Vergänglichkeit
POV Jenny
Als ich einen Anruf von Seb erhielt, dachte ich mir erst nichts Böses dabei. Die Sache mit Julia war geklärt, ich vermutete, dass er Chris einfach nicht erreicht hatte und so nahm ich noch lachend von unserer Putzeskapade ab, die Chris und ich gerade veranstalteten. Wir hatten uns entschlossen, die Einrichtung ein wenig zu verändern und das obere Bad endlich zu renovieren, weswegen wir es aufräumten und in das untere Bad räumten, damit wir dort genug Platz hatten. Ebenfalls verlegten wir unser Schlafzimmer temporär in das große Gästezimmer, damit wir nicht direkt neben der Baustelle schlafen mussten.
"Hi Seb, warte, Chris steht neben mir. Er hat sein Handy vermutlich nicht gehört." meinte ich und hatte mein Handy schon auf Lautsprecher geschalten, doch er hielt mich auf. Seine Stimme zitterte und brach, was kein gutes Zeichen war und verwirrt blieb ich stehen.
"Nein Jenny, ich wollte dich erreichen. Ich..." Er stockte, um die richtigen Worte zu finden für die Misere, in der er sich befand. "Julia lag gestern morgen in den Wehen und..." Julia hatte Milan endlich bekommen? Das waren gute Nachrichten, also war er aus Freude aufgebracht, zumindest dachte ich das. "Du weißt, wie lethargisch sie gewesen ist in ihren letzten Wochen der Schwangerschaft und das hat sich auf ihre Schwangerschaft ausgewirkt."
Kurz schaute ich verwirrt, bis mein Kopf endlich kombinierte.
"Geht es Milan gut?" fragte ich entsetzt. Vielleicht waren wir nicht mehr beste Freundinnen, aber ich wusste, wie wichtig ihr dieses Kind war und ich wusste, was für einen Terror sie durchleben würde, wenn sie ein weiteres Kind verlor.
"Ja, Milan geht es gut, nur..." Eine weitere Pause, dieser Mann würde mich noch zur Weißglut treiben. Was war denn dann der Grund für seinen Anruf? "Julia ist noch während der Geburt verblutet und ich brauche eure Hilfe. Ich schaffe das nicht alleine."
Wie verwurzelt stand ich an dem Punkt im Schlafzimmer, unfähig, die Informationen zu verarbeiten, die Seb mir gerade gegeben hatte. Julia war... tot? Das konnte nicht sein. Chris deutete meine Schockstarre jedoch richtig und nahm mir das Handy aus der Hand.
"Wir sind auf dem Weg. In welchem Krankenhaus bist du?" Er stellte den Lautsprecher aus und hielt sich das Handy ans Ohr, während die ersten Tränen meine Wangen herunterkullerten. Das konnte doch alles nicht wahr sein! "Wir sind in einer halben Stunde da, halte durch Buddy." Er legte auf und das Handy zur Seite, bevor er mich in seine Arme zog. Niemals hätte ich gedacht, dass der Verlust von ihr als Freundin bedeutete, dass ich sie nicht mehr erreichen konnte, sie war einfach weg. Auch, wenn sie nichts dafür konnte. "Komm Baby, Seb braucht uns jetzt. Und Milan erst recht."
Wie in Trance nickte ich und er nahm meine Hand, um mich aus dem Raum zu führen, bevor er mich meine Schuhe anziehen ließ und wir schließlich im Auto zu dem mir allzu gut bekannten Krankenhaus waren. Inzwischen hatte ich meine Tränendrüsen wieder im Griff und ich war gefasst, zumindest zu den meisten Teilen. Julia war tot, aber ich würde für Seb da sein, komme was wolle. Das hätte sie gewollt, da war ich mir sicher.
Der Weg vom Parkplatz ins Krankenhaus schien eine halbe Ewigkeit zu dauern und die Frage nach Sebs Aufenthaltsort ließ sich auch nicht zu hundert Prozent klären, weswegen wir auf die Pädiatrie-Station geschickt wurden. Dort stand er im Flur vor dem Fenster, in dem die Kinder lagen und starrte hinein, seine Wangen tränennass. Chris nahm ihn sofort in die Arme, während ich ein wenig unbeholfen rumstand.
"Es ist alles noch so frisch, ich... ich kann ihn einfach nicht auf den Arm nehmen..." stammelte er und deutete auf den Kleinen hinter der Scheibe. "Ich habe der Schwester schon Bescheid gegeben, dass ihr kommen werdet und euch um ihn kümmert. Ich..." er hielt kurz inne und drehte sich zu mir. "Ich habe deinen Namen bei den Schwestern hinterlegt, damit du dich um ihn kümmern kannst, ich... brauche Chris gerade."
Ich nickte ohne ein weiteres Wort und sah Chris dabei zu, wie er Seb aus dem Gang in Richtung Aufzüge führte, während ich an den Schalter lief und auf eine Schwester wartete. Da es schon Abend wurde, waren die Meisten gerade unterwegs, doch eine rothaarige Frau, die mir sehr nach Ärztin aussah, blieb bei mir stehen und deutete meinen fragenden Blick richtig.
"Kann ich Ihnen helfen, suchen Sie jemanden?"
Sie schien freundlich, aber gestresst und ich wollte sie wirklich nicht allzu lange aufhalten.
"Mein Name ist Jenny, ich möchte mich um das Kind von Sebastian Stan kümmern. Er meinte, er hätte meinen Namen hinterlegt."
Ihr Blick wurde sofort weich, sie wusste also, von wem ich sprach.
"Ja, natürlich, ich hole gleich eine Schwester, die Sie in alles einweist." Sie war schon fast auf dem Weg zum nächsten Zimmer, da drehte sie sich noch einmal rum. "Geht es Ihnen gut? Ich weiß, so ein Verlust ist nicht einfach, vor allem nicht von jemandem, der einem so nahe stand."
Ich versuchte es wirklich, ich kämpfte mit den Tränen, ich kämpfte gegen diese Gefühle an, denn ich musste stark für meinen Patenneffen bleiben, doch als ich ihren weichen Blick sah, brachen meine Dämme. So zog sie mich in ihre Arme und ihr nächster Patient war für einen Moment vergessen.
"Es kam so plötzlich, ich verstehe es nicht... Wie konnte das passieren?" schluchzte ich und versuchte, meine schwindende Contenance wiederzubekommen. "Es ging ihr doch gut, Milan ist ein Wunder..."
Sie zog ihren Pager heraus und lächelte mich mitfühlend an, bevor sie mir ein Taschentuch anbot und ich mir das Gesicht abwischte und die Tränen trocknete.
"Ich lasse nach Dr. Karev rufen, der wird ihnen Milan zeigen und Sie einweisen. Mr. Stan hat Ihnen eine vollumfassende Vollmacht erteilt. Er wird jeden Moment hier sein, nehmen Sie einfach kurz hier Platz."
Sie nickte mir zu und lief dann in das nächste Zimmer, während ich Platz nahm und mir die Gedanken durch den Kopf schossen. Ich konnte es noch immer nicht glauben, dass sie tot war, aber mit jeder weiteren Minute traf mich die Realisation ein bisschen mehr. Sie war tot und da war nichts mehr, was man daran ändern konnte. Seb war verständlicherweise am Boden zerstört und ich war fassungslos. Und Chris? Chris war der Fels in der Brandung, der seine Ruhe behielt. Auch ihn traf es, das war klar, aber er konnte ruhig und abgeklärt bleiben, während Seb und ich uns von unseren Emotionen leiten ließen. Ich beneidete ihn schon darum.
"Ms. Mark?" hörte ich nun meinen Namen und schaute direkt in die Augen eines jungen Residenzarztes, der mich freundlich anschaute. "Ich bin Dr. Karev und werde Ihnen alles rund um Milan zeigen." Während ich aufstand und mich sammelte, musterte mich der Arzt eingehend und nickte mir zu, als ich bereit dazu aussah. Nachdem er mich in eines der Patientenzimmer gebracht hatte, wies er mich an, meine Schuhe auszuziehen und mich auf das Bett zu legen. "Wenns Ihnen nicht zu unangenehm ist, wäre es nicht schlecht, wenn sie sich den Oberkörper bis auf den BH freimachen würden. Kleinkinder brauchen die Wärme der Eltern und... nun ja, Mr. Stan hat sich bisher geweigert, mit Milan zu interagieren."
Schweigend zog ich mir meinen Pullover und mein T-Shirt aus, während er Milan holen ging und legte mich gemütlich hin. Der Kleine war wach und als Dr. Karev ihn mir auf die Brust hob, sah ich sofort, wie Sebs und Julias Gesichter in ein Gesicht verwandelt worden waren.
"Was genau wird jetzt meine Aufgabe sein?" fragte ich den Doktor nach einer Weile und sah zu ihm hoch. Er schaute mich verständnisvoll an und setzte sich auf den Stuhl neben das Bett.
"Einfach für ihn da sein. Füttern, Windeln wechseln, zum Einschlafen bringen. Sie müssten auch die nächsten 3 Tage über Nacht hierbleiben, wenn Mr. Stan sich nicht dazu bewegen lässt, sich um das Kind zu kümmern und wir müssen über eine mögliche Adoptionsfreigabe sprechen, aber wir hoffen immer noch, dass es nicht dazu kommen muss."
Er seufzte und musterte den Kleinen, dessen Mutter er sterben hatte sehen, aber ich fühlte ihm gegenüber keine Wut. Es war, als wäre ich ruhig, als hätten meine Mutterinstinkte eingesetzt.
"Mein Verlobter redet ihm hoffentlich gut ins Gewissen. Julia und Seb haben so lang auf dieses Kind gewartet, es ist ein wahrliches Wunder. Ich hoffe so sehr, dass er Julia in ihm sieht und ihn nicht aufgibt, das hätte sie nicht gewollt." Ich seufzte, als ich an die verstorbene Rothaarige dachte und wie wir vor ein paar Monaten erst ihre Hochzeit gefeiert hatten - die Hochzeit, auf die sie so lange hingefiebert hatte. "Sie wollten dieses Kind so sehr, ich hoffe einfach, dass Seb das jetzt immer noch sieht. Er ist nicht alleine, wir waren schon immer diese große Familie und er wird immer zu uns kommen können, wenn was ist. Er darf das letzte Stück Fleisch und Blut, was von ihr noch übrig ist, nicht aufgeben."
Dr. Karev nickte nachdenklich.
"Sie war wirklich ein besonderer Teil in Ihrem Leben, das merkt man." Er schaute auf seine Uhr und stand dann auf. "Ich bringe Ihnen gleich noch einen Flaschenwärmer und zwei Flaschen Fertigmilch, dann muss ich leider weiter, meine Runden beenden. Wenn was ist, können Sie nach einer Schwester rufen lassen mit dem roten Knopf auf der Fernbedienung neben ihrem Bett und falls was Dringendes sein sollte, können sie über das Telefon mit dieser Nummer meinen Pager erreichen. Wenn es mir zeitlich reicht, werde ich in zwei Stunden noch einmal bei Ihnen vorbeischauen." Er lächelte mir zu, bevor er sich zur Tür wandte. Gerade, als er durchlaufen wollte, drehte er sich noch einmal zu mir um und schaute mich mit ernstem Blick an. "Ich habe alles dafür getan, dass Ihre beste Freundin überlebt, aber es gab einfach nichts, was wir noch hätten tun können. Mein herzliches Beileid."
Und mit diesen Worten ließ er mich mit dem Kind meiner besten Freundin alleine mit meinen Gedanken und gelegentliche Tränen konnte ich nicht unterdrücken.
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