
10.
Als Diego gegen Mittag den Supermarkt verließ, hatte es aufgehört zu schneien. Jeder seiner Schritte knirschte, doch dieses Mal füllten sich seine Schuhe nicht mit Wasser, denn er trug Winterstiefel, die er im Lager gefunden hatte.
Jemand hatte sie zurückgegeben, weil die Schnürsenkel zu kurz geraten waren. Inzwischen konnte Diego eine etwaige Wut über diesen Zustand sogar nachvollziehen. Zwar blieben seine Füße trocken, doch kalt waren sie trotzdem.
Lange hatte er über seine Kundin nachgedacht, ob es eine weise Idee gewesen war, sie alleine, mit einer Packung Wein in ihrem Auto nach Hause fahren zu lassen. Diego überlegte fieberhaft.
Hatte er richtig gelegen? Oder hatte er sich blamiert und nichts als die Unwahrheit erraten? Der Tag gab ihm so viel Zeit über die Kommissarin nachzudenken, weil sie die einzige Kundin des Tages gewesen war.
Der Mann, den sie gestern dabei gehabt hatte, war definitiv nicht nüchtern gewesen. Geweitete Pupillen, Orientierungslosigkeit und ein völliges Desinteresse an allem, verbunden mit körperlichen Koordinationsschwierigkeiten. In diesem Punkt hatte er sich nicht geirrt, da war er sich sicher.
Doch wie sah es mit den Verwandtschaftsverhältnissen aus? Bruder? Oder doch Cousin?
Der junge Mann hatte ihr sehr ähnlich gesehen, also vermutlich Familie ersten bis dritten Grades. Ein stark abweisendes, genervtes Verhalten, dass er von Geschwistern kannte. Aber bestätigten Ausnahmen nicht die Regel?
Doch ein Cousin fühlte sich falsch an.
Die Anrufe der Mutter hatten das Display ihres Handys mehrfach erleuchtet. Wer speicherte schon seine Schwiegermutter als Mama ein. Die Kommissarin war zu jung, um seit langer Zeit verheiratet zu sein, was bedeutete, dass sie im Falle einer Hochzeit noch nicht die Grenze überschritten haben dürfte, ihre Schwiegermutter auf eine derart persönliche Art und Weise anzusprechen.
Es musste die eigene Mutter gewesen sein. So viele Anrufe auf einmal. Gab es einen Grund zur Sorge? Nein, die Kommissarin hatte nicht gewirkt, als sei sie der Typ Kind, der von seinen Eltern umsorgt wurde, also handelte es sich um ein dringendes Anliegen der Mutter, ein egoistischer Schachzug.
Daraus folgte...Diego blieb an einer Ampel stehen und drückte den Knopf. Nichts passierte. Den Tag, an dem der Knopfdruck tatsächlich mal etwas bewirkte, würde er sich rot im Kalendar markieren.
Daraus folgte ein geringes Interesse der Eltern an ihren Schützlingen und dementsprechend andersherum, weshalb die Anrufe ignoriert worden waren, wissend, dass es um Dinge ging, die sie nur indirekt, aber nicht persönlich betrafen. Die Kommissarin war schlau, sie kannte ihre Eltern.
Und wer nur anrief, weil er etwas haben mochte, der interessierte sich nicht für die Sorgen des Gesprächspartners oder zumindest nur so lange, bis das Gewünschte in die Tat umgesetzt wurde. Der Bruder...oder doch Cousin hatte also vermutlich nie eine Chance auf Hilfe durch seine Eltern gehabt.
Ein tragisches Schicksal. Diego überquerte die Straße, die immer noch vom roten Schimmer der Ampel beleuchtet wurde. Als er sich nach der anderen Straßenseite umdrehte, erblickte er eine junge Frau.
Sie hatte sehr helle Haare, die einen starken Kontrast zu ihrer Lederjacke bildeten. Ihre Jeans war ihr etwas zu groß, aber dieses Problem sah typisch für ihren zierlichen Körper aus. Ihre Hände steckten in den Jackentaschen, auf ihren Ohren saßen klobige Kopfhörer, aus denen ein Zischeln drang.
Ohne sich nach eventuellem Verkehr auf der Hauptstraße umzusehen, überquerte sie diese. Ihre Schritte waren bestimmt und regelmäßig.
Sie hört Musik, sie geht mit dem Rhythmus, Schlag für Schlag wie ein Runwaymodel.
Wenige Meter vor dem Ende des Zebrastreifens rutschte sie plötzlich aus und fiel. Reflexartig griff Diego nach ihrem Arm und bekam einen Teil der Jacke zu fassen. Mit der anderen Hand krallte er sich in den Ampelpfosten. So hingen sie eine Weile lang an der Ampel wie ein Stripper an der Stange, bis Diego sie schließlich in eine würdigere Position zog und ihren Ärmel losließ.
Dieser rutschte hoch und gab den Blick auf ein Tattoo an ihrem Handgelenk frei. Fünf Wörter, nur Großbuchstaben.
GET OUT OF MAH SWAMP
Er sah sie belustigt an, während sie ihre Kopfhörer von den Ohren schob. "Ist das aus Shrek?"
Sie grinste. "Jup, ich wünsche mir auch oft, dass Menschen mich in meinem Leben so versumpfen lassen wie ich es will. Nur leider tun sie es nie."
"Das ist auf jeden Fall tiefgründig", nickte Diego.
"Lach du nur, aber ja, für mich ist es das." Sie verschränkte die Arme. "Du hättest das übrigens nicht machen müssen. Ich wäre in Würde und voller Stolz gefallen und hätte mich der Smart erwischt, so what? Die Dinger wiegen doch nicht mehr als fünf Gramm oder so. Als würde eine Katze über mich laufen."
Sie hat absolut keine Ahnung, wovon sie redet, aber es ist ihr scheißegal. Sie legt Wert auf Selbstständigkeit, auf Würde, sie ist stolz. Sie mag es, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie emotionale und tiefgründige Gedanken hat, aber eigentlich kommt ihr alles Gesprochene spontan über die Lippen.
"Ich werd's mir für's nächste Mal merken."
"Gut so", tadelte sie ihn. "Ich bin nebenbei gesagt Linda." Sie streckte ihm die Hand entgegen, zog sie jedoch gleich wieder zurück.
"Nee komm", murmelte sie, "Das ist jetzt doch eine Spur zu weird."
Diego unterdrückte ein Kichern. "Diego", sagte er.
"Wie der Säbelzahntiger?"
Sie hängt filmtechnisch noch sehr in den Zweitausendern fest.
"Wie Doras bester Freund." Er schmunzelte.
"Ich nehm den Tiger", entschied sie und trat endlich auf den Bürgersteig. "Also dann, danke nochmal, würd ich sagen, ich muss dann auch los."
Häufig begleiteten Diego bei seinen Kurzschlusshandlungen folgende Gedanken:
Wieso tue ich das? Es ist schlau, das zu tun. Ich hasse mich und mein Gehirn.
Diese Gedanken kamen ihm auch jetzt, als er im Moment einer roten Fußgängerampelphase nach Lindas Jacke griff und sie am Kragen zurückzog.
"Hey", beschwerte sie sich noch, da stieß er sie schon in den reißenden Verkehr. Es folgte ein Hupen, ein Krachen, ein Quietschen. Erst als Linda entgegen seiner Hoffnungen nicht mehr aufstand und stattdessen, von einer schweren Raubkatze überrannt auf dem Asphalt liegen blieb, ließ Diego die Kreuzung seufzend hinter sich.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro