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Die Feiertage ziehen vorbei wie die dunklen Wolken am Winterhimmel über Blue Heaven. Jeder dieser Tage verläuft nach demselben Muster. Eine Abfolge von Taten und Reaktionen. Wir erwachen mit Kopfschmerzen und vom Wodka schwerer Zunge. Ein Spaziergang nach dem Frühstück, welches eher einem Mittagessen gleicht, soll den Nebel und das erdrückende Gefühl vertreiben. Es gelingt bis zu dem Moment wo wir den Leuchtturm erreichen und über die tosende See hinüber zum Horizont blicken. Jeden Tag stehen Terence und ich auf der Spitze der Plattform, den grün-weißen Leuchtturm als Rückendeckung im Hintergrund und die peitschende kalte tiefschwarze See zu unseren Füßen.
Wie jeden Tag und so auch heute. Doch heute war etwas anders.
"Sie fehlt mir so sehr", sagte Terence und ich erwiderte seine Worte. Wir vermissen sie beide so unheimlich. Gerade an Tagen wie diesen. Aber alles Trübsal blasen bringt nichts, wenn man nicht bereit ist nach vorne zu schauen. Und sei es nur von einen auf den anderen Tag.
"Bleibst du noch?", fragte Terence und ich brauchte einen Moment um über eine Antwort nachzudenken. Normalerweise fahre ich ein oder zwei Tage nach den Feiertagen zurück nach New York. Manchmal bleibt Terence noch bis zum Jahreswechsel hier oder eben auch nicht. Die Zeit in Blue Heaven tut uns beiden gut. Wir brauchen sie um die Erinnerungen an meine Mutter ungehindert fließen lassen zu können. Danach fühlen wir uns gestärkt und bereit für den Kampf eines weiteren Jahres ohne sie. Doch dieses Jahr ist es anders. Terence ist anders. Ich habe das Gefühl, dass es ihm nicht wirklich besser geht. Sondern dass jeder Tag länger hier in Blue Heaven an seiner Seele zerrt. Als wäre da eine unsichtbare Kraft, die ihn daran hindert, loszulassen.
"Wenn es dein Wunsch ist, dann bleibe ich", sagte ich und drückte fest seine Hand. Ich wollte bleiben. Aber ich wollte auch zu Drew, möchte es noch immer. Alleine in dem Zimmer, welches noch immer nur für mich reserviert ist, denke ich an die vergangenen Tage und ihre Ereignisse. Immer weiter wandern meine Gedanken in die Vergangenheit und stoppen am Tag des Erwachens in Vegas. Ich schließe meine Augen und lasse die Empfindungen ungehindert durch meinen Verstand und den Körper fließen. Das große Bett war wunderbar weich und die Kissen rochen nach Meer und Salz, mit einer Prise Sandelholz. Drew. Lewis. Der fremde Körper neben mir, Haare so schwarz wie die dunkelste Nacht und Haut so hell und rein wie der erste Schnee des Jahres. Seine blauen Augen, die so schön funkelten, ein Meer aus Abermillionen Sternen flackerte in den Iriden. Meine Fingerspitzen die beim Anblick seiner vom Schlaf und dem Sex unserer Hochzeitsnacht zerwühlten Haare unaufhörlich kribbelten. Drews nackter Körper und der kurzzeitige Verlust meines Sprach- und Denkvermögens bei den Bildern in meinem Kopf.
Er fehlt mir. Ich vermisse ihn. Drew hat sich nur einmal gemeldet. Nachdem ich das Meer, die Wellen und den dunklen wolkenverhangenen Himmel über mir anschrie, meine Tränen der Verzweiflung und Trauer sich mit den Tränen der Erkenntnis mischten, ging ich schweren Herzens und mit von der Kälte steifgefrorenen Gliedern zurück in das Haus meines Freundes. Unbändige Hitze schlug mir entgegen und ich schleppte meinen eiskalten Körper vor den Kamin. Eingerollt wie ein Igel döste ich vor mir hin und spürte eine Hand in meinen Haaren und lauschte den geflüsterten Worten. Der Geruch nach Tannengrün und verbranntem Holz wich dem Aroma von Zitronen und Olivenbäumen in all ihrer Pracht. Ich öffnete meine Augen und starrte in die lodernden Flammen. Gleißend hell und feurig nährten sie sich von dem mit Ruß und Asche übersätem Holz.
Ich schrieb Drew eine Nachricht, die so kryptisch und falsch war wie Schneefall im August. Mein alkoholgetränktes Hirn formte Buchstaben zu Worte ohne Sinn und viel Bedeutung. Statt eines Weihnachtsbaumes schickte ich eine Palme und Santa Claus war ein Zombie. Super. Drew hält mich wahrscheinlich für vollkommen wahnsinnig, durchgedreht und verrückt. Denn seine Antwort brachte keine fröhliche Weihnachtsstimmung hervor. 'Ich vermute, dass du mir ein schönes Weihnachtsfest wünschen wolltest. Und dass der Zombie vergessen hat, sein Santa Claus Outfit aus der Reinigung zu holen.'
Das war alles. Ich kam mir so dämlich vor, als ich am anderen Morgen seine Nachricht sah und wäre am liebsten im nächsten Erdloch verschwunden. Der Sarkasmus in seinen Worten tropfte aus meinem Telefon und ich ließ ihn einfach laufen.
'Oh Gott es tut mir so leid Drew. Wodka trinken und dann minutenlang in das Feuer starren war wohl keine so gute Idee. Ja, ich denke, es sollte eine Ich-wünsche-dir-ein-schönes-Weihnachtsfest-Nachricht werden. Der Zombie war ein Versehen. Er war noch aus dem Chat mit Bennett in meiner Voreinstellung.'
Diese Nachricht ist drei Tage her und es schmerzt unheimlich, dass Drew mir nicht geantwortet hat. Es ist nicht seine Art. Immer bekam ich eine Antwort auf meine Nachrichten und waren sie noch so kurz.
Eine Weile grübele ich bereits darüber nach, ob ich ihn anrufen soll. Immer wieder streiche ich mit dem Daumen meiner rechten Hand über das Display. Das vor Glück strahlende Gesicht meiner Mutter blickt mir entgegen und so strahlend schön ihre Augen funkeln, so anklagend sind sie auch. Ich weiß, dass sie Drew lieben würde. Er ist perfekt und der Traum einer jeden Schwiegermutter. Ganz zu schweigen von mir. Sprunghaft, launisch und mit einem Hang zur Dramatik. Fuck, ich bin alles andere als ein Traum von einem Mann oder der gern gesehene Schwiegersohn auf den Familienfeiern. Ich bin ein emotionaler Krüppel.
Wie von selbst fliegen meine Finger über das hell erleuchtete Display und ich tippe eine Nachricht an Drew. Aber all die Worte fühlen sich nicht richtig an. Eine unpersönliche Nachricht ist nicht das was ich will. Ich will seine Stimme hören. Und so lösche ich kurzerhand die getippten Worte und wähle mit zittrigen Fingern seine Nummer.
Das Warten und die Ungewissheit, ob Drew meinen Anruf entgegennimmt oder mich einfach ignoriert, zermürbt mich. Mein Herz schlägt schneller, meine Hände zittern leicht. Ich bin nervös, sehr nervös. Ich schließe meine Augen und atme geräuschvoll aus als die tiefe Stimme von Drew an mein Ohr dringt. Wir haben noch nie miteinander telefoniert. Es ist das erste Mal und seine Telefonstimme klingt so ungemein sexy, dass mein Vorhaben ein unverfängliches Gespräch zu führen weit in die letzte Ecke meines Verstandes verbannt wird.
"Lewis", sagt Drew streng und ich erwache aus meiner Starre und den Gedanken an Telefonsex mit Drew. Anscheinend ist es nicht das erste Mal, dass er meinen Namen sagt. Zumindest klingt der Tonfall seiner sexy Telefonstimme so.
"Ja hi. Ich bin es, Lewis", sage ich nervös und klatsche mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich bin ich es. Mein Name leuchtete in fetten Buchstaben auf seinem Display auf. Ich fühle mich wie ein hormongeschwängerter Teenager, der seinen Schwarm anruft und auf ein Eis einlädt.
"Das habe ich gesehen", antwortet er mit genervter Stimme. Störe ich? Was hat er gerade getan? Verunsichert blicke ich auf die Zeiger des alten Weckers auf dem Nachttisch. Es ist Abend. Aber noch nicht so spät, dass Drew bereits schlafen würde. Hat er Besuch? Ist er nicht allein? Wer ist bei ihm? Seine Geschwister? Ein Mann?
"Störe ich dich?", frage ich vorsichtig und rechne mit einem 'Ja' als Antwort. Mein Herz zieht sich bei dem Gedanken daran, dass Drew mit einem anderen Mann zusammen ist, schmerzhaft zusammen.
"Nein", antwortet er und ich höre die Lüge in jedem Buchstaben.
"Ich wollte nur deine Stimme hören und... Wie geht es dir?" sage ich und denke 'Und wissen ob du an mich denkst, so wie ich an dich.'
"Mir geht es gut." Allgemeiner kann eine Antwort kaum ausfallen.
"Schön. Und deinen Geschwistern? Habt ihr die Feiertage genossen?" Smalltalk. Mehr nicht.
"Es war das erste Jahr als Eheleute und Joshua hat sich kulinarisch mal wieder selbst übertroffen. Alle lassen dich grüßen", sagt er neutral. Würde Drew mir den Wetterbericht für die nächsten Tage vorlesen, hätte er den gleichen Tonfall. Anscheinend hat er mich nicht vermisst.
"Das ist schön. Wirklich schön", antworte ich. Die entstehende Pause ist erdrückend und laut. Ich höre Drew atmen und schließe meine Augen. Lausche dem Geräusch und stelle mir vor, wie meine Hand auf seiner nackten Brust liegt und die Wärme seiner Haut meine Nervenenden pulsieren lässt. Drews fester beständiger Herzschlag hat sich mir bereits nach kürzester Zeit fest ins Gedächtnis eingebrannt. Ich kenne jeden Zentimeter seines Körpers und gerade vermisse ich ihn so sehr. Wie gerne würde ich in seinen Armen liegen und einfach die Stille genießen.
"War das alles Lewis? Oder möchtest du mir noch etwas sagen?", fragt Drew. Er ist so anders.
"Nein. Ja... ich meine ja. Ich wollte dir nur sagen, dass Terence mich gebeten hat, noch ein paar Tage zu bleiben. Ich werde also morgen nicht nach Hause kommen. Wann es genau sein wird, weiß ich noch nicht. Aber ich..."
"Lass gut sein Lewis. Ich bin wirklich enttäuscht. Und ich weiß im Moment nicht was ich davon halten soll. Also bitte tu mir und dir den Gefallen und rede dich nicht weiter raus", sagt er und wieder einmal kann ich die Resignation in seiner Stimme hören.
"Ich hatte nicht vor mich rauszureden. Terence geht es nicht so gut und ich bin als Freund natürlich für ihn da. Auch für mich waren die letzten Tage nicht leicht und ich bin der Einzige, der ihn versteht", verteidige ich mich.
"Und wann bist du für mich da?", fragt Drew seufzend.
"Bald."
"Wann? Wann Lewis? Es dreht sich alles immer nur um dich. Es... Ich weiß nicht, ob ich das noch länger kann."
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