Kapitel 55: Das letzte Gefühl
Was ich in letzter Zeit so viel mit Hiro mache? Die Farbe weicht eigentlich grundlos aus meinem Gesicht. Ist ja nur eine normale Frage ... "Ihr habt vorher nie so viel miteinander gemacht", stellt Drake fest. "Na ja, ich weiß nicht. Er hat mich irgendwann einfach gefragt, ob wir etwas zusammen machen wollen ... und dann habe ich eben zugesagt. Wir haben gelabert, uns besser kennen gelernt ... Und seitdem machen wir eben so viel miteinander."
"Ach so ...", entgegnet er, als ob er plötzlich das von eben komplett verdrängt hätte. "Nick hat gemeint, Hiro hätte sie nicht mehr alle."
Ich verdrehe die Augen. "Er ist ein bisschen anders, ja, aber so ausdrücken würde ich das jetzt auch nicht." Drake nickt. "Nick hat so gemeint, du und er wärt n' Paar." Mir bleibt der Mund offen. Was erzählt Nick das bitte herum!? Und dann auch noch Drake!?
"Stimmt nicht", zische ich sofort und fühle mich wieder schlecht ... Ich stehe nicht zu meinem eigenen Freund. Irgendwie ist das richtig scheiße von mir ... Aber mal so richtig scheiße. "Ach so ... Na ja, wenn du es sagst, dann glaub ich dir!" Wie schön! Ich bin mal wieder wütend auf Nick. "Alles okay, digga?" - "Ja, alles gut."
Nach kurzen Schweigen bricht Drake die Stille wieder: "Ich hab das eh nicht geglaubt. Wäre auch der übelste Müll gewesen. Ich meine, ich hätte doch bemerkt, wenn du mir Jahre lang auf den Arsch geschaut hättest." Ich weiß gerade nicht, ob das sein Ernst oder Spaß ist. Außerdem habe ich Drake damals wirklich oft angesehen und er hat es nicht gemerkt ... Irgendwie peinlich.
"Ja ... Alles klar ..."
"Aber das Hiro ne Schwuchtel ist, ist das wahr? Auch wenn ihr kein Paar seid."
"Wie kommst du eigentlich auf so eine Scheiße?" Mein Ton wird aggressiver. Ich will über das Thema verdammt nochmal nicht reden! "Na ja ... Schau dir Hiro mal an! Der war doch schon immer voll komisch."
"Alter! Glaub doch, was du willst?!"
"Wasn los mit dir, mann?"
Ich stehe auf und gehe Richtung Haustür. Keinen Bock mehr. Ein Stich von Wut durchzieht mich, als Drake sich einfach in meinen Weg stellt. "Is er denn ne Schwuchtel?"
Wutentbrannt drücke ich Drake zur Seite. "Keine Ahnung, mann! Vielleicht!", zische ich noch, bevor ich aus dem Garten laufe. Alles kacke, ey ... Sofort vibriert mein Handy. Spamnachrichten von Drake. Überpräsent sind Smileys, die aussehen, als hätten sie Gott persönlich getroffen.
-Ohaaaa-, schreibt Drake. -Krank! o.o-
Mega krank. Ich bin doch auch krank ...
Es tut weh, dass ich Drake nicht die Wahrheit sagen kann. Nicht mal das mit David hat er verstanden. Für ihn kommt es einfach nicht in Frage, dass ich homosexuell bin, so dass er es nicht checkt ... Ist wohl auch besser ... Aber was ist jetzt mit Hiro? Drake wird ihn bestimmt ausschließen ... Wie scheiße von mir ...
Auf dem Weg nach Hause erwische ich mich beim Selbsthass und auch Zuhause selbst ist es nicht besser. Wenigstens trösten mich meine Ratten ein klein wenig ...
"Schatz? Wie gehts dir?", weckt mich die Stimme meiner Mutter, während sie mir sanft über die Haare streichelt. Ich bin wohl eingeschlafen - auf der Coach im Wohnzimmer. Meine vier Ratten laufen noch immer auf mir herum und zwei schlafen zusammen gerollt an mir. "Es geht so", sage ich und lächle schwach. Der Fernseher läuft noch. Aus den Augenwinkeln erkenne ich ein Mädchen in ziemlich unpassender Kleidung und zwei roten Zöpfen, die zusammen geflochten sind. Ach, wer kennt sie nicht? Diese kleine Bitch wollte ich schon als kleinen Jungen immer töten ...
Ich bekomme einen Kuss auf meine Stirn. "Ich mache mir Sorgen, wenn du einfach weg bleibst, ohne dich zu melden ... Es ist spät ... Magst du nicht in dein Bett?"
Ich schüttle nur den Kopf, der auf ein Sofakissen gebettet ist. "Mach nicht mehr zu lange", flüstert sie und streichelt kurz mit dem Finger eine der Ratten, bevor sie geht.
Ich schweife wieder zum TV und streichle meine Babys. Es ist wohl eine Wiederholung oder so etwas ähnliches ... Das Weib ist mit ihren zwei Freunden auf einen zu einem Helikopter umgebauten Fahrrad unterwegs. Einer tritt in die Pedale, der andere lenkt und die Tusse selbst steht allen ernstes mit einem Besen in der Hand in der Mitte, hält ihn waagerecht und dreht sich mittlerweile mit einer Art Lichtgeschwindigkeit im Kreis. Natürlich fliegt das Ding! Warum gucke ich mir den Scheiß hier gerade bitte an?
Obwohl die Logik dieser Serie mich schon aggressiv macht, gucke ich weiter. Sie gehen baden und hängen die Kleidung an Büschen auf. Von irgendwo im Nirgendwo kommt eine Kuh daher und frisst das einfach mal. Alles klar. So ein Müll. Am Ende setzen sie sich in Fässer und schwimmen damit den reißenden Fluss herunter und freuen sich auf den Wasserfall ... Die Steine sind aus Pappe, wie jeder erkennt ... Und Pipis Sprüche! Sie ist der Grund, warum ich schwul bin, stelle ich fest ...
Mir reicht es, als die Langstrumpf dank speziellen Kleisters an der Decke eines Waisenhauses herum rennen kann und schalte den Fernseher aus. Es ist komplett dunkel um mich herum ... Und nachdem ich die Ratten in den Käfig gebracht habe, ist auch für mich Bettzeit. Diese Zeit, in der man im Dunkeln liegt und alles wieder hoch kommt, weil die Ablenkung ein Ende genommen hat. Genau diese Zeit ...
Es ist scheiße tagelang allein zu sein, dennoch bin ich es. Am Montag muss ich wieder in die Schule und mein Geschichtslehrerin würdigt mich keines Blickes ... Ist mir lieber, als dass sie mich anschreit ... Das geht einige Tage so, bis ich eine Nachricht von Hiro bekomme. - Hast du es Drake gesagt? - Ich weiß genau was er meint ... Mir geht es richtig schlecht wegen Hiro, irgendwie. - Sorry ... - Lügen bringt hier ja nichts. - -.- ... -
Ich hasse böse Smiles von wichtigen Menschen. - Können wir mal reden? -
- Jo - Auch das tut weh. Wenn Hiro "Jo" sagt, dann ist das meistens nicht positiv. Genauso wie "Aha" ... Das ist sowieso so ein Zickenwort. Wir machen aus uns bei mir zu treffen. Hiro braucht nie besonders lange.
Ich traue mich fast gar nicht die Tür zu öffnen und starre beschämt auf den Boden, während Hiro sich die grauen Nikes an der Fußmatte abtritt. Wortlos kommt er herein. Thema Vergewaltigung ist Tabu, nicht vergessen, Luke! "Hey", sagt er leise und gibt mir sogar einen sanften Kuss, als ich zu ihm sehe. Wie automatisch schließen sich meine Augen für den kurzen Moment der Zärtlichkeit. "Tut mir Leid ... Drake hat mich irgendwie unter Druck gesetzt ..." Aufgeregt erkläre ich ihm alles, was passiert ist. Dabei komme ich ziemlich durcheinander. "Und das in Restaurant, das tut mir auch voll Leid, ich-..."
"Scht...", flüstert er und drückt mir sanft den Finger auf die Lippen. "Ist schon okay."
Überrascht schaue ich ihn an. Er lächelt sanft, gar nichts übrig von seiner Laune im Chat. Ob es nur eine Maske ist? Er innerlich gerade ausrastet? Wenn ja, dann kann er das echt verdammt gut ... "Ehrlich?" - "Ganz ehrlich."
Hiro legt die Arme um mich und stellt sich auf die Zehenspitzen, um mich zu umarmen. Dabei ist er doch gar nicht so viel kleiner als ich. Nur ein paar Zentimeter. Hiro nimmt mich an der Hand und führt mich die Treppen nach oben. Schon bald liegen wir nebeneinander im Bett, Arm in Arm. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Alles ist so komisch. Zuerst ist er so sauer, dann so ... so süß und verständnisvoll. Er streichelt mir über die Haare und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Plötzlich setzt er sich dann auf. "Was ist?", frage ich, als er sein Handy zückt.
"Ich rufe Drake an."
"Warum?" Ich will das nicht ... irgendwie.
"Damit du siehst, dass du ihm nicht sagen darfst, dass du es auch bist." Dabei lächelt er süß und hat die Nummer aus dem Kopf eingegeben. Ob er übethaupt Verwendung für das Kontaktbuch findet?
Hiro sitzt im Schneidersitz und stellt den Lautsprecher an. Drake geht beinahe sofort ran. "Was willste, du Schwuchtel?", ist das erste, was er sagt. Kein Hauch von Sarkasmus in Drakes Stimme. Es tut mir wohl mehr weh als Hiro, der keine Miene verzieht. "Was?", fragt er und ich darf Hiro live beim Verstellen zusehen. Keine einzige Mimik in seinem Gesicht verändert sich in das Negative. Er sieht eher ruhig und ausgeglichen aus, während seine Stimme aufgebracht klingt. "Weißt schon, was ich meine", tönt es aus dem Handy. "Nein?", sagt Hiro, als würde er sich angegriffen fühlen. "Ich wollte nur fragen, ob du mit mir und-..."
"Maul, du Schwanzlutscher. Ich wusste schon immer, dass bei dir was nicht ganz stimmt! Ruf mich nicht mehr an und verpiss dich bitte, hast eh nie zu uns gehört ... Sag mal, hast du laut? Ich hör mich doppelt."
Hiro grinst mich an. "Wie kannst du sowas nur sagen?" Auf einmal klingt er, als ob er weinen würde - obwohl er mich anlächelt ... Es verdreht meine Wahrnehmung irgendwie... Keine Ahnung. "Halt dich mal von Luke fern, der will dich nicht in den Arsch ficken." Als mein Name fällt ändern sich Hiros Gesichtszüge und stimmen plötzlich mit der Tonlage überein: "Lass Luke da raus, du kleine Missgeburt, sonst komm ich und sorg dafür, dass du deine Zähne auf nem von Blut verschmierten Asphalt aufsammeln kannst!"
Ich bin schockiert! Sowas hat noch nie jemand zu Drake gesagt. Und dann auch noch unser Mauerblümchen Hiro! "Hahaha!", lacht Drake ihn aus. Er weiß nicht, dass Hiro auch Nick umhauen kann, wenn er es denn will. "Ey Hiro, halt dein Maul, okay? Tust doch keiner Sau was, also tu nicht so geil. Du-..."
Hiro jedoch legt einfach auf und sieht mich an. "Dich würde er nicht anders behandeln", sagt er noch immer gereitzt.
Traurig sehe ich ihn an. "Das wars jetzt?"
"Ja."
"Warst ganz schön frech..."
"Mir doch egal - weißt du wie irrelevant Drakes Verlust für mich ist?" Er umarmt mich, küsst meinen Hals. "Nur du bist mir wichtig, Luke.. Nur du. Solange ich dich habe, ist mein Leben okay." Mir kommen die Tränen ... Ich mag so emotionales nicht ... "Ich liebe dich..."
Ich berühre Hiros Hüfte. Das was dort ist stimmt mich unglücklich. Die Wunden, tiefe Schnitte in weicher Haut. "Hiro..?"
"Mhm?", er umarmt mich noch fester. "Wieso ritzt man...?"
Hiro seufzt leise in meinen Hals. "Das kann ganz verschiedene Gründe haben..", flüstert er. "Selbsthass - Selbstbestrafung ... Andere aus Aufmerksamkeit ..."
"Und warum ritzt du?" Ich weiß, ich habe sowas schon mal gefragt ... Aber ich will es genauer wissen. "Wohl ein Misch aus allen", haucht er mir zu und drückt mich immer fester. "Weil der Schmerz manchmal das letzte Gefühl ist, das mir zeigt, dass ich noch am Leben bin."
Eine Gänsehaut stellt sich auf. Eine negative ... "Okay...", ist alles, was ich erwidern kann. "Ich muss jetzt wieder gehen, Luke ... Mein Schatz. Du bist mein ein und alles ... Und Ölimöli natürlich auch." Ich lächle leicht und erzwungen. Mein Hiro ... Mit einen sanften Kuss verabschiedet er sich und ich kann die Haustür klappen hören.
Ich denke über das Gesagte nach ... Manchmal ... da fühle ich mich auch einfach nur taub. Vielleicht...? Nein! Schlag dir das sofort aus dem Kopf, Luke!
Ich gehe in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. Doch wieder diese Gedanken, als mein Blick auf die Schublade mit den Messern fällt.
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