22.
Ava zögerte in ihrem Tun. Sie wirkte wie ein Videospielcharakter, dessen Umgebung nicht zu seinen Bewegungen passte, dessen Lippen sich bewegten, obwohl der Ton erst wenige Sekunden später einsetzte.
"Du lügst. Sie ist Schuld, nicht ich, was kann ich dafür, wenn sie mir nichts anvertraut, wenn sie sich vom Dach stürzt? Immerhin wollte sie dich erschießen, oder nicht?"
"Du hast sie zu mir geführt." Diego zuckte mit den Schultern. "Versuch doch nicht, dich rauszureden."
Ava schüttelte den Kopf. "Denkst du eigentlich, ich bin bescheuert? Ich weiß, was du tust. Du kannst mich mal. Ich wollte etwas Harmloses von dir. Liebe! Und jetzt verlangst du von mir, dass ich mich zu etwas mache, was ich nicht bin? Einer Mörderin?"
"DU BIST EINE MÖRDERIN! Selbst wenn man Ariel ausschließt, dann hast du getötet! Und das weißt du auch, oder nicht?"
Ava schnaubte. "Ach, und du willst mir jetzt Moral einflößen? Ausgerechnet du? Mach, dass du fortkommst, das ist ja peinlich."
Sie griff nach dem Elektrotacker, der noch immer im Fahrstuhl lag wie ein Ausstellungsstück eines sehr merkwürdigen Museums. Dann machte sie sich kopfschüttelnd auf den Weg zurück in ihre Wohnung. Diego zögerte. Sie wollte es einfach nicht verstehen.
"Meine Taten hatten einen Sinn, du unterkomplexe Idiotin! Du hast einen Vater auf dem Gewissen! Ich habe Frauen getötet, die alleine waren."
"Alleine?" Ava drehte sich harsch um. "Du weißt, dass Patricia Wells Geschwister hatte? Dass ihr Bruder in Untersuchungshaft sitzt, weil du zu feige bist, dir einzugestehen, dass deine Aktion idiotisch ist?"
Diego zuckte mit den Schultern. "Er war es ja nicht, sie werden ihm nichts nachweisen können."
"Du bist unmöglich. Ich weiß immerhin, dass ich scheiße gebaut habe, aber du? Du legst noch deine Hand dafür ins Feuer, dass deine Taten berechtigt waren. Aber jetzt spitz die Lauscher, Papa Bär: Du bist ein furchtbarer Mensch. Und ich bete, dass sie dich finden und in den Knast werfen. Denn da gehörst du hin. Und ja, vielleicht tue ich das auch, aber ich werde es nicht wieder tun. Ich wollte dir gefallen, ich dachte du würdest deine Meinung ändern, wenn ich so werde wie du!"
"Das ist nicht mein Problem, du bist besessen, mehr nicht."
"Das war ich, aber du hast meiner Familie nichts als Schaden zugefügt. Du hast Ariel eingeredet, Alex auf die Straße zu setzen, du hast dafür gesorgt, dass sie stirbt...und jetzt bin wohl ich dran..."
Sie breitete die Arme aus. "Na los, tu, was du nicht lassen kannst. Manipuliere mich in meinen Tod."
In der Ferne ertönten die Notfallsirenen eines Krankenwagens, der sich durch den Schnee kämpfte. "Sie kommen", murmelte er.
"Na siehst du, du hast noch etwa zwei Minuten Zeit. Los, mach schon!"
"Ich verstehe nicht ganz?"
"Ich auch nicht." Ava seufzte. "Ich will das nicht."
"Wie?" Diego war verwirrt.
"Ich sage, dass ich dich hasse, aber ich bin dir noch verfallen, Diego. Dir und deiner verfickten mystischen Art und deinen Teddybäraugen, die kälter und skrupelloser nicht sein könnten." Sie lächelte. "Du hast ewig gesucht, ich habe ewig gesucht. Aber irgendwie will das Universum uns nicht zusammen sehen. Wir gehören zusammen, aber trotzdem tun wir das nicht. Und das ist ein Leben, das ich nicht will. Denn es bedeutet, dass es außer dir niemanden mehr für mich gibt. Also los, sag etwas, das mir den letzten Rest geben wird."
Diego runzelte die Stirn. "Aber ich will nicht, dass du stirbst. Ich will nur, dass du mich in Ruhe lässt."
"Und das werde ich, den Wunsch erfülle ich dir, warum kannst du mir nicht meinen erfüllen?"
Ihr traten Tränen in die Augen.
"Ich werde das nicht tun", sagte Diego entschlossen. "Du bist doch wahnsinnig."
Ava lächelte. "Ja, das mag sein. Du hast mich wahnsinnig gemacht. Das Konzept der Seelenverwandtschaft hat mich wahnsinnig gemacht."
"Ja und? Dann sei halt wahnsinnig, aber zieh mich da nich mit rein."
Ava verdrehte die Augen. "Du hast dich selbst reingezogen, ich will dich wieder da rausbekommen. Raus aus meinem Kopf. Ich dachte, der Wahnsinn würde dir gefallen, wo du doch auch wahnsinnig bist, aber was ist schon Wahnsinn? Er hat mich um meinen Verstand gebracht."
"Wer lügt hier? Du warst doch schon immer wahnsinnig. Erinnerst du dich an die Grillgabel in deinem Sofa? Die war da nur aus Zufall oder was?", fauchte Diego.
"Sie ist immer da. Ich verstecke sie in meinem Sofa, weil ich paranoid bin. Ganz einfach. Und als du auf mich eingestochen hast, da hat es sich so richtig angefühlt. Und ich weiß doch selbst wie das klingt. Aber ich habe mich dir angepasst."
"Ist ja süß", murmelte Diego. "Ich werde jetzt gehen, mach mit deinem Leben, was du willst. Es liegt nicht in meiner Hand."
"Nicht? Denn es lag mal in deiner Hand. Als du den Krankenwagen nicht rufen wolltest, da lag es in deiner Hand, in dem Moment, in dem du meine Wohnung betreten hast, da lag es schon bei dir, ob ich lebe oder sterbe."
Diego seufzte. "Ich will diese Verantwortung nicht."
Er drehte sich um und ging auf die Haustür zu, da flackerte das Blaulicht an der Tür vorbei.
Ariel liegt weit weg, sie werden mich nicht verdächtigen. Und wenn schon, ich war es nicht. Ich habe nichts falsch gemacht.
"Ich dachte, da wäre etwas zwischen uns gewesen, Diego", sagte Ava bestimmt hinter ihm her. Er blieb stehen. "Eine morbide Bindung, irgendwelche Gemeinsamkeiten. Liebe ist tödlich, aber nicht für uns, wir haben beide gelebt."
Dann hielt sie inne. "Warte - "
"Ich warte", sagte Diego. "Aber nicht mehr lange."
"Ich kann dir keinen Schmerz zufügen, oder?" Sie kam auf ihn zu, richtete den Tacker auf seine Schulter und drückte ab. Innerhalb von Millisekunden bohrte sich das Metall in sein Fleisch. Irritiert folgte er dem Weg des Tackers.
"Ich wusste es", wisperte Ava. "Es war nicht der Schock. Es tut nicht weh, oder?"
Diego schwieg.
"SAG, DASS ES NICHT WEH TUT!", schrie sie ihn an. Langsam schüttelte er den Kopf.
"Nicht", murmelte sie. "Dann wirst du ja auch keinen Schmerz verspüren, wenn ich mich umbringe...gut für dich, Diego."
Sie schmunzelte, bevor sie den Tacker an ihre Schläfe setzte und abdrückte.
Es schoss nur wenig Blut aus der kleinen Wunde. Sie keuchte auf und sackte auf die Treppenstufen. Erschrocken wich Diego zurück. "Was tust du da?"
Ava antwortete ihm nicht. Stattdessen begutachtete sie den Tacker in ihrer Hand, während ein kleines rotes Rinnsal sich den Weg ihr Gesicht hinab bahnte.
Der nächste Schuss landete in ihrer Halsschlagader. Einen weiteren gab es nicht.
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