Kapitel 28
Songempfehlung: Loveless - Middle of the Night
Jona und ich verbrachten die Nacht im Poolhaus. Wir schliefen im ersten Stock, wo sich ein zusätzliches Schlafzimmer befand. Arm in Arm und bestehend aus einem Knoten von Gliedmaßen waren wir gemeinsam ins Land der Träume gefallen. Und ich stellte fest, dass ich noch nie in meinem Leben so glücklich gewesen war. So zufrieden. So verliebt. Nicht einmal in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir ausgemalt, heute mit Jona so dazuliegen.
Meine Augen wanderten über ihn hinweg. Im Schlaf wirkte er so viel jünger. Weicher. Sanfter. Unwillkürlich begann ich mich zu fragen, ob es Jona genauso ging, wie mir. Ob er dasselbe für mich empfand, wie ich für ihn. Er hatte mir niemals gesagt, was genau er für mich empfand. Ob es Liebe war oder womöglich eine Vorstufe dessen. Jona hatte mir lediglich mitgeteilt, dass er Gefühle für mich besaß. Dass er bereit war, es mit mir zu versuchen. Wenngleich ich nicht hundertprozentig wusste, woran ich bei ihm war, so übte ich mich in Geduld. Ich musste ihm die Zeit geben, die er brauchte, um mit seinen Gefühlen für mich zurechtzukommen. Bekanntlich benötigte Jona ja für alles etwas länger. Zumindest was die Liebe betraf.
Mein Bauch kribbelte aufgeregt beim Gedanken daran.
Nachdem wir schon früh im Morgengrauen aufwachten und erneut übereinander herfielen, schlüpften wir nun wieder in unsere Kleidung und wollten uns zurück zum Anwesen schleichen, ehe jemand Notiz von unserer Abwesenheit nahm.
Meinen Freundinnen gegenüber hatte ich keinerlei Gewissensbisse. Ich würde ihnen ohnehin erzählen, was passiert war und für Roxy war es sicherlich auch alles andere als ein Weltuntergang, das Bett eine Nacht lang für sich alleine zu haben. Bei Jona allerdings, der sich ein Zimmer mit meinem Bruder teilte, war das schon etwas kniffliger. Sollte Aiden seine Abwesenheit aufgefallen sein, so musste Jona ihm unbedingt eine Ausrede auftischen. Aus diesem Grund gingen wir auch nacheinander und in kurzen Abständen zurück zum Haus. Jona ging voraus und ich würde ein paar Minuten später folgen. Nur zur Sicherheit.
Ich verspürte Schuldgefühle.
Furchtbare Schuldgefühle.
Ich hinterging meinen Bruder auf richtig üble Weise.
Doch mir blieb keine andere Wahl. Der Urlaub war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um Aiden einzuweihen. Um ihm die Wahrheit zu gestehen. Wir würden alles ruinieren. Denn es stand außer Frage, dass Aiden ausrasten würde. Dessen war ich mir sicher.
Nach einem kurzen Blick auf meine Armbanduhr erhob ich mich, schlang mir die dicke Winterjacke um die Schultern und machte mich auf den Weg zurück zur Villa.
Ich hastete durch den eiskalten Wind und die Auffahrt entlang. Der Boden war gefroren und ich hatte alle Mühe darauf zu achten, nicht auszurutschen.
Schnell schlüpfte ich durch die Haustür, die Jona extra angelehnt hinterlassen hatte und trat in das Innere des Hauses. Eine kuschlige Wärme umhüllte mich, kroch in meine Knochen und wärmte meine durchgefrorenen Glieder. Auf leisen Sohlen schlich ich die Treppen hinauf und bog in den Flur, auf dem sich mein Zimmer befand. Ich kam gerade an Jonas und Aidens Zimmer vorbei, als ich bemerkte, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch den Türspalt und gedämpfte Stimmen drangen an mein Ohr.
Jona und Aiden unterhielten sich.
Abrupt blieb ich stehen. War mein Bruder etwa noch wach? Oder hatte Jona ihn mit seinem Auftauchen aus dem Schlaf gerissen? Neugierig trat ich ein paar Schritte an die Tür heran und spitzelte hinein.
Jona stand mit dem Rücken zu mir. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt, die Schultern hochgezogen, die Hände zu Fäusten geballt. Es war nicht zu übersehen, dass Jona sich unwohl fühlte.
Aiden hingegen saß auf dem Bettrand. Er war barfuß und trug T-Shirt und eine Schlafhose, woraus ich schloss, dass er wohl schon im Bett gewesen war. Auch er schien aufgewühlt zu sein. Doch als ich in sein Gesicht sah, hielt ich instinktiv den Atem an.
Aidens Gesicht war... nicht Aiden. Es war eine eiskalte, leere Maske. Aus Augen, in denen ein Eissturm hätte toben können, schaute er zu Jona hoch.
»Ich frage dich jetzt noch ein letztes Mal«, Aidens Stimme war so frostig, wie die Antarktis. »Wo.Warst.Du?«
»Bro, was ist dein Problem?«, Jona warf die Hände in die Luft. »Ich habe dir doch bereits gesagt, dass ich noch in der Stadt war und...«
»Bullshit!«, Aiden spritzte vom Bett auf und ging wutentbrannt ein paar Schritte auf Jona zu. Jona zuckte erschrocken zusammen. Die beiden standen sich nun so dicht gegenüber, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. Sie waren fast gleich groß.
»Warst du mit Tony unterwegs?«, verlangte Aiden zu wissen. Dieses Mal war seine Stimme gefährlich ruhig geworden. »Was geht da zwischen euch?«
Bei diesen Worte rutschte mir das Herz buchstäblich in due Hose.
»Was? Aiden, Mann, wovon sprichst du? Ich...«, versuchte Jona sich herauszureden, aber Aiden ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. Nein, mein Bruder zeigte keinerlei Erbarmen und nahm Jona in die Mangel. Plötzlich legte Aiden beide Hände an Jonas Brust und stieß ihn einen guten Meter von sich weg. In diesem Moment erinnerte er mich an Mom. Er hatte denselben eiskalten Blick, wie sie.
»Verkauf mich nicht für dumm, du Arschloch! Denkst du ich merke nicht, wie du sie ansiehst? Wie du sie an unserem ersten Tag hier im Pool angefasst hast? Dann deine Überraschung gestern Mittag und rein zufällig wart ihr die letzten, die noch am Lagerfeuer gesessen habt. Und dann wart ihr beide verschwunden. Die ganze Nacht.«
»Aiden ehrlich, ich war unterwegs und...«
»Verfluchte Scheiße!«, brüllte Aiden wütend und ging wieder einen Schritt auf Jona zu. Wild fuchtelte er mit einem Zeigefinger vor Jonas Gesicht herum. »Du weißt genau, dass sie schon in dich verknallt ist, seit sie denken kann. Du hast mir versprochen, dass du die Finger von ihr lässt!«
»Aiden, zwischen Tony und mir ist nichts, ich versichere dir...«
»Hast du sie gefickt?«, Wieder wurde Aidens Stimme bedrohlich leise. Sie glich beinahe einem Flüstern und ich hielt ängstlich den Atem an.
»Wie bitte?«, hörte ich Jona empört sagen.
»Du hast richtig gehört«, Aidens Gesicht war glühend rot vor Zorn. »Hast du meine kleine Schwester gefickt?«
Ich rechnete bereits damit, dass Jona Aiden nun ordentlich die Meinung geigen würde. Dass er meine Ehre verteidigen und ihm sagen würde, dass er nicht auf diese Art und Weise über uns reden sollte. Über mich reden sollte. Über seine eigene Schwester.
Jona und ich hatten nicht nur gefickt.
Wir hatten uns geliebt.
Uns ineinander verliebt.
Wir gehörten zusammen.
Und Jona würde das meinem Bruder versichern. Er würde ihn beruhigen und ihm erzählen, was er für mich empfand. Aiden wäre womöglich noch eine ganze Zeit lang furchtbar wütend, angepisst und enttäuscht, doch er würde sich wieder einkriegen, sobald er begriff, dass das zwischen Jona und mir etwas Ernstes war. Dass wir einander brauchten. Uns liebten.
Doch stattdessen sagte Jona etwas, womit ich niemals gerechnet hätte.
Er sagte etwas, dass mich auf der Stelle zu Eis gefrieren ließ.
»Spinnst du? Das wäre ja, als würde ich meine eigene Schwester ficken«, ein hysterisches Schnauben entrang sich Jonas Kehle. »Tony bedeutet mir viel, aber so viel nun auch wieder nicht. Die Einzige, die ich jemals geliebt habe, war Amelia und das weißt du.«
Dies war der Moment, in dem etwas in mir zerbrach.
Der Moment, in dem mein Herz brach.
Keine Ahnung, ob Jona es nur so dahinsagte, um nicht aufzufliegen. Um den Urlaub nicht zu ruinieren. Um den Schein zu wahren. Oder aber schlicht und ergreifend nur aus Angst.
Angst vor Aiden.
Angst vor seinen Gefühlen.
Angst vor mir.
Doch ganz gleich, was seine Beweggründe waren, der letzte Satz hallte noch immer in meinen Ohren wider.
Die Einzige, die ich je geliebt habe, war Amelia und das weißt du.
Jonas Worte brannten sich in mein Gehör. Liefen dort auf Dauerschleife und schienen mich zu verhöhnen. Sie erinnerten mich daran, dass ich nicht mehr für ihn war, als die kleine Schwester seines besten Freundes. Die kleine Schwester, die er so gern hatte, um sie zu ficken, aber nicht gern genug, um sie zu lieben. Ja, seine Worte verletzten mich. Sie zerstörten etwas in mir und ließen die Hoffnung, die sich in meinem Inneren eingenistet hatte, im Nu zerplatzen wie eine Seiffenblase.
Mir drehte sich der Magen um und die Galle kam mir hoch. Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
Jona stand nicht zu mir.
Er verleugnete mich.
Nein, er verschmähte mich.
Jona wollte mich nicht.
Er empfand nicht das Gleiche, wie ich.
Ein seltsamer Laut entrang sich meiner Kehle und noch ehe ich es verhindern konnte, schossen Aidens und Jonas Köpfe in meine Richtung. Sie erkannten mich durch den Türschlitz.
»Tony?«, Aiden verengte die Augen zu engen Schlitzen, während Jona zur Salzsäule erstarrte. »Was machst du denn hier?«
Wie in Trance hob ich die Hand und stieß die Tür ein kleines Stückchen weiter auf, sodass ich den beiden Männern nun gegenüberstand.
Aiden schien erneut etwas zu mir zu sagen, aber ich nahm es gar nicht wahr. Mein Blick ruhte auf Jonas Gesicht, das einer Maske des puren Schockes glich. Gemischt mit einer Spur Zerknirschung.
»Tony, ich...«, erhob er die Stimme und machte Anstalten einen Schritt auf mich zuzukommen. Schlagartig hob ich die Hand und bedeutete ihm, stehen zu bleiben.
Ich konnte seine Nähe jetzt nicht ertragen.
Ich wollte sie nicht.
Nie wieder.
»Als würdest du deine eigene Schwester ficken?«, wiederholte ich Jonas Worte. »Und Amelia? Ernsthaft?«
»Tony«, Jonas Körper versteifte sich und glich einer Metapher purer Reue. »Ich habe das nicht so gemeint, ich...«
»Was soll das heißen?«, mischte Aiden sich wieder lautstark ein. »Also hattet ihr etwas miteinander oder was?«
Niemand von uns beiden schenkte Aiden groß Beachtung. Wir ließen ihn völlig links liegen, obwohl Aiden eigentlich der Grund dafür war, dass wir uns beide hier befanden. Dass wir in dieser Situation gelandet waren. In diesem Schlamassel.
Plötzlich überfiel mich eine unbändige Wut. Sie fand ihre Wurzeln tief in meinem Herzen, breitete sich in meinem ganzen Körper aus wie Gift, ehe sie sich in meinem Magen zu einem trostlosen, kalten Klumpen formte.
»Das ist es also, was du für mich empfindest?«, meine Stimme triefte nur so vor Fassungslosigkeit.
»Tony, nein, du verstehst das falsch. Ich habe es nicht so gemeint ich...«, gehetzt warf Jona Blicke zwischen Aiden und mir hin und her. Er wirkte ängstlich. Überfordert. Frustriert. Wie ein in die Enge getriebenes Tier.
Ich unterdessen konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Ich konnte nicht glauben, dass ich so unendlich blöd gewesen war.
Jona war kein Mann für eine Beziehung und er würde es auch nie sein. Er hatte zu viel Angst. Das hatte ich von Anfang an gewusst. Ich war nicht mehr für ihn, als eine kleine Liebschaft. Eine Affäre. Eine Ablenkung, die ihn über Amelia hinwegtrösten sollte. Ich war parat gewesen und er hatte die Chance genutzt. So wie er es immer tat. So, wie er es bei jeder Frau tat. Kurz erinnerte mich an den Tag, als ich mit Aiden und Jona auf dem Sofa gesessen hatte und die beiden mir von ihrer FF-Regel erzählt hatten.
»Hast du noch was vor oder warum hast du dich so aufgebrezelt?«, Aiden warf Jona einen vielsagenden Blick zu.
Anstatt einer Antwort grinste Jona verschmitzt und sah hinab auf den Apfel in seinen Händen.
Klasse.
Jonas Reaktion war Antwort genug und ich brauchte nicht lange überlegen, um zu dem Entschluss zu kommen, dass er wohl auf ein Date ging. Ich konnte nichts gegen den aufkeimenden Stich der Eifersucht tun, der in diesem Moment in mir aufflammte.
Unzählige Male schon hatte ich schmerzlichst mitansehen müssen, wie Jona sich mit einer Frau nach der nächsten traf. Und während ich deshalb Höllenqualen ertragen musste, hatte Jona nicht einmal den Hauch einer Ahnung, was ich wirklich für ihn empfand.
Es war ermüdend, so unglaublich ermüdend...
»Aha, ich verstehe schon«, Aiden lächelte wissend. »Das wievielte Treffen ist es denn? Hoffentlich nicht schon das dritte?«
Jona schüttelte lachend den Kopf.
»Es ist tatsächlich erst das zweite, aber du weißt ja, über das dritte wird es nicht hinauslaufen.«
Nun war meine Neugierde geweckt.
»Was ist denn nach dem dritten Treffen?«, die Frage war mir über die Lippen gekommen, ohne dass ich es hätte verhindern können. Im Bruchteil einer Sekunde spürte ich zwei Augenpaare auf mir ruhen.
»Ach nichts«, entgegnete Jona eilig, während Aiden in schallendes Gelächter ausbrach.
»Komm schon, keine falsche Bescheidenheit, Bro«, mein Bruder stieß Jona den Ellbogen in die Rippen, ehe sich sein Blick wieder auf mich richtete.
»Hast du noch nicht von Jonas FF-Regel gehört?«, Aidens Augen blitzten amüsiert.
»Die FF-Regel?«, fragte ich und runzelte die Stirn. »Kannst du das bitte genauer ausführen?«
»Na Jonas Fick-Faust-Regel. Jona ist der Meinung, dass man sich niemals mehr als drei Mal mit einer Frau treffen darf, weil er befürchtet, dass sie sich ansonsten in ihn verlieben.«
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so blöd gefühlt, wie in diesem Moment. Ich wusste es. Ich hatte es von Anfang an gewusst und ignoriert. Wie hatte ich nur so blind sein können?
»Drei Mal«, sagte ich leise und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
»Was?«, Unverständnis spiegelte sich auf Jonas Gesicht wider.
»Drei Mal hast du mit mir geschlafen. Ist es das, was ich für dich bin?«, meine Stimme zitterte. »War ich nicht mehr, als eine deiner... deiner lächerlichen Fickregel Schlampen?«
Jona erstarrte bei meinen Worten. Er erstarrte zu Stein, als hätte er Medusa höchstpersönlich in die Augen geschaut. Das Gesicht fiel ihm herunter und blankes Entsetzen erfüllte die Luft zwischen uns. Jona erhielt gar nicht die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Etwas zu erwidern. Denn noch ehe er sich überhaupt von dem Schock meiner Anklage erholen konnte, stürzte Aiden sich wie ein Raubtier auf ihn. Seine Faust rieselte auf Jona hinab und traf ihn mitten aufs Auge. Jona taumelte ein paar Schritte zurück.
»ICH BRINGE DICH UM!«, Aiden schäumte vor Wut, während er bereits zum nächsten Hieb ausholte. Diesmal traf er Jona am Kiefer. Beim dritten Schlag hielt Jona schützend die Arme vors Gesicht, doch er wehrte sich nicht. Er ließ es einfach über sich ergehen, fast so, als würde er seine Strafe widerspruchslos entgegennehmen. Als verdiente er diese Strafe. Als wollte er diese Strafe.
Fassungslos sog ich die Luft ein und mein Herz machte einen Satz. Zu meiner Wut auf Jona gesellte sich noch ein anderes Gefühl: Angst.
»Aiden!«, schrie ich panisch, als ich bemerkte, dass Jonas Gesicht voller Blut war. »Hör auf! Du bringst ihn um.«
Doch Aiden schien mich gar nicht wahrzunehmen. Er nahm überhaupt nichts mehr wahr, außer diesem blinden Zorn, der ihn in einen Zustand absoluten Kontrollverlustes versetzte.
Obwohl Jona mir soeben das Herz herausgerissen und in Stück zerschmettert hatte, verspürte ich panische Angst um ihn. Noch nie zuvor hatte ich Aiden so erlebt. Aiden war stets beherrscht. Diszipliniert. Anständig. Doch der Mann, der nun auf meinen Liebhaber eindrosch, war nicht mein Bruder. Er war jemand anderes. Grausam und kaltblütig. Mehr Tier, als Mensch.
Beim vierten Schlag stürzte Jona zu Boden. Doch Aiden zeigte kein Erbarmen. Er war wie in Trance und verlor komplett die Beherrschung. Aiden ließ sich auf die Knie sinken, setzte sich rittlings auf Jona und ließ seine Fäuste immer und immer wieder auf ihn nieder saußen.
Das Herz in meiner Brust raste wie verrückt und pumpte Adrenalin durch jede einzelne Vene meines Körpers. Ich konnte kaum glauben, was sich gerade direkt vor meinen Augen abspielte.
Noch nie zuvor hatte ich etwas Furchtbareres gesehen, als zwei Freunde, die plötzlich aufeinander losgingen.
Aiden und Jona waren die besten Freunde gewesen.
Jetzt waren sie die schlimmsten Feinde.
»Oh Gott! Bitte! Hört auf!«, schrie ich panisch. Mein Magen klumpte sich zu einer ängstlichen Masse zusammen und Tränen sammelten sich in meinen Augen. Versunken in absoluter Verzweiflung machte ich Anstalten, die beiden zu unterbrechen. Mit schnellen Schritten überwand ich die Distanz zwischen uns, ließ mich ebenfalls auf den Boden sinken und versuchte Aidens nächsten Schlag mit der Hand abzufangen.
Stattdessen rutschte seine Faust ab und traf mich.
Mitten ins Gesicht.
Mein Bruder erwischte mich am linken Auge.
Ein Ächzen kam über meine Lippen, woraufhin ein unbändiger, stechender Schmerz durch meinen Kopf zuckte. Ich sah Sterne. Kurz wurde mir übel. Dann kippte ich nach hinten und konnte mich noch im letzten Moment mit der Hand auf dem Boden abstützen. Instinktiv fasste ich mir mit der anderen Hand ans Auge. Vor Schmerz zuckte ich zusammen. Blitze schossen durch meine Stirn. Durch meine Wange. Meinen Schädel.
»Tony!«, Aidens fassungslose Stimme donnerte durch den Raum. »Scheiße. Oh Gott, hab ich dich verletzt?«
Wenngleich mein eigener Bruder mich gerade ins Gesicht geschlagen hatte, schien dieses Unglück wenigstens auch etwas Gutes zu haben. Denn es hatte ihn offenbar endlich aus seiner Trance gerissen.
»Natürlich ist sie verletzt, du hast sie voll am Auge erwischt, du Vollidiot!«, hörte ich plötzlich Roxys Stimme.
Roxy? Wo kam sie denn her?
Wie aus dem Nichts erschienen Roxys warme, braunen Augen vor meinem Sichtfeld.
»Zeig mal her, wie schlimm ist es?«, fragte sie und auf ihrem Gesicht spiegelte sich die pure Sorge. Im Augenwinkel erkannte ich, wie Scott und Mason ebenfalls erschienen und Aiden von Jona herunterzerrten. Dean und Luna kümmerten sich sofort um Jona, der noch immer am Boden lag.
Aiden hatte Jona massiv zugerichtet. Sein Gesicht war blutüberströmt.
»Scheiße, ich glaube er muss ins Krankenhaus«, hörte ich Luna murmeln. Dean nickte zustimmend.
»Tony! Oh Gott«, Aidens Stimme brach. »Es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht treffen ich...«
»Was hast du dir verdammt nochmal dabei gedacht?«, schimpfte Nova und baute sich mit ihren Ein Meter Sechzig vor meinem Bruder auf.
»Ich... Er... Er hat mit Tony geschlafen, er hat sie...«
»Um Himmels Willen! Bist du völlig übergeschnappt?«, fuhr nun Roxy meinen Bruder wutentbrannt an. »Die beiden haben was miteinander. Und? Wir haben auch rumgemacht und es hatte nichts zu bedeuten. Komm mal wieder auf dein Leben klar!«
Wie bitte? Roxy und Aiden?
Konnte diese Nacht noch verrückter werden? Sie war mit großem Abstand die Schlimmste meines Lebens. Niemals hätte ich erwartet, dass mein Geburtstag eine so hässliche Wendung einnehmen würde. Es war furchtbar.
Roxy wandte sich wieder mir zu und begutachtete mein Auge, das pulsierte, als würde mir gerade ein zweiter Kopf wachsen. Es tat schrecklich weh.
»Puh, das gibt ein ordentliches Veilchen, aber halb so wild, das wird wieder«, murmelte sie, dann wandte sie sich an jemand anderen. »Amber, kannst du was zum Kühlen holen?«
Amber nickte besorgt und einen Moment später war sie schon verschwunden.
Mein Blick wanderte wieder rüber zu Jona. Luna und Dean versuchten ihn aufzurichten, aber er sackte immer wieder weg. Schließlich schafften sie es, ihn hochzuziehen und schlangen sich jeweils einen seiner Arme um die Schulter.
Jona so zu sehen, verursachte mir Übelkeit. Egal was soeben zwischen uns passiert war, das hatte er nicht verdient. Niemand verdiente so etwas.
Und während Dean und Luna ihn wegtrugen, sehr wohl, um ihn ins nächstgelegene Krankenhaus zu fahren, verharrte ich an Ort und Stelle. Starrte mit leerem Blick auf die Stelle, wo er eben noch gelegen hatte und begriff, was gerade alles passiert war...
Der Urlaub war ruiniert.
Eine junge Liebe war gestorben.
Eine jahrelange Freundschaft war in die Brüche gegangen.
Mein Herz war gebrochen.
Und mein schlimmster Albtraum wurde wahr.
☆
Die Morgendämmerung draußen hatte eingesetzt und hüllte mein Zimmer in ein orange-rotes Licht. Noch während ich den Sonnenaufgang über dem Meer von Hampton Beach beobachtete, hatte ich eine Entscheidung getroffen.
Ich musste weg von hier.
Und zwar so schnell wie möglich.
Am besten noch bevor Jona vom Krankenhaus zurückkam.
Allerdings wollte ich nicht mit meinen Freundinnen reden. Ich war noch nicht bereit, mit ihnen über das was alles passiert war, zu sprechen. Wie sagte man so schön? Wer hoch hinauf flog, fiel auch tief hinab. Und ich war geflogen. Hoch. Haushoch. Himmelhoch sogar. Doch ich war noch tiefer gefallen. Und ich fiel noch immer, unwissend darüber, wann ich endlich auf dem Boden ankam. Wann mich die Realität endlich einholen und mir bewusst würde, dass diese Nacht tatsächlich passiert war. Denn momentan kam mir alles noch vor wie ein böser Traum, aus dem ich jede Sekunde aufwachen musste.
Doch das passierte nicht.
Ich schluckte schwer und starrte auf den Bildschirm meines Handys.
Da ich weder die Kraft noch die Energie hatte, mich einer ellenlangen Autofahrt auszusetzen, fasste ich einen schweren Entschluss.
Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer.
Es dauerte kurz, aber nach dem vierten Mal Klingeln wurde abgehoben.
»Antonia?«, die Stimme war vertraut, weich und doch gekennzeichnet von einer gewissen Strenge. Eine Strenge, die mich immerzu nur verhöhnt hatte, mir aber dieses Mal seltsam tröstlich vorkam.
»Mom?«, meine Lippen bebten und Tränen rannen mir über die Wangen, während ich die nächsten Worte aussprach. »Ich will nach Hause.«
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