Seelenbild (Auszug)
Wenn ich zurückdenke an meine erste Begegnung mit ihr, sehe ich als erstes die schwingende Schaukel.
Dann richtet sich mein Blick auf das Kind, das mit wehendem Haar und schlenkernden Armen glücklich jauchzend in die Arme seiner Mutter rennt.
Als ich wie ein Idiot lächelnd wieder nach vorne schaue, bleibt mir nur ein Sekundenbruchteil, um alles zu erfassen und instinktiv richtig zu reagieren: Die Geschwindigkeit meiner Fahrt, der rapide geringer werdende Abstand zu ihr, ihr smaragdgrünes Haar und ihr absolut offener, unerschrockener Blick.
Ich reiße den Fahrradlenker nach rechts, verliere auf der holprigen, abschüssigen Wiese jenseits des Weges den Kontakt zu den Pedalen und ziehe einen Tick zu heftig die Vorderradbremse zu. Mein kurzer Flug erscheint mir in der Erinnerung noch recht elegant, die Landung jedoch glich der eines Albatros: Es tat nicht weh, sah aber so aus, als würde ich mir sämtliche Knochen dabei brechen.
Das alles jedoch wurde völlig bedeutungslos, als ich ihre Hand auf meiner Schulter spürte und ihr das erste Mal in die Augen sah.
"Bist du in Ordnung?", sagte sie leise, und schon da wusste ich, dass sie viel mehr ausdrücken wollte, als ihre Worte vermuten ließen.
Julianas Augen waren wie verzauberte Bücher, die ihre lebendigen Geschichten direkt in den Verstand ihres Gegenübers katapultieren. Vom ersten Augenblick an hatte ich das Gefühl einer innigen Vertrautheit, einer Nähe zu ihr wie ein sanftes Streicheln im Nacken. Doch Julianas Bücher waren in einer Sprache geschrieben, deren Klang nichts so beließ, wie es einmal war.
Wenn ich jetzt die Augen schließe, den Stimmen der Vögel lausche und die ersten wärmenden Strahlen der Frühlingssonne auf meiner Haut genauso genieße wie das sanfte Streicheln des kaum merklichen Windes auf meinen Unterarmen, glaube ich fast, eine Zeitreise machen zu können, zurück in die Zeit mit ihr.
Es war keine lange Zeit, die ich mit ihr verbringen durfte; der Moment, in dem wir die Gondel unseres ganz persönlichen Riesenrades miteinander teilten, war nicht beständiger als die zerrissene, wie eine Feder aussehende Wolke, die gerade am blauen Himmel vorüberzieht.
Aber obwohl unsere gemeinsame Fahrt nicht mehr als drei Runden zählte, kamen wir sehr hoch hinaus: Unsere Blicke reichten weit, die Lichter der Stadt funkelten unter uns wie Diamanten, und unsere Fingerspitzen konnten fast die Sterne berühren, als wir die Arme ausstreckten.
aus: Seelenbild
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