14 | November 2019
„Hey, Principessa! Wo hast Du denn deine Feuchtigkeitscreme versteckt?", rief Christian aus dem Bad, aus dem verdächtiges Klappern und Scheppern drang. Sie wohnten seit beinahe zwei Monaten gemeinsam in Michaels Appartement, aber das Problem um die Ordnung im Badezimmer hatten sie noch immer nicht gelöst.
Kopfschüttelnd nahm er eine schwarze Jeans aus dem Schrank und humpelte aus dem Schlafzimmer, während er gleichzeitig versuchte in die engen Hosenbeine zu schlüpfen.
„Da, wo sie immer ist!", gab er klug zurück. Irgendwann würde Christian es schon lernen oder einfach seine eigene benutzen.
„Nein, da ist sie nicht... ich habe schon überall gesucht!"
Michael bot sich ein erschreckendes Bild, als er durch die offene Tür ins Bad trat. Sein Freund kniete mit noch feuchten Haaren auf dem Boden, um ihn herum verschiedene Körbe und Tiegelchen, die noch vor kurzem akribisch sortiert in dem kleinen Hängeschrank gestanden hatten.
„Also, mein Schatz. Die offenen Dosen stehen wie immer...wo?", lehrerhaft senkte er das Kinn und zog die Brauen nach oben. Seufzend stieg er über eines der Körbchen, schob Christian sanft zur Seite und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. „Richtig! Hier! Wie auch die Zahnpasta... die Handcreme, das Parfum...!"
„Ohh", Christian grinste ihn vom Boden schief an. „Tut mir leid, ich werde mir dein System nie merken. Ich stelle alles einfach immer nach vorne, was gerade offen ist."
Lachend schnaubte Michael und strich durch Christians Haare, der seinen Kopf liebevoll an Michaels Oberschenkel lehnte. „Glaub mir, ich weiß."
Als er begann, die Körbchen übereinander zu stellen, um sie wieder einzuräumen, verzog Michael gequält das Gesicht. „Bitte, lass! Ich mach das schon, ich kann dir gar nicht zusehen."
Kurz darauf verstaute Michael die letzten Utensilien wieder im Hängeschrank, während Christian sich die Creme ins Gesicht massierte.
Etwas wehmütig beobachtete Michael, wie die von der Arbeit rauen Finger über seine glattrasierten Wangen strichen. Nächstes Wochenende würde er wieder zurück in Haus gehen, da sich die Situation mit Phillip nun endlich entspannt hatte und er zur Mitte der Woche eine neue Wohnung beziehen konnte. Über seine Kollegin Stefanie hatte Michael von der Altbauwohnung im Stadtzentrum erfahren, bei ihrem Onkel ein gutes Wort für Phillip eingelegt und so dafür gesorgt, dass sich Christian nun sein Haus wieder für sich haben würde. Dass sein Exfreund auf eigenen Beinen stand, half auch Michael sich auf die Beziehung zu Christian einzulassen.
Es war ein wichtiger Schritt zu einer gemeinsamen Zukunft. Außerdem sah er, wie sehr sich Christian darauf freute, nicht mehr mit ihm in der Stadtwohnung eingepfercht zu sein und Michael war froh, seinen Rückzugsort wieder für sich zu haben. Trotzdem wurde sein Herz schwer, bei dem Gedanken, dass er bald nicht mehr jeden Tag neben ihm aufwachen würde.
Von hinten legte er seine Arme um Christians schlanken Oberkörper und drückte die Nase in seine feuchten Haare, die noch herrlich frisch nach der Dusche rochen. Er vermisste ihn jetzt schon, obwohl er noch hier war. Nachdem Christian die Creme an den vorgesehenen Platz stellte und das Spiegelschränkchen schloss, trafen sich ihre Blicke im Spiegel.
Dunkle Augen verloren sich in hellen – doch der verliebte Ausdruck war ihnen beiden ins Gesicht geschrieben. Er wollte noch nicht daran denken, dass ihre tägliche Zweisamkeit bald vorbei war und sich die gemeinsamen Stunden auf gelegentliche Abende und die Wochenenden beschränkten.
Nur die Tischreservierung beim Italiener um die Ecke für den Abend hielt Michael davon ab, seine Hände tiefer gleiten zu lassen und den aufkeimenden Abschiedsschmerz etwas zu lindern. Sanft biss er stattdessen in Christians Hals, direkt in die durch schwarze Tinte verzierte Haut, leckte genüsslich darüber. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen; Christian war zum Anbeißen. Dieser lachte liebevoll auf und legte seine Hände über Michaels.
„Schneewittchen, was tust Du da?"
„Schneewittchen ist neu", hauchte Michael zart, drückte seine Lippen auf die leicht gerötete Hautstelle.
„Mhh, der Spiegel sagt mir eben gerade, wer am schönsten im ganzen Lande ist", grinste Christian, dessen Zunge herausfordernd über seine Lippen glitt.
Lautlos lachend versenkte Michael seine Zähne wieder in dem wunderbar duftenden Hals, fester als zuvor. Für solche Aussagen war durchaus eine Bestrafung angebracht.
„Au!", Christian lachte, wand sich aus seinem Griff, um sich zu ihm zu drehen. Dicht stand er vor ihm, breit lächelnd.
„Jetzt bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob Du nicht doch eher die böse Königin bist!"
„Ach, ja?", Michael zwickte Christian in den Hintern. „Mir war Schneewittchen lieber."
„Ahhhh", Christian stöhnte, als sich Fingernägel durch den dünnen Stoff seiner Shorts bohrten. „Aber Schneewittchen wird gejagt und vergiftet."
„Und die Königin stirbt", schalt ihn Michael. „Außerdem habe ich doch meinen Prinzen schon gefunden, der mich wieder wachküsst, da kann nichts passieren. Ich bin eindeutig Schneewittchen."
Christians zufriedenes Gelächter hallte durch den kleinen Raum, in das Michael bald einfiel.
Dieser Mann machte ihn glücklich, nahm ihm seine Sorgen und ersetzte sie mit unendlichem Wissen über Märchen. Woher er diese Faszination nahm, war Michael zwar nicht klar, aber er mochte die Anspielungen. Über die letzten Wochen hatte er noch einmal eine ganz neue, weiche Seite an diesem wunderbaren Menschen kennenlernen dürfen, die ihm jeden Tag mehr vor Augen hielt, warum er sich in ihn verliebt hatte. Nur bei der Ordnung in der Wohnung kamen sie noch nicht auf einen gemeinsamen Nenner.
Ihre Lippen verschmolzen zu einem innigen Kuss. Schnell stupste Christian mit der Zunge gegen Michaels Oberlippe, genau dort, wo es so schön kitzelte. Schweren Herzens schob Michael seinen Freund jedoch an der Hüfte von sich, denn die Zeit drängte.
„Komm, Rübezahl, wir müssen los!"
Das Essen war wie immer fantastisch, der fruchtige Rotwein harmonierte wunderbar mit dem Fleisch. In den letzten Wochen war das Restaurant zu ihrem Lieblingsziel geworden; es tat gut, auch abends noch aus der Wohnung zu kommen und sich hier verwöhnen zu lassen. Auch wenn er zugeben musste, dass meist Christian die treibende Kraft hinter ihrer Abendplanung war.
Liebevoll musterte er ihn, wie er ihm entspannt gegenübersaß und herzhaft von seiner Pizza abbiss. In seinen dunklen Augen tanzte die Reflexion des Kerzenscheins, der ein warmes Schimmern auf sein Gesicht zauberte. Michael nippte an seinem Glas, als er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und dabei zusah, wie Christian sich genüsslich Krümel von den Fingern lutschte und zufrieden seufzte.
Amüsiert schmunzelte Michael; er mochte seine Schamlosigkeit, denn sie zeigte ihm, wie es sein könnte, frei von den konstanten Selbstzweifeln zu sein. Zudem gab er ihm Sicherheit, wo er sie selbst noch nicht hatte.
Mit Grauen dachte er an das bevorstehende Weihnachtsessen bei seinem Bruder. Kerstin und er hatten an den Feiertagen eingeladen und Michael verspürte nicht die geringste Lust, sich der Familienfeier zu stellen. Aber vielleicht würde er sich ja herausreden können, wenn er mit Christian andere Pläne machte. Oder er könnte ihn mit zu Felix nehmen. Immerhin verstanden sich die beiden gut.
„Sag mal, was machst Du eigentlich an Weihnachten?", fragte er deshalb.
„Na ja, an Heiligabend bin ich bei meinen Eltern eingeladen." Christian sah ihn vorsichtig an, zog die Brauen zusammen.
„Okay. Und an den Feiertagen?"
„Meine Schwester wollte mich besuchen kommen, aber ich weiß noch nicht wann."
Michael rieb sich über das Kinn. Sollte er ihn wirklich fragen, ihn zu Felix zu begleiten? Es würde einen großen Schritt für ihn bedeuten – dass er ihn an seinem Geburtstag mit zu seiner Mutter genommen hatte, war das eine. Ihn auch Kerstins Verwandtschaft vorzustellen, würde ihm viel bedeuten. Ach, verdammt, warum denn nicht?
„Am ersten Feiertag haben Felix und seine Freundin zu einem Familienessen eingeladen. Und ich dachte, es wäre schön, wenn Du dabei wärst."
Es dauerte kurz, bis Christian reagierte; dann blies er scharf die Luft aus. Doch was er als nächstes sagte, brachte Michael aus dem Konzept.
„Warum?"
„Wie warum? Na, Du bist mein Freund, es ist ein Familienessen, es ist Weihnachten. Natürlich wäre es schön, wenn wir dort zusammen hingehen würden."
Nachdenklich nahm Christian einen Schluck von seinem Bier. „Ich weiß nicht, Michi. Das, was an deinem Geburtstag passiert ist, brauche ich nicht nochmal."
Die Worte fühlten sich an, wie eine Ohrfeige. Natürlich war der Tag grauenvoll gewesen, in jeder Hinsicht. Aber, dass seine Mutter ihre engstirnigen Ansichten zum Besten gegeben hatte, war doch nicht seine Schuld. Er antwortete nichts, blickte auf seine Finger, die das Weinglas umklammert hielten.
„Ich meine damit", fuhr Christian ruhig fort, „so, wie deine Mutter da auf uns reagiert hat, wird sie wohl wieder reagieren. Und ich ertrage es nicht, dich wieder so zu sehen. Das war schlimm für mich und wir müssen so eine Situation doch nicht noch einmal provozieren."
Mit jedem Wort lief Michael ein Schauer den Rücken hinab. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Eiswürfel in seinem Genick platziert, der nun gemächlich an der Wirbelsäule nach unten glitt. Was war denn heute mit Christian los? Er war doch sonst derjenige, der ihn dazu ermutigte, sich nicht zu verstecken. Das konnte doch nicht der wirkliche Grund sein. Allerdings hatte Christian ihn gerade auch nicht gebeten, am Weihnachtsabend mit zu seinen Eltern zu fahren – vielleicht war es ihm zu früh, das Fest gemeinsam zu verbringen.
„Sag doch bitte einfach, dass Du nicht möchtest", sagte er sanft, denn er wollte nicht streiten.
Christian seufzte, legte den Kopf schief. „Denkst Du, Du bist wirklich schon bereit, dich der Diskussion in einer großen Runde auszusetzen?"
„Worauf willst Du hinaus?", langsam bereute Michael, dass er überhaupt gefragt hatte. Seine Laune sank dem Gefrierpunkt entgegen, dabei war er weniger enttäuscht, dass Christian ihn wohl nicht begleiten würde, sondern vielmehr von seiner Reaktion. Wobei, es war nicht so sehr Christians Bedürfnis, auf ihn achtzugeben, das ihn ärgerte, sondern dass er sich tatsächlich selbst wünschte, er würde ihm mit seiner Familie wieder beistehen.
„Du hast immer noch Probleme, mich in der Öffentlichkeit zu küssen. Du hattest eine Panikattacke, als deine Mutter dich mit deinem Vater konfrontiert hat. Meinst Du, Du würdest das schaffen?"
Langsam atmete Michael durch die Nase ein, behielt die Luft in den Lungen, zählte bis vier. So, wie Christian ihn beschrieb, hörte es sich schwach an, wie ein Kind, das es zu beschützen galt. Aber das war doch nicht so, oder? Ja, die Panikattacke war nicht zu leugnen, aber die hatte sich auch aus Phillips Verhalten gespeist. Weihnachten würde nicht das Gleiche werden, da war er sich sicher.
„Christian, lass es gut sein. Bitte." Es war ihm nicht angenehm, dieses Gespräch zu führen. Er konnte selbst nicht genau sagen, was ihn so sehr störte. Wahrscheinlich das nagende Wissen, dass Christian recht hatte und er es sich nicht eingestehen wollte.
„Was hast Du denn plötzlich? Ich mache mir Sorgen um dich."
Doch Michael schüttelte nur mit dem Kopf und begann wieder zu essen. Mit Schwung spießte er eine Kartoffel auf und schob sie sich in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Sorgen konnte Christian sich gerne machen, aber es wäre ihm lieber, dass er sich gemeinsam mit ihm diesen Situationen stellte, anstatt sie um jeden Preis zu vermeiden.
„Michael", fing Christian wieder an. „Es tut mir leid, aber ich glaube, das ist noch keine gute Idee."
„Verstehe schon", murmelte Michael zwischen zwei Bissen. Nächstes Jahr dann. Vielleicht. Nein, ganz sicher. Versöhnlich drückte er unter den Tisch sein Bein gegen Christians, obwohl er sich noch immer wünschte, dass sie gemeinsam zu Felix fahren würden.
Christian lächelte den Kellner an, als dieser ihnen noch einen schönen Abend wünschte. Der Rest des Essens war schweigsam verlaufen; Christian hatte noch einige Male versucht, das Gespräch wieder zu beleben, doch Michaels hatte die Lust an einer Unterhaltung verloren. Stattdessen hing er weiter seinen Gedanken nach; fragte sich, ob er wirklich so hilflos war, dass er Christian an seiner Seite brauchte.
„Wir müssen uns ein bisschen beeilen", stellte Christian schließlich mit einem Blick auf die Uhr fest. Michael zog nur fragend die Brauen nach oben. Er wüsste nicht, was sie heute noch geplant hätten. Viel lieber würde er sich jetzt mit ihm auf die Couch kuscheln und die letzten Tage ihrer Zweisamkeit voll auskosten. Egal, wie enttäuscht er gerade war.
„Ich habe da noch eine Überraschung für dich. Das Taxi müsste gleich da sein."
„Womit habe ich das denn verdient?", Michael sah seinen Freund prüfend an, grübelte, ob er ein Datum vergessen hatte.
„Brauche ich einen Grund, um was Schönes mit dir zu unternehmen?", Christian sah ihn liebevoll an, stand dann aber auf und griff sich seine Jacke von der Stuhllehne. „Kommst Du?"
Das Taxi brachte sie in die Nähe der Innenstadt. Draußen war es kalt; der Schneeregen trommelte erbarmungslos auf den Regenschirm, den er schützend über sie hielt.
„Wohin denn?", fragte Michael säuerlich. Christian hatte ihm immer noch nicht verraten, wohin sie unterwegs waren. Bei jeder Nachfrage hatte er lediglich gegrinst oder ihn raten lassen.
Langsam reichte es ihm. Er hatte keine Lust, sich länger in der grauen Novemberkälte herumzuschlagen. Es verlangte ihm nach einer Decke, vielleicht noch einem Glas Rotwein und Gemütlichkeit.
„Wir sind doch gleich da, Pricipessa", lachte Christian und legte ihm eine Hand auf den Rücken. „Schau, da vorn", er nickte mit Kopf in Richtung des Kulturzentrums, vor dem sich bereits eine kleine Schlange bildete.
Kritisch suchte Michael nach einem Anhaltspunkt, was sie ausgerechnet hier vorhatten. Auf einen Bingo Abend mit Senioren hatte er weniger Lust. Als sie sich in die Schlange einreihten, hatte seine Laune ihren Tiefpunkt erreicht. Warum schleifte ihn Christian auch bei diesem Wetter in die Stadt? Er wusste doch ganz genau, wie sehr er die Kälte und Dunkelheit hasste. Winter war nur schön, wenn es schneite.
Er ließ seinen Blick über die Plakate neben der schweren Eingangstür wandern, die Kindernachmittage, Veranstaltungen der lokalen Volkshochschule und einige Konzerte bewarben. Dann fiel ihm eines der Plakate auf, auf dem ein blonder Mann mit seiner Gitarre abgebildet war. Einer seiner Lieblingssänger. Das Datum, das auf dem unteren Abschnitt stand, versetzte seinem Herz einen freudigen Stubs. Das war heute.
Hatte Christian ihnen Konzertkarten gekauft?
„Chris, gehen wir da hin?", er zeigte auf das Plakat und lächelte vorsichtig. Vielleicht war der Abend doch noch zu retten.
Sein Freund strich ihm zärtlich über den Arm. „Ertappt!"
Aus seiner Innentasche zog er einen Umschlag und reichte ihn Michael. Darin befanden sich tatsächlich zwei Karten für das Konzert.
„Woher...? Wann...?", Michael strahlte ihn an. „Danke!" Vergessen war das schlechte Gefühl von eben.
Lachend beugte sich Christian zu ihm und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Schön, dass Du dich so freust."
„Ja! Ich weiß gar nicht was ich sagen soll", selig lächelnd klappte Michael den Schirm zusammen, als sie in das Gebäude gelassen wurden. Sie zeigten die Karten an der Tür vor, bevor sie endlich ins Warme traten.
„Magst Du was trinken?", fragte Christian. „Heute Abend geht auf mich."
Michael war überglücklich; er hatte sich mit Christian nie über seine liebsten Künstler unterhalten. Wenn sie zusammen in der Wohnung Musik gehört hatten, hatte meistens nur jemand kommentarlos das Handy mit den Lautsprechern verbunden. Dass er sich also ausgerechnet an diesen Sänger erinnert hatte, war für ihn unglaublich. Zumal der keine großen Konzerthallen füllte, sondern seine Shows meist nur in kleinen Bars spielte oder wie heute im Kulturzentrum.
Bevor Christian sich seinen Weg zur Bar bahnen konnte, hielt ihn Michael am Arm zurück. Die dunklen Augen blitzten ihm fragend entgegen. Er sah wunderschön aus im gedimmten Licht. Am liebsten hätte er ihn dort auf der Stelle geküsst, aber stattdessen biss er sich nur selbst auf die Lippe.
„Danke, dass Du das für mich tust", rief er ihm über das Gemurmel der anderen Gäste hinweg zu. Vielleicht machte er sich ja wirklich nur Sorgen um ihn und er selbst hatte überzogen auf seine Ablehnung reagiert.
„Gern, Michi. Für dich immer!", mit einem breiten Lächeln zwinkerte er ihm zu und schob sich einen Moment später schon an einer Gruppe junger Frauen vorbei.
Michael suchte ihnen in der Zwischenzeit Platz an einem der kleinen Stehtische, die im hinteren Teil des Raumes aufgestellt waren. Das Grinsen brannte sich auf sein Gesicht, denn seine Vorfreude war riesengroß. In den letzten Jahren hatte er nicht oft die Chance gehabt, auf ein Konzert zu gehen. Umso dankbarer war er Christian, dass er ihn aus seinem Schneckenhaus holte. Ohne ihn hätte er in den letzten Monaten nicht das erlebt, auf das er nun glücklich zurückblickte. Dann war ein gemeinsames Weihnachtsfest eben erst nächstes Jahr möglich; es gab schlimmeres.
Außerdem konnten sie ihre Zweisamkeit heute auch in der anonymen Menge der Konzertbesucher feiern. Vielleicht sogar noch besser als zuhause.
„Es gab leider nur Weißwein", entschuldigte sich sein Freund und schob ihm ein übervolles Glas zu. Sich selbst stellte er eine Flasche Bier auf den Tisch. Michael drehte überrascht das Glas zwischen seinen Fingern und war dankbar, seinen Wein nicht wieder aus Bechern trinken zu müssen. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass das Konzert ausgerechnet in einem Kulturzentrum stattfand.
Christian hob seine Flasche, um mit ihm anzustoßen. „Auf dich."
Lachend schüttelte Michael den Kopf. „Nein, auf uns. Danke für den Abend."
Bis das Licht ausging, hatten sie ihre Getränke geleert und die Jacken abgegeben. Jetzt standen sie zwischen dicht gedrängten Leibern vor der kleinen Bühne und warteten gespannt auf den Beginn der Show.
Der Sänger betrat zunächst allein die Bühne, hängte sich gemächlich seine Gitarre um und richtete sich ein. In der Dunkelheit waren nur seine Umrisse zu sehen, doch bei den ersten sanften Tönen, die er seinem Instrument entlockte, war Michael verzaubert. Er wusste, welches Lied angespielt wurde. Das Lächeln, das er nicht mehr von seinem Gesicht wischen konnte, wurde nur noch breiter. Aufgeregt klatschte er zusammen mit den anderen Beifall, Christian dagegen legte zwei Finger in den Mund und pfiff.
Überrascht strahlte Michael ihn an, musterte seinen Mann in Schummerlicht und spürte, wie sein Herz nur für ihn schlug. Ein Scheinwerfer wanderte über sein Gesicht, zeichnete seine Züge weich, betonte sein wunderbares Lächeln. Am liebsten würde er ihn für immer bei sich behalten, er wollte nicht, dass er wieder auszog. Zu sehr genoss er seine Nähe. Wenn nur das Problem mit der engen Wohnung nicht wäre.
Auf der Bühne wurden die ersten Zeilen gesungen, aber Michael konnte seinen Blick nicht von seinem Freund abwenden – er wollte auch nicht. Sanft lächelnd wippte Christian im Takt des Songs und auch in seinem Gesicht stand die Freude, die Lippen waren schief verzogen. Die Art, wie ihm einige zu lang gewordene schwarze Strähnen in die Stirn fielen, raubte Michael beinahe den Atem.
Der Moment war so perfekt, dass er ihn am liebsten eingefangen hätte, um ihn später noch einmal zu erleben. Konserviert für die Ewigkeit wurde der Abend nur in seinen Erinnerungen.
Während der Sänger einige Worte an das Publikum richtete, betrat der Rest der Band die Bühne und nahm ihre Instrumente auf.
Mit Christian in seinem Rücken, verfolgte Michael das Konzert. Klatschte, jubelte, tanzte und sang den Text zu den Liedern, die er so oft hörte.
Bei der nächsten Nummer sang fast das ganze Publikum und Michael stieß Christian leicht mit dem Ellbogen an, um ebenfalls in den Refrain einstimmen.
„Oh, nothing is what it seems", sang jetzt auch Christian und lachte mit ihm. Er schlang seine Arme um Michaels Hüfte. Wieder und wieder forderte der Sänger sie auf, den Refrain mit ihm zu singen und jedes Mal hörte Michael die Stimme seines Freundes dicht an seinem Ohr. Tief und rau hörte er sich an, stach damit deutlich aus dem Stimmengewirr hervor.
Auch nach dem Song blieben sie eng aneinandergeschmiegt stehen, wiegten sich bei langsameren Liedern gemeinsam. Das weite Grinsen hatte sich auf Michaels Gesicht festgesetzt. Sein ganzer Körper stand unter Strom, glühte förmlich. Er verlor sich zusehends in dem Konzert; konnte kaum genug von dem niedlichen Akzent hören, den der Sänger hatte, wenn er versuchte das Publikum zwischen den Songs auf Deutsch anzusprechen. Die Freude, die die Band beim Spielen hatte, übertrug sich auf den ganzen Saal. Immer stickiger wurde die Luft, die bald dick und verbraucht war, doch für ihn war alles perfekt.
Über seine Schulter sah er zu Christian, der seinen Blick zärtlich erwiderte und ihm zeigte, dass es ihm ebenso ging. Seine Augen leuchteten warm, als der Scheinwerfer sein Gesicht streifte. Tief sog Michael Luft in seine Lungen; sein anschließendes Seufzen wurde von der Musik davongetragen. Der Streit von vorhin verblasste bereits in seiner Erinnerung.
Christians Blick huschte zwischen seinen Augen hin und her, dann zu seinen Lippen. Michael wusste, dass er ihn gerade gerne küssen würde. Kurz haderte er mit sich, dachte an die Menschen um sie herum. Aber er schüttelte kurz den Kopf, um diese Sorgen wie eine lästige Fliege zu vertreiben. Nichts, aber auch wirklich nichts Negatives hatte sich in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit ereignet, egal wie nah er sich mit Christian gezeigt hatte. Warum also erfüllte er ihnen nicht den gemeinsamen Wunsch?
Deshalb gab Michael nach, lehnte sich zu ihm hinüber. Ihre Lippen trafen sich zu einem unschuldigen Kuss zwischen all den Feiernden. Die Euphorie des Abends stachelte ihn an, sprach ihm Mut zu. Und auch der Wille, seinem Freund zu zeigen, was wirklich in ihm steckte, ließ ihn den Kuss vertiefen.
Er öffnete den Mund, lud Christian ein zu mehr. Als dessen Zunge vorsichtig über seine Unterlippe strich, schloss er die Augen. Sie waren nicht allein, und doch drehte sich alles nur um sie. Wie im Auge des Orkans standen sie still zwischen tanzenden Körpern und kosteten den Moment aus.
Er legte seine Hände an Christians Wangen, zog ihn näher zu sich. Das Suchen hatte für ihn ein Ende. Es fühlte sich richtig an, ihn hier und jetzt zu küssen. Was brauchte er noch mehr?
Nach dem Konzert warteten sie Hand in Hand darauf, dass sie ein Taxi abholte, um sie zurück in Michaels Wohnung zu bringen. Jetzt, wo für ihn alle Dämme gebrochen waren, konnte er nicht mehr genug von Christian bekommen. Er lehnte sich an ihn, atmete seinen wunderbaren Geruch ein. Noch immer konnte er nicht glauben, wie schnell sich dieser Mensch zu seinem Mittelpunkt entwickelt hatte. Christian war seine Sonne geworden, um die er auf einer engen Umlaufbahn kreiste. Diese allzu schnell wieder zu verlassen, stand nicht auf seinem Plan.
Aber leider waren es nur noch ein paar Tage, dann er musste darauf verzichten, jeden Abend mit ihm einzuschlafen, jeden Morgen mit ihm aufzuwachen. Nachdenklich biss er sich auf die Lippe. Er wusste, dass es viel zu früh war, sich nach einer gemeinsamen Wohnung umzusehen, aber er wollte diesen Luxus auch nicht wieder aufgeben. Vielleicht musste er Phillip dankbar sein, dafür, dass er ihm diese Zeit mit Christian geschenkt hatte.
„Über was denkst Du nach?", Christian stieß spielerisch gegen seine Schulter. „Du lächelst."
„Ich denke an dich. Und wie schön die letzten Wochen mit dir waren. Mit dir in meinem Bett..." Er grinste anzüglich, „jeden Tag."
Christan lachte nur und drückte seine Hand.
„Ich will nicht, dass Du ausziehst."
Seufzend schüttelte Christian seinen Kopf. „Michi... Du weißt, wie sehr ich mich auf das Haus freue. Die Wohnung in der Stadt ist einfach nichts für mich auf Dauer."
„Ich weiß. Aber, komm doch öfter vorbei."
„Hör mal, ich habe auch schon darüber nachgedacht. Aber ich möchte wirklich zurück ins Haus. Komm doch mit zu mir", abwartend sah Christian ihn an, in den dunklen Augen brach sich das Licht der Straßenlaterne.
Überrascht sog Michael die Luft ein, klappte hilflos den Mund auf und zu, bevor sich seine Mundwinkel nach oben schoben.
Wollte Christian das Gleiche? War auch er bereit, ihre Beziehung auf die nächste Ebene zu heben? Aber warum war Weihnachten dann so ein Thema für ihn? Mit der Zunge fuhr er sich über die Lippen, während seine Gedanken rasten.
Doch dann zwängte sich ein neuer Gedanke zwischen seine Freude und seine Aufregung. Überlagerte klebrig und zäh alles andere. Dort im Haus war noch immer Christians Exfreund, genau jetzt, während sie hier standen, lag er vielleicht dort auf der Couch, holte sich einen Snack aus der Küche oder benutzte das Badezimmer. Dort sollte jetzt auch er einziehen? Der alte Freund vom neuen abgelöst. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen bei der Vorstellung.
Nein, das konnte er nicht. So schön das Haus im Vorort war, es war nicht der Platz, an dem ihre Beziehung zu Hause sein konnte.
„Ich weiß nicht", teilte er seine Zweifel. Seufzte. Es war frustrierend. Die letzten Wochen waren zu schön gewesen, um sich einfach zu vergessen.
Aber er spürte in sich den Widerstand wachsen, sich an das Haus zu binden, in dem Christian zuvor mit Phillip gewohnt hatte. Genauso wusste er aber, wie sehr die kleine Wohnung seinem Freund zusetzte. Beide Lösungen würden von ihnen Opfer verlangen.
„Warum? Wir haben mehr Platz, wir sind im Grünen...", Christian drückte seine Hand, sah zu ihm. Seine Augen huschten über Michaels Gesicht, der die Lippen zusammenpresste.
„Das stimmt schon, aber...", Michael seufzte erneut, wich Christians Blick aus. Er wollte es nicht laut aussprechen. Schon gar nicht wollte er nein sagen und damit eine gemeinsame Zukunft möglichweise begraben, bevor sie überhaupt begann.
„Aber?"
Obwohl der kalte Wind auf seiner Haut brannte, wurde Michael heiß. Bevor er antwortete, tastete er nach den Zigaretten in seiner Tasche, fischte sie heraus und steckte sich eine zwischen die Lippen. Mit der Hand schirmte er die Flamme des Feuerzeugs ab, bis er den Rauch auf der Zunge schmeckte. Christians Unruhe konnte er deutlich spüren.
„Wir könnten auch in einem anderen Haus im Grünen sein." Jetzt war er es, der die Ablehnung aussprach.
„Michi, das Haus gehört meiner Tante! So günstig fänden wir nie wieder eines zur Miete."
„Christian", er schüttelte den Kopf. „Lass uns das nicht jetzt ausdiskutieren, ja? Für mich kommt das Haus eben nicht in Frage, für dich meine Wohnung. Wir finden sicher eine Lösung, irgendwie."
Die Zigarette tat gut, auch wenn sein Herz in Aufruhr war. Er wollte ihre Beziehung einfach nur genießen, genießen was sie hatten. Da war kein Platz für Streit. Aber er wollte auch nach vorn schauen, sich nicht wieder mit der Vergangenheit belasten, in dem er Phillips Platz einnahm.
„Michi, ich versteh dich nicht. Dir gefällt das Haus doch?"
„Ja! Natürlich gefällt es mir. Aber es wäre eben nicht unseres. Es ist eueres. Phillips und deins. Ich... für mich ist da kein Platz."
Christian schnaubte. „Blödsinn! Sag mir, was du brauchst! Wir machen es zu unserem."
Michael zuckte mit den Schultern, sah der Zigarette zu, wie sie in der Dunkelheit des Abends rot glomm. Mit dem Finger tippe er leicht dagegen, um die Asche abzuschütteln.
„Ihr habt das gemeinsam eingerichtet, oder?"
„Zum Teil, natürlich. Sind es die Möbel? Wenn... wenn es nur das ist!"
Es fühlte sich nicht richtig an, was Christian sagte, auch wenn er für sein Entgegenkommen dankbar war. Die Erinnerungen, die für Christian unweigerlich mit dem Haus, den Möbeln, einfach allem verknüpft sein mussten, würden nicht einfach verschwinden. Er selbst hatte sich so sehr bemüht, mit seinen vergangenen Beziehungen abzuschließen, dass es für ihn jetzt unerträglich war, sich Christian mit seiner zu teilen.
„Nicht jetzt, ja? Der Abend war so schön", bat er und lächelte ihn dabei versöhnlich an.
Sie würden eine Lösung finden, ganz sicher. Und, vielleicht war es auch noch zu früh, so viel aufzugeben füreinander. Vielleicht verpassten sie aber auch ihre Chance.
Als das Taxi vor ihnen ab Bordstein hielt, war die Stimmung zwischen ihnen gedrückt. Michael hing seinen Gedanken nach, fragte sich, was das Richtige wäre. Sollte er mit Christian in den Vorort ziehen, all seinen Zweifeln zum Trotz?
Nachdenklich seufzte er, als er seine Hand nach Christian ausstreckte und ihre Finger miteinander verwob. Nein, egal wie sehr er ihn liebte, er würde sich nicht für ihn verbiegen. Es musste eine Kompromisslösung geben!
Das waren sie sich und ihrer Beziehung schuldig.
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