E i n u n d z w a n z i g
Louis hatte mich gefunden. Aber an einem komplett anderen Ort, als den, wo ich zusammen gebrochen war. Die Lichtung.
Das erzählte er mir, während er neben mir saß und wir zusammen in den Himmel starrten.
Es war wieder ruhig und scheinbar nichts zeugte von all den Vorfällen, die passiert waren.
Und als ich, Louis Arm unter meinen Rücken, neben ihm lag, seinem leisen Atem lauschte, war ich vollkommen erfüllt von einem inneren Gleichgewicht und Gelassenheit.
Es war fast so, als würde erneut die Zeit für uns anhalten und uns einen magischen Moment schenken.
Auch wenn ich das zusammengeknickte Foto in meiner Hosentasche spürte, hatte ich nicht das Verlangen danach, es Louis zu zeigen.
Zumindest nicht jetzt.
Denn ich wollte nicht diesen Augenblick zerstören.
Diesen Augenblick voller Vertrautheit und Ruhe. In genau diesem Moment konnten wir die Anwesenheit des anderen genießen, als genau denjenigen, wie man ihn hier in der Schneelandschaft kennengelernt hatte und musste sich keine Gedanken darüber machen, wie man im wahren Leben zu einander stand.
„El..." Louis stockte und fügte dann hinzu: „...eanor"
Doch bevor er weiter reden konnte, meinte ich: „Nein, nenn mich El. Bei dir klingt es richtig." Ich wusste nicht genau, warum ich dies sagte, aber es fühlte sich wirklich richtig an.
So, als hätte er mich nie anders genannt...
„Okay, El.." fing Louis erneut an und ich drehte meinen Kopf zu ihm. Er sah immer noch zwischen den Baumkronen hindurch in den Himmel.
„Wir müssen also nach den unscheinbaren Sternen greifen?"
Nun drehte auch er seinen Kopf zu mir, sodass ich seine blauen Augen sehen konnte.
Doch diesmal sah ich nicht weg.
„Ja."
„Und was sind unsere Sterne?" Er blinzelte, schenkte mir dann aber ein leichtes Lächeln. Sofort verzogen sich auch meine Lippen leicht.
„Das müssen wir herausfinden und vielleicht..." Ich stockte, unsicher ob ich es nun wirklich sagen wollte, oder doch erstmal lieber die Ruhe genießen wollte. Denn sie ersparte uns vor weiteren Quälereien. Anderseits hatte er es verdient zu wissen...
Wir beide hatten die Wahrheit verdient...
„Und vielleicht..." redete ich langsam weiter und blickte in Louis erwartungsvolles Gesicht: „haben wir einen Anfang, das Grundgerüst vom Himmel und wir müssen uns die Sterne selber malen."
Während ich redete, zog ich das zusammengeklappte Foto aus meiner Tasche und setzte mich auf.
„Was ist das?" fragte Louis und tat es mir gleich. Sein Blick lag neugierig auf meiner Hand und ich reichte ihm den Beweis, der zeigte, dass wir uns kannten.
Wortlos griff er danach und klappte es auf.
Ich beobachte seine Reaktion ganz genau.
Verschiedene Emotionen tauchten auf seinen Gesichtszügen auf.
Am Anfang runzelte er verwirrt die Stirn, wahrscheinlich hatte er sich selbst entdeckt und dann riss er überrascht die Augen auf. Nur paar Millisekunden später, kniff er aber seine Augen und die Lippen zusammen.
„Was ist los?" fragte ich ihn überrascht, als er, nicht wie ich es erwartet hatte, nichts sagte.
Er stand auf, immer noch mit diesem grimmigen Gesichtsausdruck auf dem Gesicht und dem Foto in der Hand.
„Louis?" Auch ich rappelte mich nun auf und wartete auf eine Erklärung seinerseits.
Wusste er vielleicht etwas?
„Das wird nicht unsere Fahrkarte hier raus sein, El." Er klappte das Foto zusammen und schloss seine Hand um es.
„Warum nicht?" Von Sekunde zu Sekunde wurde ich verwirrter und verschränkte abwartend meine Arme vor der Brust.
Doch Louis wendete sich nur ab und lief durch die Bäume hindurch.
Machte er dies denn immer, wenn er einem Gespräch ausweichen wollte?
„Louis!"
Beinahe fühlte ich mich dahin zurück versetzt, als er mir nicht sagen wollte, was seine Abweisung mir gegenüber zu bedeuten hatte. Dies hatte in einem Kuss geendet.
Und in meinem Sturz.
Doch diesmal drehte Louis sich sofort zu mir um.
Sein Gesicht war nun wieder wie ein geschlossenes Buch und er schüttelte seinen Kopf.
„Eleanor, du verstehst es nicht. Du verstehst es einfach nicht!" Er schrie.
Er schrie und zeigte mir somit das, was mir sein Gesicht nicht verraten wollte.
Sein Inneres.
Und dies war ein Meer. Ein tosendes, unruhiges Meer im Sturm.
Ich zuckte zusammen, als sein Echo immer lauter zu werden schien, doch statt mich damit erneut von sich abstoßen zulassen, spürte ich, wie die Wut durch meinen Körper floss.
Warum behandelte er mich jetzt wieder so?
Warum konnte er mit mir nun so reden, wobei wir doch eben noch gemeinsam in den Himmel gestarrt hatten?
„Ich kann es ja nie verstehen, weil du dir nie die Mühe machst, es mir zu erklären!" Meine Stimme war mindestens genauso laut wie seine, doch es war mir egal.
„Weil sich diese Mühe nicht lohnen wird!" Er war wie ein brodelnder Vulkan. Ein Vulkan, der kurz vorm Ausbrechen stand.
Seine Hand schloss sich um das Foto zu einer Faust und ich zuckte zusammen, als das Foto zerknitterte.
„Louis..." Nun war meine Stimme wieder verletzlich, jedes einzelne Gefühl konnte man heraushören.
„Du willst es nämlich nicht verstehen, El..."
Mein Blick huschte zu seinen Augen, die mich ohne jegliche Regung ansahen.
Er wusste ganz genau, was er da mit dem Foto tat.
Mit unserem Foto.
Er wusste ganz genau, was dies für mich bedeutete.
Und dennoch tat er es.
„Louis, gib mir das Foto." Ich versuchte meine Stimme nicht flehentlich klingen zu lassen, aber ich versagte.
Doch Louis ignorierte meine ausgestreckte Hand, schüttelte seinen Kopf und meinte: „Nein."
Dann drehte er sich wieder um und ging weiter seinen Weg mit schnellen Schritten.
Mein Herz klopfte wieder viel zu schnell, aber ich fasste mich und lief ihm wieder einmal hinter her.
Wie konnte er nur das Foto zerknittern?
Es war doch ein Beweis für uns.
Ein weiterer Beweis, genauso wie meine Erinnerungen.
„Ich bin dein Superheld und du meine Prinzessin, El."
Die Wiese. Louis und ich.
Wir beide waren jünger.
Und mit einem Mal wusste ich, was ich sagen konnte, damit er anhielt.
„Louis!" schrie ich ihm hinterher und blieb stehen.
Doch stur lief er weiter.
„Louis!"
Immer noch lief er mich ignorierend weiter und kurz bevor er aus meinem Sichtfeld verschwand, sammelte ich erneut meine ganze Luft in der Lunge und schrie so laut ich konnte: „Du bist mein Superheld und ich deine Prinzessin, weißt du es noch?"
Sofort stockte er in seiner Bewegung und für ein paar Sekunden starrte ich nur erwartungsvoll seinen Rücken an, bevor er sich ganz langsam zu mir umdrehte.
Ich erkannte sein Gesicht nicht, da er viel zu weit von mir weg war, aber seine Stimme schallte bis zu mir: „Cowboy und Indianer. Und du wolltest immer beides sein. Doch du musstest dich entscheiden. Die Federn im Haar oder die Pistole in der Hand...."
Ohne etwas weiteres hinzuzufügen setzte er seinen Weg vor und ließ mich wie erstarrt stehen.
Cowboy und Indianer.
Er konnte sich erinnern.
Er konnte sich an uns erinnern.
An unsere Spiele, so wie ich mich an unsere Gespräche erinnern konnte.
Als mir die gesamte Tragweite bewusst wurde, fand ich meine Bewegungsfunktion wieder und so schnell ich konnte stolperte ich ihm hinterher.
Er war bereits aus meinem Sichtfeld verschwunden, aber als ich zwischen den zwei Bäumen, hinter denen Louis verschwunden war, hervor kam, stockte ich erneut.
Wir waren wieder am See.
Den See, den Louis mich vor einer gefühlten Ewigkeit zum Baden gezeigt hatte.
Den See, in dem ich schwimmen war und der einen verzauberte.
Und Louis stand auf einer kleinen Klippe.
„Louis?" Langsam kam ich auf ihn zu.
Er reagierte nicht, starrte einfach weiter auf den See, vier Meter unter uns.
„Du wirst es nie verstehen, oder?" Diesmal klang seine Stimme anders. Voller Gefühle.
Gefühle, die mich zu Boden drücken wollten, mir die Luft nahmen. Es war seine Stimme, voller Traurigkeit, so als hätte er schon vor einer langer Zeit etwas erkannt, was mir bisher verheimlicht worden war.
Bevor ich ihm erneut anflehen konnte, mir zu sagen, was ich denn nie verstehen würde, sprach er von selbst weiter: „Du wirst es nie verstehen, weil du es nicht weißt. Weil du dich nicht erinnern kannst. Oh, El, ich habe dich gesehen. Ich kann mich erinnern..."
Geschockt sah ich in sein Gesicht, sah wie er langsam den Kopf schüttelte und das Foto immer weiter mit seiner Faust zerknitterte. Doch ich war nicht in der Lage irgendetwas zu tun.
Und so sprach er mit bitterer Stimme weiter: „Und du wirst es nicht verstehen, dass wir vielleicht keine Sterne haben dürfen. Das hier ist alles was wir haben. Wir sollten es akzeptieren..."
„Louis..." setzte ich an, doch mit einem Handzeichen unterbrach er mich.
„Nein. Das ‚Jetzt' ist alles was wir haben. Wir können uns keine weitere Zeit kaufen, wenn unsere schon abgelaufen ist, Eleanor." Sein Blick huschte wieder zu dem See und er öffnete seine Hand.
Langsam strich er mit der anderen Hand über das Foto, so als wollte er sich verabschieden.
Und mit einem Mal wurde mir klar, was er vorhatte.
„Nein, Louis, nein!"
Ich stürzte vor, wollte ihn daran hindern, doch ich kam zu spät.
Mit einer einzigen Bewegung war das Foto in der Knickfalte zerissen und segelte in zwei Hälften in langsamen Bahnen ins Wasser.
Geschockt starrte ich ihnen hinterher, sah wie Louis und ich gespalten davon schwammen.
„Warum?" Meine Stimme brach, als ich mich langsam zu Louis umdrehte, der mit Händen in den Taschen weiterhin auf das Foto sah.
Auf das Foto, dessen Riss zwischen Louis und mir dafür sorgte, dass wir immer weiter auseinander trieben.
Ich spürte wie meine Hände anfingen zu zittern und ich biss mir auf die Lippe um nicht anzufangen zu weinen.
„Warum, Louis?" wiederholte ich mich und versuchte kläglich meine Stimme fest klingen zu lassen.
Er blickte mich mit seinen Augen an, öffnete seinen Mund, schloss ihn dann aber wieder, so als wäre er mit der jetzigen Situation überfordert.
Und dies brachte mich diesmal dazu, wie ein Vulkan zu explodieren.
„Verdammt nochmal, Louis!" Ich schubste ihn gegen seine Brust, sodass er zwei Schritte nach hinten stolperte.
Er sollte ins Wasser fallen, genauso wie das Foto.
Ich wollte, dass er fiel, genauso wie ich.
Ich wollte, dass er sich erinnerte.
Erinnern an all das, was ich gesehen hatte. Er sollte die Sterne sehen, unsere Zeit, es sollte ihm klar werden, was er damit angerichtet hatte.
Doch er fiel nicht.
„Sag warum du das gemacht hast, Louis! Sag es, oder ich werde dich schubsen. Ich werde nicht einen Moment zögern, Louis. Keinen einzigen!" Aus meiner Stimme konnte man den Schmerz hören, doch es war mir egal.
Sein verzweifeltes Gesicht war mir aber eine Genugtuung.
„El..."
„Nun sag!" Ich hielt meine Hand ausgestreckt, um ihn jederzeit die Meter ins Wasser schubsen zu können.
„Ich habe es getan, weil ich mich erinnern kann..." Er klang nun so zerbrechlich, doch spöttisch lachte ich auf.
„Oh Louis. Wie oft hast du mir das jetzt schon gesagt? Wie oft schon? Aber wann hast du es mir erklärt? Woran kannst du dich erinnern? Welche Erinnerung rechtfertigt, dass du diese Erinnerung an uns beide zerstört hast?"
Unsicher blickte er auf den Boden und hob dann den Blick, um mir in die Augen schauen zu können.
„Ich kann mich an deinen Ring erinnern, El.... Ich kann mich daran erinnern, wie du ihn mir zum ersten Mal freudestrahlend gezeigt hast..." Er stockte, räusperte sich und meinte dann: „Und ich will nicht, dass du dich erinnerst. Ich will nicht, dass du dich an ihn erinnerst..."
Und wieder einmal fiel ich.
Nicht körperlich, aber seelisch.
Alle Vorstellungen entglitten mir und Mums Stimme, die mir sagte, dass ich nach den Sternen greifen sollte, geisterte mir in meinem Kopf herum.
Ich fiel immer weiter, kam an den Sternen vorbei, schaffte es nicht, sie zu berühren.
Wie sollte ich es denn auch schaffen, Mum? Ich hatte keinen Boden unter mir, ich konnte ihren Rat nicht gebrauchen...
Ich fiel immer weiter, schoss an einem jüngeren Louis, der eine Zahnlücke in seinem Grinsen hatte, vorbei.
„Ich bin dein Superheld und du meine Prinzessin, El."
Da waren wir.
Cowboy und Indianer.
Und erst jetzt wurde mir klar, was Louis mir vorhin damit sagen wollte.
Denn ich musste mich wie damals entscheiden:
Wollte ich ein Indianer sein und mit den Federn fliegen lernen oder wollte ich ein Cowboy sein und mit der Pistole gegenankämpfen?
Und wie damals, wollte ich beides.
(22.06.2015)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro