2.
"Ich hasse Winter."
Alex stand in einem dicken Wintermantel in der eiskalten Küche, die mehr einem Schlachthof glich, als ihrem eigentlichen Nutzen.
Ariel stieg über die Leiche der jungen Frau im Türrahmen und begutachtete das zerschlitzte Bild neben der Dunstabzugshaube. "Ist mir egal", murmelte sie.
Ihr Bruder rümpfte die Nase und blickte auf die leichtbekleidete Blondine zu seinen Füßen. "Sieht ja übel aus. Und sowas guckst du dir jeden Tag an?"
Sie seufzte. "Nein, nicht jeden Tag...was machst du überhaupt hier? Du solltest doch im Auto warten."
Alex zuckte mit den Schultern. "Du hast den Schlüssel."
"Ja und?"
"Dann kann ich auch nicht die Heizung anmachen. Hier sind die Temperaturen ja wenigstens erträglich." Er nippte an seinem Starbucksbecher.
"Gott, wie ich dich hasse", murmelte Ariel und kniete sich vor ihn. Sie zog sich die weißen Handschuhe über und begann damit, die Wunde des Opfers zu untersuchen. "Wenn ich auch nur einen Tropfen deines übersüßen Gebräus hier sehe, dann garniere ich deine nächste Mahlzeit mit Nagelproben aus dem Labor."
Alex trat einen Schritt zurück. "Und, was weißt du schon?"
"Das darf ich dir überhaupt nicht sagen, du Idiot. Jetzt geh und setz dich ins Auto."
An ihren Kollegen der Mordkommission, der gerade dazugestoßen war gerichtet sagte sie: "Die Wunde ist extrem frisch. Kann keine sechs Stunden alt sein."
"Was macht Alex hier?", fragte der, ohne auf Ariels Informationen einzugehen. Sie seufzte.
"Gefunden wurde die junge Frau von ihrer Schwester, Monique Wells. Sie wartet draußen am Rettungswagen auf dich."
Sie richtete sich auf. "Na los, sprich mit ihr, machste doch so gerne."
Neill hob die Augenbrauen. "Eine Laune hat die Dame, wird echt Zeit, dass die Seelenverwandschaft in dein Haus kommt."
"Wie denn, mein Junkie Bruder besetzt den ganzen Tag das Wohnzimmer, wenn er nicht gerade hinter mir her wackelt, wie ein Gänseküken auf Crack."
Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Küche. Auf den verschneiten Stufen des Rettungswagens saß eine Frau im Kostüm, eine Wärmedecke um die Schultern, die ihr bei diesem Wetter auch nichts mehr bringen würde, wie Ariel nüchtern feststellte.
"Guten Tag, Ariel Fletcher, Mordkommission, mein Beileid", ratterte sie ihren Text runter, den Neill ihr einmal beigebracht hatte. Für die Ausführung hätte sie von ihrer Theaterlehrerin eine glatte fünf erhalten.
Doch Monique Wells hatte gerade andere Sorgen, als die Herzlichkeit der Mordkommission.
"Hallo", murmelte sie und schniefte. Ariel machte einen kleinen Schritt zurück. Zu dieser Jahreszeit tat sie sich immer schwer zu unterscheiden, ob die Menschen weinten oder krank waren.
"Sie haben Ihre Schwester bei welcher Gelegenheit gefunden?", kam sie sogleich zur Sache. Ein Schauer durchzuckte Monique, bevor sie anfing zu sprechen.
"Ich war mit ihr verabredet. Sie hatte heute ein Date, also wollten wir vorher noch zum Friseur und dann noch was essen...aber sie hat mir nicht aufgemacht. Das ist untypisch gewesen, weil sie eigentlich immer die Nacht durchmacht und morgens besonders munter ist."
Sie schluchzte, was Ariel dazu ermutigte, wieder einen Schritt näher zu kommen. "Ich hab einen Ersatzschlüssel, den hab ich geholt und dann bin bin ich reingekommen und -"
Monique schlug sich die Hand vor den Mund, um einen weiteren Schluchzer zu unterdrücken. Als sie sich wieder besonnen hatte war ihr ganzes Gesicht mit Lippenstift verschmiert. Ariel musste sich anstrengen, nicht laut loszulassen. In ihrer Partnerschaft mit Neill übernahm sie meist die Denkaufgaben, während er das Soziale regelte.
Sie arbeitete seit Anbeginn ihrer Karriere mit ihm. Und erst vier Mal hatte sie das Vergnügen gehabt, Hinterbliebene zu befragen. Interviewen, wie sie es gerne nannte, denn natürlich wurde jedes Wort aufgezeichnet.
"Okay", sagte Ariel gedehnt und tat so als würde sie sich etwas notieren, obwohl das kleine Mikrofon an ihrer Brusttasche eigentlich kaum zu übersehen war.
"Hatte Patricia Feinde?"
Monique schüttelte den Kopf. "Nein, jeder hat sie geliebt." Die letzten Worte waren von einem keuchenden Husten und einem Schwall Tränen verzerrt worden. "Verzeihung?", fragte Ariel, auch wenn sie die Worte genau verstanden hatte.
Dann schob ein Sanitäter sie aus dem Weg.
Neill kam auf sie zu. "Wahnsinn", nickte er anerkennend.
"Halt die Schnauze, sag mir lieber, was du rausgefunden hast."
"Also erstmal hat die offenbar gerne Alice in Chains gehört, der Täter aber nicht. Die Klinge der Tatwaffe wird aus jetzigem Stand etwas über 15 Zentimeter lang sein, das wird uns die Pathologie aber nochmal bestätigen."
"Fingerabdrücke?"
"Jap, am Fensterbrett außen. Hoffen wir mal, dass die in der Datenbank verzeichnet sind."
Ariel nickte. "Wo ist Alex?"
"Alex? Keine Ahnung, auf deine Geschwister musst du schon selbst aufpassen, wenn du sie mit zur Arbeit nimmst."
Sie stöhnte. "Alex!"
Ihr Bruder kam hinter dem Rettungswagen hervor. "Sorry, mir war nur 'n bissl schlecht", murmelte er. "Du hast hinter den Rettungswagen gereiert?", fragte Ariel spöttisch. "Na Gott sei Dank, dass du nicht im Auto sitzen geblieben bist."
Dann verpasste sie ihm eine Backpfeife.
"Was ist es?"
"Hä?" Alex hielt sich verständnislos die Wange.
"Was ist in deinem Kaffee drin? Was hast du wieder genommen?" Hinter ihr setzte sich der Rettungswagen in Bewegung und gab den Blick auf eine kleine fast schon wieder gefrorene Pfütze frei.
"Sag's mir!", schrie sie Alex an, doch der war schon auf dem Weg zum Auto.
Neill schmunzelte. "Warum kannst du ihn denn nicht an deine Eltern abschieben, wie jeder normale Mensch?"
Kopfschüttelnd wandte Ariel ihm den Rücken zu.
"Alex, warte!", rief sie ihrem Bruder hinterher. "Es tut mir leid, ich wollte dich nicht anschreien, okay?"
Sie hasste es, mit erwachsenen Menschen Tag ein Tag aus wie mit Kleinkindern zu sprechen. Er ließ sich auf den Beifahrersitz rutschen.
"Komm schon, Großer", murmelte sie und schnallte ihn an. "Ich fahr uns nach Hause, du kommst ins Bett und Ariel arbeitet noch ein bisschen."
Alex schüttelte den Kopf. "Ich bin doch keine fünf Jahre alt."
"Aber nur ein Fünfjähriger nimmt konstant weiterhin das Zeug ein, was sein Leben bedroht, wenn man es ihm nicht wegnimmt. Und es ist mir egal, an wievielten Spülmaschinentabs du schon gelutscht hast, solange du in meiner Wohnung lebst und den Inhalt meines Kühlschrankes benutzt, um deinen Scheiß zu mischen, behandele ich dich so, wie ich das will."
Alex schnaubte. "Das ist albern."
"Nein, du bist albern. Warum kannst du dir nicht endlich mal Hilfe holen, das ist ja peinlich."
"Du hilfst mir doch."
Ariel überlegte kurz. "Ja...klar."
Sie legte den ersten Gang ein und rollte aus der Einfahrt, in der sie geparkt hatte. "Aber ewig hab ich da auch keinen Bock mehr drauf, besonders nicht, wenn du meine Leichen kontaminierst."
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