5 | März 2019
So gern er sich bei Christian melden würde – Michael kannte sich, am Ende würde es wieder in einem Desaster enden, so wie es auch mit Julia und Simon mit einer Katastrophe geendet hatte. Es dauerte mehrere Tage, bis er an einem stressigen Tag die Selbstbeherrschung verlor und mit zitternden Fingern und wild klopfendem Herzen Christians Nummer in sein Handy übertrug.
Der kleine Post-It Zettel, auf dem er sie notiert hatte, hing seit dem Tag, an dem er ihn auf seinem Schreibtisch gefunden hatte, an der kleinen Pinnwand in seinem Eingangsbereich. Wann auch immer er seine Wohnung verließ, oder nach Hause kam, strichen seine Finger ehrfürchtig über die Zahlen. Sie waren so verführerisch, gaukelten ihm vor, dass er haben konnte, was er sich wünschte. Aber er verbot es sich, seiner Neugier nachzugeben, denn ihre gemeinsame Nacht hatte ihm bereits deutlich gezeigt, dass er nicht so weit war. Eigentlich war es ihm schleierhaft, warum Christian ihm dennoch seine Nummer hinterlassen hatte.
Er schrieb mehrere Textnachrichten und löschte sie wieder. Frustriert sperrte er sein Handy, legte es weg. Tigerte durch seine Wohnung und nahm es wieder zur Hand. Christians Gesicht tauchte vor ihm auf, die dunklen, exotisch anmutenden Augen, das Tattoo, das sich so verführerisch an seinem Oberkörper hinab zog. Konnte man jemanden vermissen, den man kaum kannte? Oder vermisste er viel mehr das, was sein könnte?
An diesem Abend schickte er Christian keine Nachricht, sondern fuhr ins Fitnessstudio und quälte seine Beine, bis diese drohten, unter ihm nachzugeben. Nach seinem Workout wäre er am liebsten zurück in sein Auto gekrochen und war einfach nur froh, dass der Sport ihm die nötige Ablenkung verschafft hatte.
Auch an den nächsten Tagen war die Versuchung einfach eine Textnachricht abzuschicken allgegenwärtig, denn das kurzfristige Event zehrte an seiner Kraft und seiner Selbstbeherrschung. Beinahe jeden Abend tippte er Nachrichten, die er nie abschickte und haderte mit sich.
Felix hatte ihm geraten, zu sich zu stehen. Wenn er dieser Anweisung nachkommen wollte, müsste er ihn endlich anrufen oder den senden Button drücken. Aber er konnte Christian nicht gerecht werden, dessen war er sich sicher. Und verstecken wollte er sich nicht wieder. Warum konnte Christian nicht einfach eine Frau sein? Das würde alles so viel einfacher machen. Ein dünnes Stimmchen in seinem Hinterkopf flüsterte ihm allerdings ein, dass er nicht wie ein verwundetes Tier zwischen Flucht und Angriff verharren würde, wäre dies der Fall.
Eine weitere Woche später, hatte er auch das schreckliche Kundenevent hinter sich gebracht und war in euphorischer Stimmung. Mit Stefanie hatte er sich das ein oder andere Glas Sekt gegönnt, nachdem die Vertreter der Firma sich bei ihnen für die gute Arbeit in so kurzer Zeit bedankt hatten. Er konnte das Grinsen kaum mehr von seinem Gesicht verbannen und der Sekt, der auf frisch auf seiner Zunge prickelte, tat sein Übriges. Noch in der Location zückte er sein Handy und rief den Kontakt auf, der lediglich mit Christian betitelt war.
Danke für den Kaffee! Ich würde mich gerne revanchieren.
Michael
Die Nachricht war verschickt, bevor er sie zweimal gelesen hatte. Das tat er erst, als es schon zu spät war. Sofort stolperte er über das Wort revanchieren. Es hatte definitiv eine Konnotation, die er nicht gewollt hatte. Ihm blieb aber keine Zeit, die Zeilen wieder zu löschen, denn die App zeigte ihm, dass sie bereits gelesen wurde. Er schluckte schwer und beobachtete dann, wie ein Profilbild erschien. Er hatte seine Nummer gespeichert und als Kontakt bestätigt. Ganz so schlimm war seine Nachricht vielleicht doch nicht gewesen? Ob er ihm übelnahm, dass er zwei Wochen gebraucht hatte, um ihm zu schreiben?
Hallo Michael, was schwebt dir denn vor?
Unwillkürlich musste er grinsen, allerdings stellte er sich nun die Frage, was er überhaupt mit seiner Nachricht bezweckte. Aus seiner Laune heraus hatte er sich gemeldet, weil er seine Freude teilen wollte. Weiter hatte er aber nicht gedacht. Tief durchatmend, tippte er wieder. Er wollte ihn wieder sehen, er wollte, dass Christian sich in Zukunft mit ihm freuen würde, wenn etwas Gutes passierte. Er wollte so sehr wieder jemanden in seinem Leben haben, mit dem er seine Gedanken teilen konnte. Jemand, der nicht sein Bruder war. Warum genau er diesen Wunsch auf ausgerechnet auf Christian projizierte, konnte er sich selbst nicht beantworten. Der Sekt schien seine Gedanken zu vernebeln und seine Gefühle zu klären, um ihm zu zeigen, wohin sein Herz wollte und mit einem Lächeln im Gesicht schickte er den nächsten Absatz los.
Da wir das mit dem Kaffee schon hatten, würde ich dich gerne auf ein Bier einladen. Wie klingt das für dich?
Er konnte sehen, dass Christian dabei war, seinerseits eine Antwort zu formulieren, denn die drei Punkte hinter seinem Namen hüpften fröhlich auf und ab. Allerdings tauchte Steffi aus dem Nichts neben ihm auf und zwang ihn dazu, seinen Bildschirm zu sperren und das Handy in seiner Chino verschwinden zu lassen, denn sie zog ihn noch einmal in Richtung der Kunden, um den Abend gemeinsam ausklingen zu lassen.
Am Mittwochabend der nächsten Woche parkte Michael seinen Audi in der Tiefgarage der Innenstadt mit einem besorgten Blick auf die Uhr. Schon als er die Tür seines Büros hinter sich geschlossen hatte, war ihm klar gewesen, dass er zu spät zu ihrer Verabredung sein würde. Auf dem Weg zum Auto musste er sich schon mit einer schnellen Nachricht entschuldigen, bevor er sich überhaupt auf den Weg zu ihm machen konnte.
Sie trafen sich in einem Lokal, das am frühen Abend eine kleine Speisekarte bot und später zum beliebten Treffpunkt der Studentenschaft wurde. Christian hatte die Bar vorgeschlagen und Michael hatte in der Vorfreude auf einen entspannten Abend zugestimmt. Er freute sich nicht nur auf ihre gemeinsame Zeit, sondern auch diese an einem gemütlichen Ort verbringen zu können, der nicht den Druck eines förmlichen Dates verströmte.
Natürlich hatte er es nicht mehr geschafft bei seiner Wohnung anzuhalten und sich in ein lässigeres Outfit überzustreifen, sodass nun die glatten Sohlen seiner Lederschuhe über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone wetzten. Die Temperaturen wurden lauer und der Schnee war aus den Straßen verschwunden, aber Michael zog auf dem kurzen Fußmarsch zur Bar seinen Filzmantel mit einem Frösteln enger um sich.
Vor dem schmalen Altstadthaus im barocken Stil hielt er kurz inne, wischte seine Handflächen an der Jeans ab und sah sich suchend um. Der Blick auf sein Telefon verriet ihm, dass Christian bereits drinnen auf ihn wartete.
Durch einen niedrigen Türsturz betrat er schließlich das Lokal mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Wärme und Lautstärke des kleinen Gastraums hießen ihn willkommen und grüßen ihn mit einem wohligen Flair. Aufmerksam sah er sich um und suchte den Raum nach Christian ab, denn die meisten Tische waren schon besetzt und die Vorfreude auf diesen Mann wuchs mit jeder Sekunde.
Zu seiner rechten befanden sich mehrere hohe Tischchen, an manchen standen zusätzlich urige Hocker aus blankem Holz, die sich insbesondere zu späterer Stunde Beliebtheit erfreuen würden. Vor ihm befand sich der ikonische, grasgrüne Bartresen, auf dem einige Frösche aus Keramik saßen, die sogar den Zapfhahn zierten. Christian entdeckte er letztendlich links von sich an einem der Tische, die unter der Woche auf der kleinen Bühne aufgestellt wurden und somit leicht erhöht im Raum standen. Mit einem frechen Grinsen hob dieser die Hand zum Gruß und winkte Michael zu sich. Ohne Zeit zu verlieren, setzte sich dieser in Bewegung, um die zwei Stufen zur Bühne hinaufzusteigen, die mit einem Holzgeländer vom restlichen Raum abgetrennt war.
Zu seiner Erleichterung stand Christian auf und zog ihn in eine kurze, aber herzliche Umarmung, bevor er sich den Kopf über eine angemessene Begrüßung zerbrechen konnte. Sie tauschten einige Worte des Wiedersehens, während sich Michael aus seinem Mantel schälte und sich zu Christian an den schweren Echtholztisch setzte, dessen Maserungen von den Abdrücken etlicher Biergläser unterbrochen war.
„Ich habe schon Getränke bestellt, ich hoffe das war okay", ließ ihn Christian wissen, als ein Kellner in grüner Schürze zwei Krüge Bier vor ihnen abstellte und höflich nach den Essenswünschen fragte. Sie vertrösteten den jungen Mann für den Moment und Christian hob sein Glas.
„Schön, dass Du das bist. Komm, lass uns auf den Abend anstoßen", forderte er ihn mit einem entwaffnenden Lächeln auf, das die Fältchen um seine Augen zeigte.
„Dann, Prost. Auf den Abend", pflichtete ihm Michael bei und tippte sein Glas gegen Christians. Das kühle Bier schmeckte fantastisch, herb und fruchtig zugleich.
„Mhh", machte er und drehte den Krug in den Händen, um die blonde Flüssigkeit nach Antworten abzusuchen, „das ist ja lecker. Welches ist das?"
„Freut mich, dass es dir schmeckt", lächelte Christian weiter und erklärte ihm noch, was die Besonderheit an dieser Brauerei war, als der Kellner zurück an ihrem Tisch kam und erneut nach ihrem Essen fragte.
„Weißt Du, was Du möchtest?", fragte Christian, doch Michael schüttelte nur den Kopf. Er hatte die Karte noch nicht in der Hand gehabt und war schon so lange nicht mehr hier gewesen, dass er nichts aus dem Gedächtnis bestellen konnte.
„Ist es okay, wenn ich nochmal für uns bestelle?"
„Mach ruhig", erlaubte ihm Michael und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um sein Gegenüber zu beobachten, während dieser selbstsicher einen Burger und einen Flammkuchen orderte. Er drückte seine Mundwinkel nach unten, um nicht dümmlich zu grinsen. Burger waren immer gut. Der Kellner ging und Michael nahm das Gespräch wieder auf.
„Und Du, wo hast Du deine Ausbildung zum Biersommelière gemacht?"
Christian lachte ob dieser Frage herzhaft und legte den Kopf leicht in den Nacken. „Also, so gut kenne ich mich auch nicht aus. Aber unsere letzte Weihnachtsfeier war in der Brauerei ein Bier-Tasting. Und ich finde die eben sehr gut. Bin ich froh, dass Du anscheinend kein Weintrinker bist?", setzte er kess nach.
„Doch schon", grinste Michael, „eigentlich sogar lieber als Bier. Aber das ist wirklich gut. Du weißt anscheinend ganz genau, was ich gern mag."
Sein Herz begann schneller zu schlagen, als ihm klar wurde, welche Bemerkung eben fröhlich aus seinem Mund entkommen war. Hatte er gerade versucht zu flirten?
Christian leckte sich frivol über die Lippen. „Ja, ich glaube ein bisschen was habe ich da schon über dich gelernt."
Seine Augen funkelten, als er sich durch die schwarzen Haare fuhr und Michael mit seinem Blick fixierte. Der Atem stockte Michael bei dieser bewusst inszenierten Aussicht in der Kehle, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Aber er schaffte es, dem intensiven Blick statt zu halten, wobei ein kühler Schauer der Erregung über seinen Rücken wanderte. Die Freude heute hier mit ihm zu sitzen, war riesengroß.
Der übereifrige Kellner riss sie aus ihrem Moment, in dem er ein milchig hellgrünes Gläschen mit einem brennenden Teelicht darin auf ihren Tisch stellte, und ihnen versicherte, dass das Essen sofort fertig wäre. Geschäftig mache er sich daran, auch auf den Nebentischen die Lichtlein zu verteilen.
„Schau, jetzt macht er es uns auch noch romantisch", scherzte Christian.
„Romantisch wäre es wohl, wenn er nicht alle zwei Minuten auf der Matte stehen würde."
„Ich glaube der findet dich gut", neckte er ihn weiter.
„Ach was", verlegen sah Michael auf seine Fingernägel hinab.
„Wer kann's ihm schon verdenken. In dem Outfit siehst Du auch verboten gut aus", überraschte er Michael mit einem ungenierten Kompliment. Sein schnellte Blick erst wieder zu Christian, nur um anschließend an ihm selbst hinabzuwandern. Sein weinrotes Hemd und die teure Uhr an seinem Handgelenk waren aber auch eine, wenn nicht sogar mehrere Nummern zu schick für die legere Bar, in die sich Christian mit seinem einfachen Langarmshirt deutlich besser einfügte.
„Ich hatte schon Angst, ich wäre underdressed", antwortete er deswegen schmunzelnd und nippte an seinem Bier. Die Subtilität war für den Abend dann also begraben und das Eis gebrochen. Von diesem Punkt an floss das Gespräch entspannt dahin, durchzogen von gelegentlichen anzüglichen Kommentaren von Christian, die Michael besser gefielen, als er sich es erträumen hätte können.
Als das Essen vor ihnen abgestellt wurde, war Christian gerade dabei, ihm von seiner Leidenschaft für das Mountainbiken zu erzählen. Seine Ausführungen stoppten für den Moment, in dem er Michael den Teller mit einem saftig aussehenden Burger zuschob und sich selbst daran machte, den Flammkuchen in handliche Stücke zu zerteilen.
„Guten Appetit!", nuschelte er dann, nachdem schon der erste Bissen zwischen seinen Lippen verschwunden war.
„Ja, ja! Dir auch!" Michael beobachtete grinsend, wie Christian sich seinen Zeigefinger in den Mund steckte, um etwas Schmand davon zu lutschen und dabei mit einem Auge zwinkerte.
Wie hatte er es nur verdient, dass sich ausgerechnet dieser Mann für ihn interessierte?
Mit einem beherzten Biss in den Burger lenkte er sich von dem köstlichen Anblick seines Gegenübers ab und schloss genießerisch die Augen, sobald der überwältigende Geschmack auf seine Zunge traf. Ziegenkäse und Preiselbeeren auf einem Burger? Es funktionierte!
Mit einem Seufzen schluckte er, bevor er wieder zu Christian sah, der seine Regungen genau studierte.
Mit einem schiefen Grinsen fragte dieser: „Na, bereust Du schon, dass ich dein Essen ausgesucht habe?"
„Wie denn? Das ist fantastisch!" Sie grinsten beide. „Nur Du wärst sicher noch besser", hängte er an und biss sich auf die Lippe.
Was machte Christian nur mit ihm? So kannte er sich nicht, aber es war Balsam auf seinem nervösen Herzen. Das Spiel zwischen ihnen kreiste nicht mehr darum, ob sich Anziehung zwischen ihnen aufbaute, sondern vielmehr darum, wer dieser als Erster nachgab. Egal wie viele Sorgen er sich in den letzten Tagen über das Treffen und die möglichen Konsequenzen gemacht hatte, die Sekunde, in der der er Christian wieder in seine Arme hatte schließen können, hatte diese einfach aus seinem Kopf gelöscht. Er war hier und es war gut so. Sollte er ihn wieder mit zu sich nach Hause nehmen, würden sie dieses Mal sicherlich andere Wege einschlagen.
Mit dem Bild von Christians nacktem Körper vor dem inneren Auge versuchte er, den Schwarzhaarigen nicht direkt anzusehen, da er genau spüren konnte, wie ihm die Hitze in den Kopf schoss. Stattdessen schweifte sein Blick das erste Mal seit einer Weile wieder durch den Raum, der sich in den letzten Minuten noch weiter gefüllt hatte. Er kniff die Augen prüfend zusammen, denn er glaubte mitten in dem Gedränge vor der Bar bekannte, braune Locken auszumachen.
„Kommst Du eigentlich mal mit?", fragte Christian und lenkte damit seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn und fegte die Locken aus seinen Gedanken.
„Wohin?", entgegnete Michael etwas dümmlich und biss wieder in seinen Burger.
„Na, zum Mountainbiken. Ich weiß schon, bei uns ist das weniger Mountain und mehr Biken, aber ich habe letztens mit meinem Kollegen eine neue Strecke gefunden. Das wäre vielleicht was für uns?"
„Und Du bist dir sicher, dass ich das packe? Ich war schon ewig nicht mehr mit dem Rad unterwegs", warf Michael skeptisch ein.
„Ach klar! Du bist doch fit! Zumindest, nach dem zu urteilen, was ich letztes Mal sehen konnte. Es war ja dunkel", feixte Christian.
„Ach, so ist das", Michael lehnte sich zurück und spannte seine Muskeln absichtlich an, die sein Hemd ohnehin strafften und genoss die Wirkung, die er damit auf Christian hatte. Dessen Grinsen wurde noch breiter und er tippte sich spielerisch gegen das Kinn.
„Ich glaube, die Inspektion über deinen Trainingsstand müssen wir nochmal genauer durchführen", er lehnte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Auf seinen Lippen lag ein teuflisches Grinsen, bar jeder Scham. Zu Michaels großem Erstaunen amüsierten und erregten ihn die ungezügelten Sprüche, sein eigenes Lächeln fraß sich in seinen Mundwinkeln fest, die bereits begannen zu schmerzen.
Alles war so leicht, so einfach. Seine Hormone taten ihr übriges, sodass seine Gedanken auch schon weit über ihre Zeit in im Lokal hinausgingen. Ihr Tisch stand so am Rand, dass Michael sich nicht großartig beobachtet fühlte und die Lautstärke dämpfte ihre Unterhaltung, sodass er sich auch nicht vor neugierigen Zuhörern fürchtete. Alles lief gut. Besser als gut. Bestens.
Auch er stützte sich nun auf dem Tisch ab und kam Christian damit gefährlich nahe. Er war bereit, sofort die Rechnung zu fordern, auch wenn auf beiden Tellern noch Reste des Abendessens lagen. Gott, er wollte diesen Mann. Und so wie sich ihre Blicke nun kreuzten, hatte er keinen Zweifel daran, dass dieses Verlangen auf Gegenseitigkeit beruhte. Seine Atmung beschleunigte sich, als ihre Gesichter nur noch wenige Handbreit voneinander getrennt waren und sie sich einfach nur lachend ansahen.
Was mit einem One-Night-Stand begonnen hatte, konnte mehr werden. Zumindest sah es nicht danach aus, dass es bei dem heutigen Treffen bleiben würde, wenn Christian ihn schon auf eine Tour mit dem Mountainbike einlud. Seine Wangen glühten.
Das Klingeln von Christians Handy durchbrach ihre Zweisamkeit mit unbarmherziger Grausamkeit. Frustriert stöhnend zog er es aus seiner vorderen Hosentasche und beäugte das Display kritisch.
„Mist, Du, das ist mein Chef. Da muss ich dran gehen", sagte er entschuldigend, während er aufstand. „Ich bin gleich wieder da."
Während Christian von der kleinen Bühne stieg und sich auf dem Weg nach draußen das Telefon gegen das Ohr presste, lachte Michael in sich hinein, nutzte die Zeit zum Durchatmen. Wirklich hungrig auf seinen Burger war er nicht mehr, aber da dieser so gut schmeckte, biss er noch einmal herzhaft ab. Appetit hatte er auf etwas ganz anders, jegliche Zweifel daran waren wie weggeblasen.
„Hallo Michael", erklang eine Stimme neben ihm, die er verzweifelt versucht hatte, aus seinem Leben zu verbannen und die eine ganz andere Art des Schauderns über seinen Körper schickte. „Darf ich mich setzen?"
„Nein", wies ihn Michael zurück. Nur zaghaft traute er sich den Mann, der neben seinem Tisch stand, zu mustern. Seine Kleidung war lässig, aber schick. Sein Körper war sportlich und sexy. Seine braunen Locken fielen ihm im perfekten Chaos in die Stirn. Er sah auch nach den zweieinhalb Jahren, in denen sie sich nicht mehr getroffen hatten, noch immer blenden aus.
„Hab dich nicht so", mit diesen Worten zog der Christians Stuhl zurück und setzte sich. Er strich sich elegant durch die Haare und lächelte.
„Simon, was willst Du? Was machst Du überhaupt hier?", fragte Michael und lehnte sich im Stuhl nach hinten. Alles in ihm hoffte, dass Christian gleich zurückkommen würde, um ihn vor dieser Situation zu retten.
„Na, hören wie es dir geht. Du bist das letzte Mal so plötzlich verschwunden. Schade eigentlich."
Michael verzog gequält das Gesicht. Mit einer schlimmeren Ansage hätte er das Gespräch kaum beginnen können, denn die Erinnerung an eben jenen Abend versuchte Michael seither vergebens zu verdrängen. Zwischen zusammengepressten Zähnen zischte er ihm eine Antwort entgegen. „Wie geht's Vanessa?"
„Gut", Simon lächelte. „Wir sind schwanger."
„Bitte was?", Michael starrte ihn fassungslos an. Dieser Mann erzählte ihm nicht allen Ernstes, dass er mit der Frau, die er nur als Alibi an seiner Seite hatte, nun auch noch Familie spielen wollte.
„Ja, im August ist es endlich so weit. Wir haben schon ein Haus gekauft. Übrigens ganz in der Nähe von euch", Simon lächelte noch immer unergründlich. „So gehört es sich eben."
„Ich wohne da nicht mehr", stellte Michael nur trocken fest und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Wo blieb Christian?
„Weiß ich doch. Das war damals ganz schön dumm von dir, dein Leben so wegzuwerfen. Julia ist eine tolle Frau, ich habe sie mittlerweile kennen lernen dürfen."
„Lass das mal meine Sorge sein."
„Nein, ehrlich, Michi. Stell dir vor, unsere Kinder könnten zusammen spielen und wir haben auch unseren Spaß...", der Unterton in den letzten Worten war rau. Michael wurde schlecht. Das hervorragende Essen drohte, sich wieder aus seinem Magen zu entfernen. Wie konnte dieser hübsche Mensch solche Worte aussprechen? Fassungslos starrte er ihn an, unfähig die völlige Tragweite seiner Implikation zu verstehen. Er schluckte Galle und versuchte vergebens die Bilder ihrer Affäre aus seinen Erinnerungen daran zu hindern, sich präsent vor seinem inneren Auge einzunisten. Nackte Haut auf nackter Haut.
Auf dem Tisch schob Simon seine Hand näher an Michaels, bis sich ihre Fingerspitzen berührten. Dass er jemals Gefühle für diesen Mann gehabt hatte, kam ihm nun absurd vor.
„Und Du denkst, du wärst so viel besser als ich", zischte Simon nun, nachdem Michael seinen Arm ruckartig zurückgezogen hatte. „Du denkst, Du hättest jetzt die Lösung. Hier mit diesem Typen zu sitzen und so zu tun, als wäre alles gut. Ihr seht echt ekelhaft aus, wie ihr euch beinahe auffresst. Aber sieh es ein, er ist genau wie wir. Glaubst Du wirklich, Du wärst der einzige für ihn? Hm? Ich habe ihn letztens schon hier auf einem Date gesehen."
Michael glotze ihn immer noch ungläubig an. Es fühlte sich an, als hätte ihn seine Vergangenheit wie ein LKW überrollt. Hilflos trank er mit einem großen Schluck sein Bier aus.
„Das hast Du jetzt wieder nicht kommen sehen?", Simon schnaubte abfällig. „Männer wie wir sind eben nicht treu. Das müsstest Du ja am besten wissen!"
Er stand auf und klopfte zum Abschied auf den Tisch.
„Dann noch einen schönen Abend euch Turteltauben. Du wirst schon sehen, was Du davon hast."
Simon erreichte den Fuß der Bühne just in dem Augenblick, als Christian wieder durch die Tür ins Lokal trat, aber Michaels Blick war noch immer leer auf den Tisch vor ihm gerichtet. Seine Aufmerksamkeit galt dem Bast, der um das Windlicht gewickelt war.
Was war gerade passiert? Hatte der Mann, der ihm diese Dinge angetan hatte, ihn gerade wirklich dafür verurteilt mit Christian auf einem Date zu sein? Während seine schwangere Freundin zuhause auf ihn wartete und wahrscheinlich immer noch nichts davon ahnte, dass ihr Freund sich heimlich mit Männern vergnügte?
Christian ließ sich mit einer Sorgenfalte zwischen seinen Brauen wieder auf seinen Platz fallen.
„Entschuldige bitte, dass das so lange gedauert hat. Ich muss morgen doch auf eine andere Baustelle als geplant-", begann er und musterte Michael. „Ah, Michi? Alles okay? Du bist ganz blass."
Langsam sickerten mittlerweile auch Simons letzte Bemerkungen zu ihm durch. Hatte Christian andere Männer? Wahrscheinlich. Warum auch nicht. Was war schon zwischen ihnen passiert, außer einer Nacht? Nichts. Keine Verpflichtungen. Trotzdem verengte sich seine Brust.
„Michi?"
„Wann warst Du das letzte Mal hier?", fragte Michi tonlos und betrachtete das Windlicht zwischen ihnen. Die Flamme flackerte leicht, als die Tür zum Gastraum aufging. Simon sagte nicht allzu oft etwas Wahres. Vielleicht hatte er ihm ja einfach nur einen Bären aufbinden wollen, um ihn zu verunsichern.
„Was ist das jetzt für eine Frage?"
„Na, wann Du das letzte Mal hier warst. Ganz einfach."
„Ah, ich weiß nicht. Vor drei Wochen? Michi, was ist los?", Christian sah ihn an. Ratlosigkeit schwamm in seinen Augen.
„Und mit wem?" Bitte, bitte sag mit deinem besten Freund. Irgendetwas unverfängliches, das er ihm glauben konnte.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht", sagte Christian jedoch abwehrend und Michaels Atmung beschleunigte sich – die Panik war zurück. Männer wie wir. Er schluckte. War Christian ihnen ähnlich?
Nein. Oder?
Er wollte es nicht herausfinden, falls doch.
Einmal jemand, der ehrlich mit ihm war, war das zu viel verlangt? So wie Dave damals. Nein, jetzt nicht über Dave nachdenken, nein.
Die letzte Stunde hatte ihm eindeutig gezeigt, wie sehr er den Mann mochte und begehrte, der ihm gegenübersaß und jetzt mit völligem Unverständnis entgegensah. Aber er hatte nicht die Kraft, alles noch einmal durchzustehen.
Mit der Hand fuhr er sich über das Gesicht, kratzte seinen Hals unter dem Hemdkragen.
„Michi? Was ist passiert in der Zeit, wo ich weg war?"
Auf keinen Fall würde er jetzt von Simon erzählen. Er wollte die alten Geschichten nicht mit neuen mischen, denn irgendwann sollten Kapitel abgeschlossen sein.
„Was... was möchtest Du, dass aus dem hier wird?", stellte er die Gegenfrage und deutete zwischen ihnen hin und her. Er wusste es zwar selbst nicht, aber er lechzte nach der kleinsten Bestätigung, dass er sich nicht völlig lächerlich machte.
Christian lehnte sich nach vorn und versuchte ihre Hände zu verbinden, doch Michael zog seine aus der Berührung zurück, als hätte er sich verbrannt. Déjà-vu. Dabei entging ihm der verletzte Ausdruck in Christians Gesicht.
„Wollen wir nicht zusammen sehen, wohin das hier führt?", begann Christian vorsichtig. „Ich meine, wir kennen uns doch kaum. Bis eben hätte ich mich gefreut, wenn der Abend bei dir geendet hätte."
„Also Sex?"
„Ähm, vielleicht? Wenn es gepasst hätte?"
Michael konnte spüren, wie die Distanz zwischen ihnen wuchs. Es war eine Distanz, die er schon wieder aufbaute. Es war zum Haare raufen. Gerne hätte er genau das getan, ihn mit zu sich genommen. Ihm vielleicht ein Glas Wein angeboten. Ihn vielleicht mit in sein Bett genommen. Ihn vielleicht einige Tage später angerufen und um ein erneutes Treffen gebeten.
Wieder wischte er sich durch das Gesicht und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Er war einfach noch nicht bereit, sich auf jemanden einzulassen. Er war noch nicht bereit, sich so offen zu zeigen und sich damit verletzlich zu machen.
Bis Simon wieder wie eine Abrissbirne durch sein Leben gefegt war, hatte er gedacht, es wäre an der Zeit, hatte es sich gewünscht wieder Höhen und Tiefen zu teilen. Es war alles perfekt, sie wollten das Gleiche.
„Entschuldige, Chris, ich kann das nicht", mit zitternden Knien und schreiendem Herzen stand er auf. „Es- es tut mir Leid. Das wird nichts mit uns. Ich bin noch nicht so weit."
„Michi, was machst Du?", hörte er noch hinter sich.
Doch er zwang sich, nicht zurückzuschauen, als er an den Tresen trat, um zu bezahlen. Er beglich die komplette Rechnung ihres Tisches, legte ein großzügiges Trinkgeld dazu und bahnte sich mit gesenktem Kopf seinen Weg zum Ausgang. Seit Simon hatte es niemand mehr geschafft, so nah an ihn heranzukommen. Seit Simon hatte er keinen Mann mehr angefasst. Seit Simon war er nicht mehr so gut gelaunt gewesen. Vielleicht konnte er sich langsam eingestehen, wie es wirklich um seine Sexualität stand. Aber er konnte es nicht offen leben. Noch nicht. Irgendwann vielleicht. Vielleicht würde er dann wieder jemanden finden wie Christian.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er sich noch einmal umsah. Simons Blick war schadenfroh, Christians enttäuscht. Beide beobachteten sie ihn, als er die Tür aufdrückte und in den Abend verschwand.
Er hatte Simon erneut gewinnen lassen, das wusste er. Ein weiterer Punkt ging auf sein Konto, aber wie sollte er sich auch gegen seine eigenen Ängste wehren? Simon hatte nichts getan, außer ihn an diese zu erinnern.
Was, wenn Christian wirklich war wie sie?
Wenn er ihn am Ende wieder wegschicken würde, wenn er sich verliebte?
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