F ü n f z e h n
Für einen kurzen Moment war alles wie erstarrt.
Louis und ich blickten uns gegenseitig in die Augen, ohne zu blinzeln.
Er aus Trotz und ich aus Schock.
Selbst draußen schien es für diesen einen Moment totenstill zu sein.
Und dann ließ Louis das Feuerzeug los. Die Flamme erlischt und tauchte uns in Dunkelheit. Gleichzeitig dröhnten die unterschiedlichsten Geräusche wieder auf und ich erwachte aus meiner Starre.
„Wie... Wie meinst du das, Louis?" stotterte ich und hielt meinen Kopf, da mir vor lauter Gedanken schwindelig wurde.
Louis blieb still.
„Louis? Was meinst du damit?" hakte ich drängend noch mal nach.
Meinte er damit, dass er sich an mich erinnern konnte?
Wusste er, wer ich war?
Wusste er, wer ich wirklich war?
Wusste er vielleicht, was passiert war?
„Es ist egal." Seine Stimme klang so nah an mein Ohr und automatisch zuckte ich ein kleines bisschen zurück.
„Nein, ist es nicht. Du musst es mir sagen."
„Ach, so wie du mir von deinem Zusammenbruch erzählen wolltest?" Da war wieder der altbekannte Spott, doch diesmal fiel ich nicht darauf hinein. Ich habe die Angst in seinen Augen gesehen.
Ich wusste, dass er sich vor all dem hier fürchtete.
Und ich wusste, dass er mir etwas wichtiges verheimlichte.
„Ich habe es dir schließlich erzählt." Erwiderte ich ruhig und horchte in die Dunkelheit. Sein Atem ging schwer und zwischendurch stockte er.
„Du verstehst es nicht." Keuchte er schließlich leise. Ich schüttelte meinen Kopf, aber als ich bemerkte, dass er es nicht sehen konnte, meinte ich, immer noch völlig ruhig: „Dann erklär es mir, Louis."
„Nein. Meine Lichtung, meine Regeln..."
„Louis, hast du überhaupt mitbekommen, was dort draußen eben passiert ist? Was immer noch passiert?" Ich holte einmal tief Luft, starrte dorthin in die Dunkelheit, wo ich ihn vermutete. „Du redest hier von deiner Lichtung. Wo ist denn jetzt deine Lichtung? Du redest von deinen Regeln, doch nach welchen Regeln passiert das hier gerade alles? Hast du die Erdbeben ausgelöst? Hast du den Lärm verursacht? Hast du das silberne Spinnennetz am Himmel gesponnen?" Ich stockte und klappte dann meinen Mund zu. Ich atmete einmal tief ein und schloss meine Augen. Von draußen hörte man immer noch den Lärm, der aber schon deutlich schwächer geworden war.
Louis Atem ging schnell.
Viel schneller als gewöhnlich.
Und als helle Flecken durch mein Augenlid tanzten öffnete ich blinzelnd meine Augen. Louis hatte einen Ast mit seinem Feuerzeug angezündet.
Das Licht der Flamme warf verzerrte Schatten auf die Steinwände und tauchte Louis in einen leicht unheimlich wirkenden Schein. Ich schluckte und es erschien mir beinahe so, als würden alle anderen Geräusche in den Hintergrund rücken.
Sich immer weiter entfernen, bis es nichts weiter als ein dumpfes Klopfen in meinen Ohren war.
Umso klarer und lauter war Louis Stimme, als er den Mund zum Sprechen öffnete: „Du hättest nicht hier sein dürfen, El."
Neugierig, was er noch sagen würde, beugte ich mich etwas vor. Nun waren wir uns so nahe, dass sich unsere Knie schon berührten und ich seinen warmen Atem spüren konnte, als er weitersprach: „Du hättest mich niemals treffen sollen. Ich hätte niemals in diesem Moment nach Ästen suchen sollen."
Verwirrt blinzelte ich und dachte über seine Worte nach. Was ergab das für einen Sinn? Hatte das etwas mit seiner Aussage zu tun, dass er mich schon gesehen hatte?
Der Stock war schon zu drei Viertel herunter gebrannt, als ich leise fragte. „Wie meinst du das, Louis?"
Er drehte den brennenden Ast in seiner Handfläche langsam hin und her und schnipste Asche, die herunter gerieselt war, von seiner Hose. Erst dann blickte er wieder hoch, direkt in meine Augen.
„Wenn du mich nicht umgerannt hättest und mir dann nicht wie ein verloren gegangener Welpe gefolgt wärst, wäre das hier nie passiert. Dann könnte ich jetzt ganz entspannt auf meiner Lichtung sitzen." Beinahe desinteressiert ließ er seinen Blick zum Ausgang wandern.
Mir stand jedoch der Mund offen.
Wie konnte er das nur so desinteressiert sagen? Ich hatte ernsthaft geglaubt, dass er mir nun eine Erinnerung anvertrauen würde, an die er sich wieder erinnern konnte, aber stattdessen beschuldigte er mich, dass ich an allem Schuld wäre?
Empört schnappte ich nach Luft und erhielt somit Louis Aufmerksamkeit wieder. „Erstens: Ich habe nicht dich umgerannt. Zweitens: Warum gibst du mir jetzt die Schuld für all das hier?" Wütend machte ich eine Armbewegung zum Ausgang. Leichter Schneefall ließ sich erahnen und hin und wieder sah man die silbernen Fäden aufblitzen. Komischerweise verspürte ich aber gerade keine Angst.
Denn die Wut hat sich in den Vordergrund gedrängt und ernährte sich von meiner Angst.
„Warum ich dir die Schuld gebe? Weil du Schuld hast! So einfach ist das!" Seine Stimme klang genervt, aber es war nichts im Vergleich zu meiner, die nun mehr als gereizt klang: „Ach ja? Und woher willst du das wissen?"
„Vielleicht weil diese beschissenen Sachen erst passiert sind, als du urplötzlich in mich hereingerannt, wie ein Baby am jammern und naiv ohne Grenzen bist. Erst als du da warst, kam die Nachtzeit so plötzlich. Du bist zusammen gebrochen und hast vor Schmerzen geschrien, obwohl das gar nicht möglich sein sollte. Aber dennoch ist das passiert. Es ist passiert wie das hier gerade passiert. Wie willst du da die Schuld von dir weisen? Wie naiv bist du eigentlich, wenn du dich immer noch an das Leben klammerst und dafür hier alles aus dem Gleichgewicht bringst?"
„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, oder?"
Es war eher eine rhetorische Frage. Denn mir war vollkommen klar, dass er es ernst meinte.
„Du redest dir da den letzten Schwachsinn ein, weil du mit dieser Situation einfach nicht klar kommst."
Ich wollte nicht verletzt klingen. Ich wollte nicht anklagend sein. Doch ich war es.
Warum auch immer, mein Herz und mein Verstand hatten es immer noch nicht gelernt, mit seinen Bemerkungen klar zu kommen.
„Nicht ich rede mir Schwachsinn ein, sondern du. Du bist es, die von einem Ausweg spricht. Du bist es die sich verbrennen lassen wollte. Du bildest dir Schwachsinn ein, nicht ich!" Seine Stimme wurde zum Schluss immer lauter. Ich presste nur stumm meine Lippen aufeinander und genau in dem Moment, wo der Ast heruntergebrannt war und sich die Dunkelheit wieder um uns legte, stand ich auf. Dabei stieß ich meinen Kopf an der Decke an, was ich aber keinerlei Beachtung schenkte.
Ich tastete mich gebückt, da ich zu groß für diesen kleinen Vorsprung war, an der Wand zum Ausgang entlang.
„Wo willst du hin?" verfolgte mich Louis Stimme.
„Weg." Antwortete ich, wurde aber von einem erneuten Knall übertönt. Ich zuckte zusammen, streckte vorsichtig meinen Kopf ins Freie und starrte fasziniert in den Himmel, der mittlerweile in einen Purpur-Ton getaucht war. Die weißen Fäden hatten sich immer weiter wie ein Spinnennetz verbreitet und pulsierten abwechselnd in einem kühlen Schimmer. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich wurde daraus nicht schlau...
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Louis nach meinen Arm griff.
„Lass mich los." Ich schüttelte seine Hand ab und stolperte die letzten Schritte ins Freie. Es war schon wieder heller geworden. Vielleicht lag es auch einfach nur an den leuchtenden Fäden.
„Wo willst du hin?" Wiederholte er sich. Ich verschränkte meine Arme und musterte ihn. Er stand vor dem Vorsprung und sah mir intensiv in die Augen, dabei hat auch er seine Arme verschränkt.
„Hab ich doch bereits gesagt. Ich gehe weg." Ich drehte mich um und versuchte so anmutig wie möglich durch den Schnee zu stapfen, der sich in den letzten Minuten, oder wie lange wir auch unter dem Vorsprung gehockt hatten, mehr als verdoppelt hatte. Es gelang mir nicht ganz und als Louis mir hinterherrief, wohin ich denn wollte, kaschierte ich meinen Stolper mit einer Drehung zu ihm.
„Wohin ich gehen will? Du willst doch, dass du ich verschwinde. Ich bin doch anscheinend für alles verantwortlich. Also gehe ich mit meinen naiven Gedanken irgendwohin, wo ich dich nicht in deiner kleinen Schneekugelleben störe."
Ohne zu zögern drehte ich mich wieder um und schob meine Hände in meine Hosentaschen. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Mantel immer noch auf der Lichtung liegen musste. Zwar fror ich nicht, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, mich in den flauschigen Stoff zu kuscheln, die Kapuze über meinen Kopf zu ziehen und einfach mal alles um mich herum vergessen...
Nicht, dass das schon längst mit meinen Erinnerungen passiert war.
Deswegen machte ich auf den Absatz kehrt, hob meinen Zeigefinger in die Luft und meinte an Louis gewandt: „Aber erst hole ich mir meinen Mantel."
Louis Gesicht wurde weiß und langsam öffnete er seinen Mund, doch ich ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen, wollte nicht noch mehr seiner Bemerkungen hören. Nicht noch mehr von seinen Worten, die mich aufregten, verzweifelten, ärgerten, verunsicherten, traurig machten...
„El, warte..."
Es waren zwei ganz normale Worte, doch dennoch brachten sie mich zum Stehen bleiben. Einmal atmete ich tief ein und verschränkte wieder einmal meine Arme vor meiner Brust.
„Auf einmal soll ich warten, ja? Was willst du eigentlich? Kannst du dich nicht einmal entscheiden?"
Erneut öffnete er den Mund, doch nach ein paar Sekunden schloss er ihn wieder. Ich konnte erkennen, wie er mit sich kämpfte. Irgendetwas machte ihm zu schaffen. Denn immer wieder verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse, zog seine Stirn kraus und biss sich auf seine Lippe.
„Ich begleite dich zur..." Weiter kam er nicht, da gefolgt von einem ohrenbetäubend lauten Knall die Luft wie elektrisierend anfing zu knistern. Von einer Sekunde auf die nächste wich die purpurne Farbe einer blau-silbernen.
Und dann war plötzlich wieder Stille.
Wie erstarrt standen wir beide zwischen den Bäumen sahen ängstlich in den Himmel und als sich unsere Blicke wieder trafen, schüttelte Louis langsam den Kopf.
Denn die plötzlich Stille überrollte uns förmlich.
So sehr hatte ich mich schon an den Lärm gewöhnt, dass die Stille eine unwissende Qual im Gegensatz zu dem Lärm war.
Viel zu still.
Die Geräusche, die ich beim Atmen machte, waren viel zu laut in meinen eigenen Ohren.
Meine Augen erfassten wieder die von Louis, als das Luftgeschwirre langsam wieder einsetzte. Und dann nickte ich langsam. Als Antwort auf sein Schütteln.
Denn wir hatten vergessen, dass es vielleicht doch noch nicht zu Ende war.
Wir stritten unter einem Himmel, der zitterte und zu zerbrechen drohte.
Wir hatten es verdrängt, uns gegenseitig die Schuld zugeschoben.
Doch das Schwirren in der Luft, das dort definitiv nicht hingehörte, hatte mir eines klar gemacht: Egal was Louis meinte, ich konnte jetzt nicht alleine weggehen.
Und genauso sah es Louis wohl auch. Zumindest schlussfolgerte ich es aus seinen nächsten Worten: „El, du gehst jetzt nicht alleine zurück. Vielleicht hast du die ganze Zeit Recht gehabt. Vielleicht ist das hier noch nicht das Ende. Doch wenn es so wäre, dann lass es uns nicht zu Ende gehen lassen. Oder vielleicht täuscht du dich grundlegend und dies ist nur eine weitere Strafe für unsere Sünden."
Nickend wartete ich, bis er zu mir aufgeschlossen hatte, wieder nach meiner Hand, mit der Begründung, dass er mich nicht auf den Weg zurück verlieren wollte, griff und mich dann durch den viel zu hohen Schnee führte.
Etwas war anders. Und damit meinte ich nicht die elektrisierende Luft, die silbernen Fäden, gesponnen wie ein Spinnennetz am Himmel, oder die Erdbeben.
Etwas Weiteres hatte sich grundlegend verändert.
Etwas Tieferes.
Etwas, das ich nicht definieren konnte.
Etwas, das mit Louis Zusammenbruch zu tun hatte.
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(05.05.2015)
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