24.
Es hatte pünktlich zum 24. Dezember aufgehört zu schneien. Pendale lag unter einer Schicht pulverigem Schnee, der die Kleinstadt in eine wahre Winteridylle verwandelte. Trotz des grauen Himmels war die Hauptstraße nun wieder mit Menschen gefüllt, die alle die Geschehnisse der vergangenen Tage verdaut hatten.
Das Blut auf den Bürgersteigen, gefrorene Leichen.
Der Sturm war vorüber, die Weihnachtszeit gekommen. Und sie alle spazierten über die Straße, voller Freude und Seligkeit.
Nicht alle. In einem bunt behangenen Café, durch dessen Scheibe vor lauter Lichterketten kaum noch zu sehen war, saß ein Mann mit Brille in einem Sitzsack und blickte auf seinen Laptop.
Gedankenverloren scrollte Neill durch die Polizeiberichte, die ihm noch vor wenigen Tagen geschickt worden waren. Allein. Seine Tochter saß im Wohnzimmer auf dem Boden und behängte den viel zu spät erworbenen, schon etwas trockenen Christbaum mit bunten Kugeln.
Bald würde er zu ihr stoßen, doch gerade hatte er anderes im Kopf.
Als hätte der größte Zufall der Welt stattgefunden waren seine Kollegin Ariel und all ihre Geschwister zum Zeitpunkt des Schneesturms durch einen scheinbaren Suizid ums Leben gekommen.
Ava, die Neill nur flüchtig gekannt hatte, war mit einem Elektrotacker in ihrer Schlagader auf ihrer Haustreppe vorgefunden worden. Blutverschmiert, Tacker in ihrer Schläfe, das Gerät knapp außerhalb ihrer Reichweite, nachdem es ihr aus der Hand gerutscht war.
Der selbe Tacker war in Ariels Schulter gefunden worden. Er dürfte sie aber nicht mehr lange gestört haben, da sie durch ein Giebelfenster aus Avas Wohnung auf ein Dach geklettert war und sich in die Tiefe gestürzt hatte.
Zwei Tage später war von besorgten Anwohnern eine polizeiliche Dienstwaffe gefunden worden. Neill konnte sich keinen Reim daraus machen.
Einzig unerstaunt war er über Alex' Leiche gewesen, in der seine Kollegen einen Cocktail unzähliger Rauschmittel und Medikamente gefunden hatten. Anschließend war er unentdeckt vor der Apotheke erfroren. Dort hatte ihn ein fremder gesehen und sogleich gemeldet, bevor er verschwunden war.
Neill seufzte und trank den letzten Schluck seines Kaffees. Er musste Ariel im Nachhinein Recht geben, es schmeckte furchtbar. Aber vielleicht tat es das auch nur, weil sie es ihm nicht persönlich ins Gesicht schnauzte.
An heilig Abend konnte und wollte Neill sich nicht damit auseinandersetzen. Er wollte es nie tun, es gab kaum mehr etwas zu ermitteln.
Ariel hatte sich in Avas Wohnung mit ihrer Schwester gestritten. Sie war wütend und verletzt gewesen und psychisch instabil wie sie gewesen war, hatte sie die Wohnung durch das Dachfenster verlassen, nachdem Ava sie mit dem Tacker angeschossen hatte.
Voller Verzweiflung hatte sie auf dem Dach gestanden, bereit sich umzubringen, doch als sie einen Testschuss abfeuerte, wie sie es immer tat, da war sie in ihren Tod gestürzt. Daraufhin hatte Ava versucht, sich voller Schuldgefühle das Leben zu nehmen. In der Schläfe hatte der Tacker aber wenig angerichtet und auch nach dem zweiten Schuss hatte sie lange gelitten.
Doch nun war es vorbei. Neill stand auf, zahlte und verließ das Café.
"Frohe Weihnachten", wünschte er dem einsamen Barista, der hinter der Theke bunte Motivbecher ausspülte.
Er ging nach Hause. Zu seiner Tochter, seiner Frau, fern von der Leere in seinem Herzen. Auf dem Weg dorthin grübelte er.
Denn es schien ihm, als fehlte ihm ein entscheidendes Detail.
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