
»Aber«, fuhr sie fort. »Ich habe mit meiner Therapeutin gesprochen und sie hat mich darauf hingewiesen, dass du deine eigenen Erfahrungen machen musst. Ich würde es ja eher als Fehler statt Erfahrungen bezeichnen, die du da begehst, aber...«
»Du gehst zur Therapie?«, kam es überstürzt über meine Lippen. Aus großen Augen sah ich sie an. »Seit wann?«
»Seit einigen Wochen«, erwiderte Mom und warf mir einen spitzen Blick zu. »Und sieh mich nicht so an! Ich habe mir sagen lassen, dass das etwas ganz Normales sei in der heutigen Gesellschaft. Ich würde mir dennoch wünschen, dass du das nicht an die große Glocke hängst und...«
»Mom!«, stieß ich atemlos aus. »Ich finde es ganz toll, dass du das machst.«
Mom räusperte sich verlegen und wandte den Blick ab.
»Vielleicht wäre es auch eine Option für dich, Antonia«, schlug sie vor. »Vielleicht würde es dich endlich zur Vernunft bringen, sodass du dein Studium wieder aufnimmst und...«
»Mom«, fiel ich ihr forsch ins Wort und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Bitte lass uns jetzt nicht schon wieder darüber streiten, ja?«
Mom seufzte resigniert. »Na schön.«
Wieder entstand eine betretene Stille zwischen uns. Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen und einfach nur ins Leere blickten. Doch irgendwann wagte ich es, die Stille zu durchbrechen.
»Mom?«
»Ja?«
»Haben wir gerade so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen?«, fragte ich vorsichtig und wagte es, sie anzuschauen. Ihr Gesicht war undurchdringlich, aber sie nickte verhalten.
»Ich schätze, das haben wir.«
Wir schauten uns in die Augen und langsam aber sicher schlich sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. Mom erwiderte es zwar nicht, aber das brauchte sie auch nicht. Ich wusste auch so, dass sie sich auf ihre eigene, verschrobene Art und Weise darüber freute.
»Nun gut, ich muss wieder meinen Geschäften nachgehen. Du kannst hier bleiben, so lange du möchtest«, hörte ich sie sagen und einen Moment später erhob sie sich von meinem Bett. Sie strich sich ihren Hosenanzug zurecht und fegte imaginäre Fussel weg, als wäre ihre Kleidung von dem alleinigen Verweilen in meinem Zimmer dreckig geworden.
Ich hob eine Braue, verkniff mir jedoch jegliche spitze Bemerkungen.
Mit einem geschmeidigen Hüftschwung stöckelte sie zurück zur Tür, hielt allerdings im Türrahmen noch einmal inne und wandte sich mir zu.
»Übrigens, Jonathan Romero ist ein Vollidiot«, mit diesen Worten verließ sie mein Zimmer und ließ mich alleine zurück.
Bei ihren Worten machte mein Herz einen gewaltigen Satz. Nicht etwa, weil sie mir damit indirekt ein Kompliment gemacht hatte, sondern weil mich ihre Worte sofort wieder an den unschönen Vorfall letzter Nacht erinnerten.
Doch so sehr mich der Gedanke an Jona auch schmerzte, Mom hatte Recht.
Jona war ein Vollidiot.
Er hatte mich nicht verdient.
Ich hatte ihm alles gegeben. Ausnahmslos alles.
Ich hatte ihm meine Liebe geschenkt. Meine Jungfräulichkeit. Mein Herz.
Und er hatte es nicht zu schätzen gewusst. Hatte es mit Füßen getreten. Es zerstört.
Stattdessen trauerte er einer anderen Frau nach, die ihn nicht wollte. Einer Frau, die ihm das Herz gebrochen hatte.
Und in dieser Sekunde. In diesem Raum. In meinem alten Kinderzimmer, schwor ich mir keine Tränen mehr zu vergießen. Ich würde niemals wieder eine Träne für Jonathan Romero vergießen.
☆
Ein paar Tage später rief mich Milo an.
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihn wegzudrücken, da ich absolut keine Nerven hatte, mich mit irgendjemandem außer mir selbst auseinanderzusetzen, aber ich bekam es nicht übers Herz und so nahm ich den Anruf entgegen. Milo erzählte mir, dass sie einen Tag nach dem Vorfall ebenfalls nach Hause gefahren waren. Er hatte mir berichtet, dass die Stimmung im Keller gewesen sei und niemand mehr wirklich Lust auf den Urlaub hatte. Verständlicherweise.
Irgendwie beschlichen mich noch immer Gewissensbisse, dass ich so überstürzt aufgebrochen war. Dass ich nicht wie geplant mit meinen Freundinnen zurückgefahren war. Doch ich hatte Zeit für mich gebraucht. Ich hätte keine fünfzehnstündige Gesellschaft ertragen können in meinem Kummer. Manche Leute brauchten in solch einer Situation Ablenkung. Freunde. Gespräche. Ich hingegen zog es vor, mich zurückzuziehen. Ich gehörte zu der Sorte Mensch, die das Erlebte erst einmal für sich selbst verarbeiten mussten, ehe sie sich anderen öffneten.
Milo berichtete mir unaufgefordert, dass Jona eine gebrochene Nase und eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte. Außerdem war Aiden bei den Mädels im Auto mitgefahren, da er sich weigerte, mit Jona in einem Wagen zu sitzen. Er hatte ihm wirklich übel mitgespielt. Doch ich gab mir alle Mühe, kein Mitleid für Jona zu empfinden. Ich gab mir allgemein große Mühe, überhaupt nichts mehr für ihn zu empfinden. Auch wenn ich kläglich scheiterte.
»Tony...«, Milo schlug einen sanfteren Tonfall an. »Möchtest du uns nicht erzählen, was passiert ist? Was ist vorgefallen zwischen euch drei? Hat Jona irgendetwas gesagt oder getan, das dich verletzt hat oder warum bist du so plötzlich abgereist? Er ist total fertig, Tony.«
Wieder einmal fiel mir ein, dass die anderen gar nicht mitbekommen hatten, was sich kurz vor ihrem Auftauchen zwischen Aiden, Jona und mir abgespielt hatte. Sie hatten nicht den blassesten Schimmer davon, was Jona gesagt hatte. Was er mir angetan hatte...
Das wäre ja, als würde ich meine eigene Schwester ficken
Tony bedeutet mir viel, aber so viel nun auch wieder nicht.
Die Einzige, die ich jemals geliebt habe, war Amelia.
Jonas Worte hatten sich in mein Hirn gebrannt. Ich erlebte sie immer und immer wieder und je öfter ich an sie dachte, desto größer wurde der Zorn in mir. Die Trauer. Die Fassungslosigkeit.
Nein. Ich war noch nicht bereit, darüber zu sprechen. Ich brauchte Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit zum Verstehen. Zeit zum Heilen.
»Ich werde es euch erzählen, das verspreche ich. Aber ich bin noch nicht bereit dazu. Gib mir noch ein paar Tage, okay?«, meine Stimme zitterte, aber ich riss mich zusammen, um nicht zu weinen. Ich hatte mir ein Versprechen gegeben und daran würde ich mich halten. Jonathan Romero war keine einzelne Träne mehr wert.
»Okay«, Milo seufzte laut.
»Erzähl mir lieber, wie es mit Ben läuft«, versuchte ich vom Thema abzulenken.
Kurz herrschte Stille in der Leitung.
Dann ließ Milo die Bombe platzen.
»Wir haben Schluss gemacht.«
»Wie bitte?«, stieß ich geschockt aus und mit einem Mal erhob ich mich von meinem Stuhl. »Warum? Ich werde ihn umbringen, ich werde...«
»Tony«, ermahnte Milo mich dazu, Ruhe zu bewahren. »Ich war derjenige, der Schluss gemacht hat.«
Mitten in der Bewegung hielt ich inne, meine Augenbrauen schossen überrascht nach oben zu meinem Haaransatz.
Milo hatte Schluss gemacht?
Ich verstand die Welt nicht mehr. Milo war doch so verliebt gewesen! Er hatte unablässig von Ben geschwärmt. Hatte es kaum abwarten können, ihn wiederzusehen. Was zur Hölle war passiert und wieso erfuhr ich erst jetzt davon? War ich so sehr von meinen eigenen Dramen eingenommen gewesen?
Noch ehe ich nachhaken konnte, begann Milo wieder zu reden.
»Es war keine leichte Entscheidung, Tony. Aber es war an der Zeit, dass ich für mich selbst einstehe. Dass ich beginne, an mir zu arbeiten und mich nicht mehr von meinen Partnern abhängig mache«, Milo hielt kurz inne. »Und ich denke, ich kann nur lernen, mir selbst wieder zu vertrauen, wenn ich eine Zeit lang alleine bin. Keine Liebe vorerst. Ich muss es schaffen, alleine klarzukommen und mich selbst wieder zu lieben. Verstehst du?«
Milos Worte trieben mir schließlich doch noch die Tränen in die Augen.
Meinen besten Freund so reden zu hören, war unfassbar schön und traurig zugleich. Noch nie zuvor hatte ich so wahre und doch so schwerfällige Worte gehört. Also sagte ich das Einzige, was mir in diesem Moment in den Sinn kam.
»Oh Milo«, brach es über meine Lippen. »Ich bin so stolz auf dich, weißt du das?«
Ich brauchte Milo nicht zu sehen, um zu wissen, dass er breit lächelte.
»Das habe ich dir zu verdanken, Tony. Du warst immer für mich da. Hast mich nicht aufgegeben, weißt du? Und egal wie viel Scheiße ich durchgemacht habe, du hast sie dir immer angehört, hast versucht mich aufzubauen und mir gesagt, dass ich endlich an mich selbst glauben soll«, erneut hielt Milo kurz inne und schwieg bedeutungsvoll, ehe er weitersprach. »Jetzt ist es meine Aufgabe, dir das beizubringen.«
»Es mir beizubringen?«, fragte ich verblüfft. »Wie meinst du das?«
»Genau so, wie ich es gesagt habe, Tony. Für dich gab es immer nur Jona. Du warst so auf ihn fokussiert, dass er zu einem Teil deiner Persönlichkeit geworden ist. Du musst versuchen, dein eigenes Leben zu leben. Ihn loszulassen. Nur dann kannst du entdecken, wer du wirklich bist. Und ob ihr wirklich eine Chance miteinander habt.«
Ich sog scharf die Luft ein, während Milos Worte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken jagten.
»Wann bist du so schlau geworden, Milo?«, fragte ich spielerisch, um die innere Unruhe in mir zu überspielen. Milo lachte laut.
»Hör auf abzulenken.«
Grimmig verzog ich das Gesicht.
Er kannte mich viel zu gut.
»Mit dem ersten Teil hast du Recht. Ich muss herausfinden, wer ich ohne Jona bin. Aber zu dem zweiten Teil...«, ich stockte kurz. »Für Jona und mich gibt es keine Chance mehr.«
»Bist du dir sicher?«, hakte Milo ehrlich betroffen nach.
»Ja«, antwortete ich mutlos und diese Worte endlich auszusprechen, ließ mein Herz noch einmal zerbrechen. »Jona und mich gibt es nicht mehr.«
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