Kapitel 59: Es war einmal...
Hiro seufzt und drückt mich an den Schultern auf das Bett, um sich auf mich zu legen und seinen Kopf unter mein Gesicht zu graben. Etwas kratzt an der Tür. Erst jetzt fällt mir auf, dass es Ölimöli sein muss, weil er gar nicht hier ist. Hiro setzt sich noch einmal auf und macht Öli auf, welcher sofort auf das Bett gesprungen kommt. Mein Freund nimmt dann die selbe Haltung ein wie vorher und gibt ein Geräusch der Zufriedenheit von sich. Die Katze klettert auf Hiros Rücken und rollt sich dort zusammen. So bilden wir einen kleinen Stapel mit mir, Hiro und Öli. Es ist ein angenehmes Gefühl so zu kuscheln. "Ich erzähl' dir jetzt eine kleine Geschichte", flüstert Hiro mit geschlossenen Augen. Ich lege die Hand auf sein Gesicht und fühle das raue Pflaster und die Stütze. Ob Drake sie gebrochen hat? Oder muss man da dann ein paar Tage im Krankenhaus bleiben? Ich weiß es gar nicht so genau ... Aber das ist jetzt auch unwichtig. Hiro vergräbt seine Hände in meinen Haaren und beginnt.
"Eigentlich solltest du ja selbst drauf kommen, du Dummi. Aber dann fang ich ganz von vorne an." Sein Ton ist ziemlich warm, als wäre er total glücklich beim Erzählen von seiner Geschichte. Wie in einer anderen Welt. "Es war einmal, vor knapp 17 Jahren, ein Kind das an Weihnachten das Licht der Welt erblickte. Die Eltern waren sehr stolz, weil es ein Junge war. Sie sahen es als das Weihnachtsgeschenk einer höheren Macht und das, obwohl sie gar kein Weihnachten feierten, weil es Buddhisten und keine Christen waren." Seine Stimme ist dabei so ruhig, als würde es ihm gut gehen. Ich schließe die Augen und höre ihm gespannt zu. "Die beiden waren ganz doll streng und hatten sehr hohe Erwartungen an ihr Kind. Erwartungen, die es einfach nicht erfüllen konnte. Es war so glücklich, als es noch ganz klein war, aber als die Bildung und die Schule begannen, sollte sich das alles ändern. Das Kind begriff all die neuen Dinge nicht. So viele komische Buchstaben und Zahlen, so viele andere Kinder. Das Kind kam einfach nicht mit, weil es aus der geborgenen Hand der Mutter einfach in eine neue Welt gerissen wurde. Die selbe Hand sollte den Jungen bald auch offen in das Gesicht schlagen, weil er nur eine befriedigende, aber keine gute Leistung in der Schule erbracht hatte." Ich weiß, worauf Hiro damit hinaus will. Er erzählt mir gerade seine Lebensgeschichte ... Und ich glaube ihm jedes Wort.
Ich streichle Hiro über das weiche Haar und die Schultern, über den Rücken und kraule dann seiner Katze das Ohr. "Die Schläge wurden immer mehr, die Strafen immer schlimmer und die Leistung vor lauter Druck immer schlechter, die Liebe zu dem Jungen immer weniger. So wenig, dass sein Vater", ab hier spüre ich, dass Hiros Gesicht feucht wird, "ihn in Kühltruhen gesteckt und gewartet hat, bis der Junge nicht mehr schreit. Aber all das nützte nichts, die Leistungen in der Schule wurden nicht besser. An diesen Ort gab es einen Mann, der hat den kleinen Jungen und noch ein paar andere Kinder immer am Ende des Unterrichts mit in eine dunkle Kammer genommen. Dann hat er gesagt, dass er den Eltern sagt, sie würden ganz böse Dinge tun, wenn sie sich nicht ausziehen, damit er Fotos machen kann. Keines der Kinder hat je etwas gesagt, weil sie alle ganz dolle Angst vor dem Zorn von Mama und Papa hatten. Alle wollten sie doch nur stolz machen, aber für den kleinen Jungen war das unmöglich, egal wie sehr er sich anstrengte."
Hiro sieht kurz weg, um sich die Augen kurz trocken zu wischen, bevor er sich wieder an mich kuschelt. Seine Brust bebt, als müsste er sich wirklich zusammen reißen, um nicht zu weinen. "Der Junge fand Trost in einen kleinen Mädchen, die sein Lehrer auch immer fotografierte. Die beiden wurden gute Freunde und machten so viel zusammen, wie es nur ging." Plötzlich fühle ich sein Lächeln. Ob er wohl auch gerade im Gefühlschaos steckt?
"Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar bis zum Po und dunkle Augen. Sie trug, wenn es keine Schulniform war, gerne weiße Kleider und schwärmte davon, den Jungen irgendwann in so etwas zu heiraten. 'Nur noch viel schöner!', hatte das Mädchen immer gesagt, welches stehts eine Haarspange mit einen Mandarinkäfer trug, damit ihr keine nervigen Strähnen in das Gesicht fielen. Sie war das einzige, was der Junge noch hatte. Doch auch ihr ging es nicht gut, so dass sie bald ging. Sie hatte ihr Ende freiwillig und selbst gewählt und sich vor den Augen des Jungen auf dem Weg zur Schule vor einen Zug geworfen. Eine Welt brach für den Jungen zusammen."
Er atmet einmal kurz tief ein und aus. Mein Magen tut weh, ist angespannt und mir wird unangenehm heiß. "Er hat ganz viel und doll geweint, Tag und Nacht. Mama und Papa wollten den Jungen auch nicht mehr haben und warfen ihn weg. Ja ... sie warfen ihn weg. Sie sind einfach in ein anderes Land gefahren und haben den ganz kleinen Jungen, noch keine zehn Jahre alt, einfach ... in einen anderen Land sitzen lassen ... Sie hatten ihm versprochen, dass alles besser wird und sind mit ihm in den Flieger gestiegen, doch beim Flug zurück gab der Vater dem Jungen ein wenig Geld und sagte zu ihm, dass er eine Schande für die Familie war und nie dazu gehört hatte."
Hiro zittert und Tränen laufen von seinen Wangen. Er steigt von mir ab und lehnt sich gegen die Wand, während er noch im Bett sitzt. "Der Junge", Hiros Stimme ist von ruhig zu brüchig weinerlich gewechselt, "wusste gar nicht was er machen sollte! Er war ganz alleine! Er konnte die Sprache kaum und niemand liebte ihn! Niemand! Keiner wollte ihn haben! Also hat der Junge sich einfach in eine Ecke gesetzt und dort geweint. Ein anderer Junge, der älter war, ist dann zu ihm gegangen und sagte 'Komm mit mir.' Da der Kleine nicht wusste wohin mit sich, ist er mit der fremden Person mitgegangen. Der gab ihm dann Drogen und hatte Spaß daran, dem Jungen weh zu tun. Zum Beispiel hat er den Jungen unter die Coach gelegt und ist dann drauf gesprungen. Er hat gelacht, als er Blut gespuckt hat, aber der Junge hat allen Demütigungen und all den Schmerz ausgehalten. Er hatte sich eine eigene Welt aufgebaut, da wo alles gut war. Wo Mama und Papa einen liebten ... und er das Mädchen mit der Mandarinkäfer-Haarspange heiratete. Wo er gute Leistungen erbrachte ..."
Er meidet meinen Blick und Öli, der inzwischen auf mir liegt, schnurrt vor sich hin. Mein Kopf ist auf ein Kissen gebettet und ich sehe zu Hiro, der sich immer kleiner macht. "Irgendwann kam auch der Tag, an dem diese Welt zerspringen sollte. Der Tag, an dem der Große den Kleinen auf das Bett drückte und sich einfach an ihm verging, egal wie laut der Kleine schrie. Der Junge ... ist dann trotzdem noch bei dem Großen geblieben, weil es sonst keinen Platz auf dieser Welt für ihn gab. Als der Große es doch immer und immer wieder getan hat, hat der Kleine irgendwann die Kontrolle verloren und mit einen Messer ganz oft auf ihn eingeschlagen ... Ganz oft. Und dann war er auch tot. Der Junge weinte wieder, weil er sich selbst das einzige genommen hatte, was ihm irgendwie noch Halt geboten hat. Er ist weg gelaufen, hat sich selbst manchmal weh getan und ist irgendwann von der Polizei aufgegabelt worden, als er sich auf offener Straße die Arme aufschneiden wollte. Von denen wurde er dann in eine psychatrische Anstalt gesteckt, welche gleichzeitig als eine Art Kinderheim durchging. Es war der Platz für alle Menschen, die man weg geworfen hatte, die niemand liebte, und bei denen es jeden egal wäre, wenn sie sterben würden."
Wieder muss er sich kurz ordnen und ich nutze die Zeit ebenso, das alles zu sortieren und erst einmal zu verkraften. Das ist gerade eine ganz schön harte Story ...
"In dem Heim hat der Junge Briefe an Menschen geschrieben, die diese bis heute nie gelesen haben und niemals lesen werden. Er hat seinen Eltern geschrieben, dass er sie liebt und um Verzeihung gebettelt. Er hat dem Mädchen geschrieben, dass er sie nie vergessen wird und sie vielleicht bald besuchen kommt, dort wo sie jetzt ist. Und dass es ihm Leid tut, dass er ihr nicht helfen konnte ... und die beiden nie heiraten konnten. Das Essen in der Anstalt war nicht das beste und die Betreuer hatten manchmal Angst vor den eigenen Patienten. Die wurden oft sogar an ihr Bett gefesselt, wenn sie sich zu sehr aufregten und bekamen Medikamente zur Beruhigung. Der Junge musste sich ein Zimmer mit drei anderen Jungen teilen, die alle etwas älter waren als er." Hiro sieht zu mir und streicht sich erneut über die Augen. "Sie haben sich nachts abgewechselt, Luki..."
Es trifft mich wie ein Schlag und ich bereue es so dermaßen, dass ich Hiro beim Essen auf die Vergewaltigung angesprochen habe ... "Weil der Junge sich trotzdem gut benahm und auch bei den täglichen Gesprächen mit den Psychologen brav war, durfte er adoptiert werden. Eine reiche Familie hatte Mitleid mit ihm und nahm ihn zu sich, doch der Junge hatte einfach nur noch Angst vor Menschen. Er hat sie gehauen und gebissen, doch die Mama der Familie hat ihn trotzdem noch im Arm gehalten, auch wenn der Papa den Jungen gar nicht mehr wollte ... Der Junge bekam sogar ein ganz besonderes Kätzchen, das den Weg nach Hause immer finden wird. Weil der Junge auf normalen Schulen zu viel Angst hatte, hatte die neue Familie einen privaten Lehrer arangiert. Das ging dann so einigermaßen. Der Junge versuchte sich anzupassen, weswegen er irgendwann auch wieder nach draußen ging, um dort ein falsches Gesicht aufzusetzen und vielleicht sogar Freunde zu finden. Doch er fand niemanden, weil Menschen böse sind. Er fand nur Menschen, bei denen man das tun musste was sie wollten, um dazu zu gehören. Dort war ein damals noch blonder Junge mit grauen Augen dabei, der wirkte auf den Kleinen ganz anders. Als er dann ganz alleine und weinend auf einer Schaukel gesessen hatte, kam der andere Junge alleine zu ihm und strich ihm durch sein Haar. 'Nicht weinen, ist doch alles gut', sagte er, doch der Kleine schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mit den anderen reden, also schwieg er nur. Stundenlang. Doch der andere dachte nicht einmal daran, ihn alleine zu lassen, sondern wartete und wartete Stunden im Regen, bis der Junge etwas sagte. Dann hat der andere den Jungen ein Versprechen gegeben. Das Versprechen, dass er dem Kleinen auch die guten Seiten der Welt zeigen würde."
Ich erinnere mich ... tatsächlich... Ich erinnere mich an diesen Tag. Es ist genauso gewesen, wie Hiro es beschrieben hat. Ich hatte mich geweigert, ihn alleine auf der Schaukel im Regen sitzen zu lassen ... Ist das der Grund, warum er mich liebt? Warum er immer in meiner Nähe war, aber wir doch nie geredet haben? Ich habe Tränen in den Augen, als ich mich zu ihm lehne und seine Stirn küsse.
"Ich wünsch dir ein Happy End."
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